Europa soll mit beiden Lungenflügeln atmen
Für ein Europa, das mit dem westlichen und östlichen Lungenflügel atmet, plädierte der Belgrader katholische Erzbischof Stanislav Hočevar bei der internationalen Sommertagung „Nachdenken über ein Europa der Zukunft“ des Katholischen Akademikerverbandes Österreichs (KAVÖ) und des Katholischen Bildungshauses Sodalitas vom 18.-24. August 2018 in Tainach/Tinje, Kärnten, in Anwesenheit des Generalkonsuls der Republik Slowenien Milan Predan und zahlreicher anderer Persönlichkeiten aus Slowenien, Slowakei, Ukraine, Deutschland und Österreich.
Weitsehende braucht vorbehaltslosen Dialog
Hočevar forderte neue, intensivere Beziehungen zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften auf der einen Seite und staatlichen Institutionen in der EU auf der anderen Seite, was für die positive Weiterentwicklung des Kontinents essentiell sei. Auch brauche es zur Erneuerung und Weiterentwicklung den fruchtbaren Austausch zwischen Westen und Osten in kirchlicher wie politischer Hinsicht. Es gelte, „Einheit in der Vielfalt“ zu suchen, das erhaltene Geschenk mit „Wachsamkeit weiterentwickeln“ und eine „Synthese“ zu liefern, insbesondere, da vermehrt Vertreter theokratischer Prinzipien nach Europa kommen, denn „in unserer verheerend schwächelnden Selbstbesinnung“ liege die größte aller unserer Sünden, wollen wir nicht „im Gewässer der Vergänglichkeit“ ertrinken, so Hočevar.
„Der Name Europa kommt von Europé; Die Weitsehende“, referierte der Erziehungswissen-schaftler Univ.-Prof. Peter Stöger über die Werdung Europas. Die Anliegen der Gründungsväter, Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi in Europa eine Friedensunion zu etablieren, dürfen nicht in den Hintergrund treten. Stöger plädierte für einen vorbehaltslosen Dialog über die zukünftige europäische Identität: „Europa ist mehr ist als EU, mehr als der Euro und mehr als eine Zweckgemeinschaft zur Mehrung von Profit. Jeder, der weiß, dass Europa bis zum Ural reicht, weiß auch, dass das Zentrum Europas in der Karpatho-Ukraine liegt“, führte Stöger aus.
Gegen eine „Verbannung des Religiösen aus der Öffentlichkeit“, die in Europa am stärksten sei, sprach sich der Kärntner Diözesanadministrator Engelbert Guggenberger in seiner Ansprache aus. Er betonte, die Vision einer EU als Friedensprojekt müsse weitergeführt werden. In einem Europa der Solidarität, der Bürger- und Menschenrechte sei es dienlicher, „den Religionen ein Daseins- und Entfaltungsrecht zuzugestehen“, da die Antworten der Religionen für die Menschen unverzichtbar seien.
Der Kärntner Ausbildungsexperte Johannes Staudacher sagte: „Die größte Gefährdung der Menschen ist nicht die Brutalität der Mächtigen, sondern wenn jemand etwas anderes glaubt als ich“. Er verwies auf Apostelgeschichte 16,6-11, wie das Evangelium statt nach Asien nach Europa gelangte und betonte: „Das hineinwachsen in eine andere Dimension beginnt in der Tiefe des Herzens“.
Solidargemeinschaft mit ethischen Grundsätzen
„Europa steht vor einer Zerreißprobe“. Mit der Flüchtlingskrise sei „Europa an den Rand des Abgrunds gekommen“, sagte der Europaparlament-Abgeordnete Eugen Freund, der die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheits-, aber auch Verteidigungspolitik betonte. „Nur ein gemeinsames Europa wird sich auf dem Weltmarkt durchsetzen und den Frieden in Europa gewährleisten können und nicht ein einzelnes Land“, plädierte Freund.
Der Kärntner Unternehmer, Wirtschaftskammer-und Industriellenvereinigung-Vizepräsident Otmar Petschnig sagte zur Solidargemeinschaft Europa, EuropäerInnen hätten „nicht nur Rechte sondern auch Pflichten“. Regeln müssen eingehalten und Pflichtenverletzungen effizient sanktioniert werden. Es braucht mehr Vertiefung und Verantwortung in der EU. Es fehle an Rückgrat und bei kirchlichen Gemeinschaften vermisse er die Vermittlung von ethischen und moralischen Werten. Auch der Kärntner Biologe, Ökowirt und Grüne Politiker Stefan Merkač hielt die Solidarität in der EU für ihren Weiterbestand als Friedensprojekt für grundlegend. Er forderte: „Die ethischen Grundsätze müssen wieder ausgegraben werden. Es braucht ein eigenverantwortliches agieren. Jeder muss bei sich selbst anfangen. Wir leben auf einem Planeten, Wirtschaft und Ökologie sind nicht zwei Kosmen“, sagte Merkač versöhnlich.
Der ukrainische Univ.-Doz. Jaroslav Luposhanskyj aus Drohobych sah trotz der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, der kriegerischen Zustände im Osten des Landes und der russischen Annexion der Krim durchaus kleine Fortschritte in der Entwicklung des Landes. Ein starkes Europa der Zukunft, welches sich in der globalisierten Welt behaupten könne, brauche das Potential der Ukraine, so Luposhanskyj. Er präsentierte dabei als literarisches Highlight die von ihm editierte und von der Österreich-Bibliothek und der Staatlichen Pädagogischen Ivan-Franko Universität Drohobych herausgegebene 500 Seiten Anthologie „Heimkehr“ mit dem reichhaltigen schriftstellerischen Schaffen der Regionen Galizien und Bukowina und dem who is who der österreichischen und deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Beim Jugendforum der Tagung sagte der Klagenfurter Universitätsseelsorger Hans Peter Premur, interkulturelle Verständigung geschehe am besten durch gemeinsames Kochen, Feiern und Singen. Dabei werden z. B. ökologische Fragen behandelt, Integrationsgespräche mit Muslimen und Musliminnen geführt oder zu einer „Soiree International“ eingeladen. „Die jungen Leute wollen mehr Freiheit“, betonte der slowenische Hochschulseelsorger Ožbej Peterle. Er sah die jeweilige Nationalität der jungen Leute und auch die übergeordnete europäische Gemeinschaft als identitätsstiftend an, wobei universitäre Bildungsprogramme wie z. B. das Erasmusprogramm dabei helfen, eine europäische Identität zu stiften.
Lerneffekt Erinnerungskultur
Die Historikerin Ivanka Kronawetter sagte über das Flüchtlingslager am Feld vor dem Stift Viktring, von den 25 000 Menschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs vor dem Kommunistischen Tito Regime flüchteten, wurden im Zuge der „Repatriierungen“ etwa 12 000 davon ermordet, was heute noch als „Drama um Viktring“ oder Bleiburger Tragödie bezeichnet werde.
Der Klagenfurter Univ.-Prof. Peter Gstettner, der Loibl Nord, ein Außenlager von Mauthausen, erforschte, berichtete, dieses Konzentrationslager wurde besonders brutal geführt. Es gab dort keine Krankenbaracke. Zwischen 1943 und 1945 wurden im KZ Loibl Nord 1300 Häftlinge zum Tunnelbau gezwungen, von denen mehr als 40 ums Leben kamen.
Für die Kärntner Schriftstellerin und Dramaturgin Maya Haderlap aus der Gemeinde Eisenkappel, die in ihrer Jugend noch das Trennende zwischen den Volksgruppen erfuhr, war „Wir hier und die dort drüben“ gelebte Realität. Eine Aufarbeitung des Partisanenkampfes der Kärntner Slowenen und objektivere Erinnerung war erst in den 1980 er Jahren nachdem die gegenseitigen Schuldzuweisungen aufhörten, möglich. Ihr autobiographisch grundierter Roman „Engel des Vergessens“ wurde 2011 mit dem Ingeborg- Bachmann-Preis und dem Bruno Kreisky Preis für das politische Buch ausgezeichnet.
Der Publizist und Schriftsteller Egyd Gstättner erzählte über sein Werk „Wiener Fenstersturz oder die Kulturgeschichte der Zukunft“, das Egon Fridells Fenstersturz vom 16. 3. 1938 behandelt, der Künstler schaffe mit seinem Kunstwerk ein Denkmal, wodurch ein vom zu Grunde liegenden Ereignis losgelöstes Werk entstehe, was für künftige Generationen einen eigenen Lerneffekt bewirken kann.
Der Erziehungswissenschaftler Peter Stöger betonte, die Pädagogen sollten sich mehr der Herkunft der Wörter in der Sprache bewusst werden. Er fragte: „Europa wem gehörst Du? Wem gehorchst du? „Die Angst vor der eigenen Endlichkeit setzt den Konsum ins eigene Zentrum. Wir müssen das Tödliche in das Lebende hereinnehmen, Schmerz, Angst, Tod in das Zentrum rücken“.
Der KAVÖ-Vize- und KAV Kärnten Präsident, der Mitarbeiter der Projektleitung der Koralmbahn 4, Martin Sattlegger, leitete die Exkursion zur Koralmbahn-Baustelle und erläuterte dabei, wie eine neue Eisenbahninfrastruktur Europa vernetzt. Der 33 km lange Koralmbahn-Tunnel verbinde als Teil der neuen Südstrecke die 1700 km lange hochleistungsfähige Schienenverbindung zwischen Ostsee und der Adria, womit sich die Fahrzeit zwischen Graz und Klagenfurt von derzeit knapp 3 Stunden auf 45 Minuten verkürzen werde. Univ.-Doz. Heimo Dolenz vom Landesmuseum Kärnten berichtete, da die Koralmbahn auch über historischen Boden verlaufe, haben die Ausgrabungen des Archäologischen Dienstes Kärnten bedeutende Streufunde aus prähistorischer und römischer Epoche ergeben.
Mehrere waren „beeindruckt“ von der beachtlichen Steigerung der Teilnehmerzahlen von über einem Drittel im Vergleich zu den vorausgegangenen Jahren, einer Zunahme an Internationalität und von der „Vielfalt an unterschiedlichen Vorträgen und Perspektiven“ gepaart mit Weitsicht und „Übersichtswissen“. Einige praxisbezogene Ausflüge rundeten die Tagung auf anschauliche Weise „eindrucksvoll“ ab.
Franz Vock
Zum Thema/ weitere Berichte:
- Kathpress: Belgrader Bischof fordert mehr Kooperation Staat-Kirche
- Kathpress: Guggenberger gegen Verbannung des Religiösen aus Öffentlichkeit
- Sonntag (Kärnten): Eugen Freund: Nur eine starke Eu wird sich weltweit durchsetzen
- "Was die Eisenbahn zur Nachhaltigkeit beitragen kann" Präsentationsfolienvon Martin Sattlegger