Das Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich
4 LEBENSRÄUME: WANDEL UND GESTALTUNG
Lebensräume
Altes Testament
Er führte mich hinaus ins Weite,
er befreite mich, denn er hatte an mir Gefallen. (Psalm 18,20)
Neues Testament
Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. (Offenbarung 21,3)
LAND - STADT - EUROPA
(91) Die dynamische Entwicklung der Weltwirtschaft und der Einigungsprozess Europas haben auch vor unseren konkreten Lebensumfeldern nicht Halt gemacht und haben den ländlichen Raum, die Städte, Ballungsgebiete und Regionen auf vielfältige Weise geprägt. Die einzelnen Lebensräume sind eng miteinander verflochten und beeinflussen einander wechselweise.
LÄNDLICHER RAUM
EIN ATTRAKTIVER LEBENSRAUM
(92) Die Nähe zur Natur, eine gepflegte Naturlandschaft lässt den ländlichen Raum Österreichs besonders für Menschen aus der Stadt attraktiv erscheinen.
Ländliche Räume sichern die Versorgung mit naturnah produzierten Lebensmitteln und sorgen für den Schutz wertvoller Ressourcen der Natur wie Boden, Wasser und die Vielfalt einheimischer Pflanzen und Tiere. Im Sozialbericht wird darauf hingewiesen, dass der ländliche Raum zum Testfall wird, wie ernst es eine Gesellschaft mit Umwelterhaltung und Lebensqualität für alle Menschen nimmt.
Die Schönheit der offenen Landschaft lädt ein zur Erholung und zur Regeneration und ermöglicht Natur- und Umwelterfahrung für die Menschen aus der Stadt. Mit seinen Erholungsangeboten ist der ländliche Raum ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für Österreich. Dazu zeichnen sich Landgemeinden noch immer durch vielfältige Formen der Kooperation aus. Nachbarschaftshilfe und ein reiches Vereinsleben bereichern den Alltag.
Die traditionelle Dorfstruktur wird pluraler, Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Lebensstilen treffen mit der ortsansässigen Bevölkerung zusammen.
(93) Auf der anderen Seite sehen sich die Menschen mit einer Ausdünnung der Infrastruktur wie Schulen oder Kaufhäuser konfrontiert.
Dazu kommt der Mangel an Ärzten und medizinischen Einrichtungen. Öffentliche Dienstleistungen wie Verkehr und Post werden reduziert, Nahversorger und Gewerbebetriebe wandern ab. Bauern finden keinen Hofübernehmer, land- und forstwirtschaftliche Betriebe konzentrieren sich in größeren Einheiten.
Die Nichtbesetzung von Pfarren verstärkt dieses Gefühl der Ausdünnung. Die Ansiedlung von Städtern mit Wochenend- und Urlaubsdomizilen verändert die Struktur vieler ländlicher Gemeinden grundlegend.
HERAUSFORDERUNGEN UND WANDEL
Europäische Landwirtschaft
(94) Der europäische Reformprozess hat Eckpunkte für die Entwicklung der Landwirtschaft festgelegt. Neben der klassischen Aufgabe der Produktion von Nahrungsmitteln erfüllt die Landwirtschaft eine Reihe anderer Aufgaben: die Landschaft wird gepflegt, die Umwelt bewahrt, der Lebensraum erhalten. Das Ziel ist eine flächendeckende Bewirtschaftung, nicht nur Produktion bei besten Voraussetzungen des Klimas und des Bodens. Die Frage ist, wie die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft gesichert werden kann, in vorsichtiger Abwägung mit den Interessen der Länder des Südens.
Es genügt nicht, wenn einige wenige Großbetriebe die Nahrungsmittelproduktion sichern. Ohne bäuerliche Betriebe gibt es keine Kulturlandschaft. Darunter würde nicht nur der Fremdenverkehr leiden, sondern auch Handel und Gewerbe, und nicht zuletzt die Bevölkerung selbst.
Für ein ökologisch-soziales Leitbild
(95) Ökosoziale Agrarpolitik bedeutet die Gleichwertigkeit wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Ziele in der Landwirtschaft. Trotz mancher Nachteile bieten die ländlichen Regionen in Österreich auch Lebenschancen und Zukunftsperspektiven. In einigen Regionen ist eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung gelungen, indem regionale Stärken in sinnvoller Symbiose und Vernetzung für eine eigenständige Regionalentwicklung genutzt wurden. Solche Projekte werden auch von der Europäischen Union unterstützt.
Manche der ökologisch erzeugten Produkte konnten mit eigener Marke auf den Markt vordringen und dort mit dem Produkt auch ihre Region bekannt machen. Darüber hinaus haben in Österreich biologisch erzeugte Lebensmittel einen immer größeren Stellenwert.
Ökologische Landwirtschaft ist mit intensivem Arbeitseinsatz verbunden, der der Qualität der Lebensmittel zugute kommt. Die Frage ist, inwieweit damit ein angemessener Preis zu erzielen ist, der es den Bauern ermöglicht, von den Erträgen ihrer Arbeit zu leben.
Frauen in der Landwirtschaft
(96) Viele bäuerliche Betriebe können nur mehr im Nebenerwerb geführt werden. Während die Männer oft auspendeln, sind es die Frauen, die den größten Teil der Arbeit auf dem Hof übernehmen.
Mit der oft wichtigen zusätzlichen Einkommensquelle von Zimmervermietung oder „Urlaub am Bauernhof“ sind ebenfalls die Frauen gefordert, denen darüber hinaus die traditionelle Familienaufgabe der Pflege von Alten, Kranken und Kindern zufällt.
Die traditionelle Rollenerwartung macht es den Frauen nicht leicht, Initiativen zu ergreifen und Änderungen anzustreben.
So ist es nicht verwunderlich, wenn es für Jungbauern immer schwerer wird, eine Partnerin zu finden.
Verschämte Armut
(97) Armut ist im ländlichen Bereich keine Seltenheit, auch wenn sie kaum offen gezeigt wird. Der Mangel erreichbarer Arbeitsplätze, niedrige Einkommen von Kleinbauern und landwirtschaftlichen Hilfskräften, der Versuch, unrentable Betriebe möglichst lange am Leben zu erhalten, und die Scham, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, führen zu verdeckter Armut.
Die Attraktivität des Landes
(98) Unterstützt durch Regionalpolitik und Wohnbauförderung haben sich viele ländliche Regionen als attraktiver Wohnstandort für Familien behauptet. Damit konnte zwar in manchen Fällen die Tendenz zur Abwanderung gestoppt werden, die Kehrseite ist allerdings das zum Teil sehr weite Auspendeln zu Arbeitsplätzen und Schulen.
Erforderlich ist eine integrative Regionalpolitik, die eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungsstrategie verbindet mit einer nachhaltigen Form von Landwirtschaft, mit eigenen regionalen Schwerpunkten.
Spannungsreiches Miteinander
(99) Wo traditionell geprägte Lebensweise mit den Forderungen und Bedürfnissen der neu Hinzugezogenen aufeinandertreffen, kann es zu Spannungen kommen, die das Zusammenleben in den Gemeinden belasten.
In den Familien selbst entstehen Generationenkonflikte, die auf Grund von Sprachlosigkeit oder Gesprächsverweigerung nur schwer ausgetragen werden können.
Brücken zu schlagen zwischen Alt und Neu, zwischen Jung und Alt und darüber hinaus zu Minderheiten oder Zuwanderfamilien, ist eine besonders schwierige Aufgabe und Herausforderung für all jene, denen das Zusammenleben in der Gemeinde wichtig ist.
Präsenz der Kirchen
(100) Der soziale Zusammenhalt ist engagierten Mitgliedern der Kirchengemeinden ein wichtiges Anliegen. So ist das kirchliche Leben eng verwoben mit dem übrigen Vereinsleben.
Auch dort, wo Pfarrstellen nicht mehr besetzt sind, entwickelt sich oft ein besonders intensives Gemeindeleben als Ausdruck gemeinschaftlicher Verantwortung der Christinnen und Christen.
MIT DEN MENSCHEN LEBEN
Aufgaben für die Kirchen
- Die Kirchen unterstützen in ihrem eigenen Bereich die Suche nach neuen Formen von Gemeindeleben und Gemeindeleitung. (101)
- Die Kirchen bemühen sich, in ihrer Glaubensverkündigung auf die konkreten Probleme und Lebenssituationen der Menschen einzugehen, Orientierung und Halt zu geben. Sie nehmen die Menschen in ihren sozialen Problemen und Nöten ernst, begleiten sie und bieten Orte des Gesprächs und der Versöhnung an. (102)
- Die Kirchen bieten Räume der Begegnung und der Bildung für die unterschiedlichen Bedürfnisse der ländlichen Gemeinden. Ihre besondere Aufmerksamkeit wird der Situation junger Menschen gelten. (103)
- Die kirchlichen Gemeinden beteiligen sich aktiv an lokalen und regionalen Initiativen zur Gestaltung und Entwicklung des ländlichen Lebensraumes. (104)
- Die Kirchen stützen das „kulturelle Grundgerüst“ des ländlichen Raums, vor allem durch die Feier des Sonntags, der kirchlichen Feste und des religiösen Brauchtums. Sie sind bereit, die dafür notwendigen personellen und materiellen Ressourcen bereit zu stellen. (105)
FÜR REGIONALE ENTWICKLUNGSKONZEPTE
Aufgaben für die Gesellschaft
- Die Kirchen treten ein für eine der Agenda 21 entsprechende Politik auf regionaler, nationaler und EU-Ebene, um die Eigenverantwortung und Mitgestaltung der Regionen und Gemeinden zu stärken. (106)
- Die Kirchen unterstützen Programme zur ländlichen Entwicklung, die Lebensmittelproduktion, Nahversorgung und Dienstleistungen mit der Rücksicht auf bäuerliche Lebensbedingungen verbinden. (107)
- Eine zukunftsfähige Entwicklung des ländlichen Raumes erfordert die Ansiedlung und Förderung von Gewerbe- und Dienstleistungsbetrieben und eine entsprechende Infrastruktur. (108)
- Die Kirchen erwarten eine bessere Förderung von Bildung und Weiterbildung in den ländlichen Regionen, um sowohl den Anforderungen einer modernen Landwirtschaft gerecht zu werden, als auch Voraussetzungen für die lokale Entwicklung neuer Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe zu schaffen. (109)
- Die Kirchen fordern von Konsumenten und Konsumentinnen die Bereitschaft, für die Qualität von Lebensmitteln und Produkten aus dem ländlichen Raum gerechte Preise zu bezahlen. (110)
- Die Kirchen treten ein für Förderprogramme für Frauen, die den speziellen Bedingungen des ländlichen Raumes gerecht werden. (111)
STADT
BRENNPUNKT DES WANDELS
(112) In den Städten bündeln sich die Chancen und Risiken des gesellschaftlichen Wandels, der wirtschaftlichen Dynamik und der zunehmenden internationalen Verflechtung. Selbstbestimmter Lebensstil, Vielfalt der Optionen, Schnelligkeit und die Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten, prägen städtisches Leben. Der Drang zur öffentlichen Darstellung geht Hand in Hand mit der Sehnsucht nach Geborgenheit.
Stadt ist Vielfalt. Sie ist Schnittpunkt von unterschiedlichsten Interessen, Meinungen, Moden, Stilen und Strömungen. Die Stadt ist der Ort der Avantgarde: künstlerisch und kulturell, wissenschaftlich, technologisch und medial.
Die Stadt war immer der Ort der Freiheit - und der Toleranz. Urbane Kultur ist der kulturellen Vielfalt und Offenheit verpflichtet.
LEBENSRAUM STADT
(113) Voraussetzung für eine lebendige Stadt ist nicht nur ihre wirtschaftliche und kulturelle Dynamik, sondern vor allem ein funktionierendes Miteinander ihrer Bürger und Bürgerinnen, das der Isolierung Einzelner und der Ausgrenzung von ganzen Stadtteilen entgegenwirkt. Ein vielfältiges Freizeit-, Kultur- und Bildungsangebot, eine gute Infrastruktur und ein wohnliches Umfeld können unsere Städte für junge und alte Menschen attraktiv und lebenswert machen.
Städte enden nicht mehr an Stadtmauern. Sie dringen ins Umland vor. Einkaufszentren entstehen an den Rändern. Städter wohnen draußen auf dem Land, Bewohner anderer Gemeinden pendeln ein. Städte werden zu Zentren regionaler Netzwerke.
Die alten Städte sind für die modernen Anforderungen nicht gebaut. Es gibt Probleme mit Verkehr, Emissionen und Lärm. Es gibt Spannungen zwischen der Innenstadt und den Großmärkten an der Peripherie, mit der Gefahr einer Verödung der Zentren. Es gilt eine schwierige Balance zwischen dem öffentlichen und dem privaten Verkehr herzustellen.
Armut und Reichtum
(114) Seit jeher war in den Städten der Unterschied zwischen Armen und Reichen besonders groß. Bei den neuen Formen sozialer Ungleichheit geht es um Ausgrenzung in einem weiteren Sinn: Durch erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Nutzung sozialstaatlicher Einrichtungen wird auch der Zugang zu kulturellen Gütern behindert. Dazu wird ständig vor Augen geführt, was die Stadt an Glanz und Reichtum zu bieten hat, wie Menschen leben, denen alles zur Verfügung steht.
Für manche führt die erfahrene Benachteiligung zum Verlust von Selbstwertgefühl und in die Isolation. Außerdem können sich geschlossene Milieus bilden, die nur mehr mit großen Schwierigkeiten zum gemeinsamen gesellschaftlichen Leben hin geöffnet werden können.
Kinder, Frauen, alte Menschen
(115) Die Stadt ist gebaut für schnelle, aktive Menschen. Der langsamere Rhythmus von Kindern oder älteren Menschen ist störend und bringt sie selbst in Gefahr. Rollstuhlfahrer und Frauen mit Kinderwagen müssen oft mühevolle Umwege auf sich nehmen. Der Einbau von Rampen, stufenfreie Verkehrsmittel und Aufzüge können vielen den Alltag erleichtern. Für Frauen ist auch Sicherheit ein wichtiges Thema.
Jugendliche in der Stadt
(116) Für junge Menschen bietet die Stadt besondere Chancen. Doch einen passenden Arbeitsplatz und die erforderlichen Ausbildungsmöglichkeiten zu finden, braucht auch entsprechende Hilfestellungen.
Jugendliche der zweiten Generation, deren Eltern aus anderen Ländern auf der Suche nach Arbeit oder Sicherheit nach Österreich gekommen sind, sind davon besonders betroffen. Sie unterliegen strukturellen und praktischen Diskriminierungen und brauchen entsprechende Unterstützung.
Zuwanderer
(117) Häufig konzentrieren sich Zuwanderer in bestimmten Wohnvierteln. Es entstehen Inseln, die von einer mehr oder weniger homogenen Volksgruppe mit anderer Muttersprache und Kultur dominiert sind. Diese Wohnviertel können eine erfreuliche, „bunte“ Erscheinung der Stadt sein, wenn sie nicht als Fremdkörper betrachtet werden. Es bedarf jedoch besonderer Anstrengungen der städtischen Wohn-, Verkehrs- und Schulpolitik, um zu verhindern, dass daraus Ghettos entstehen.
Eine besondere Herausforderung liegt darin, den Frauen aus Immigrationsgruppen einen Weg aus Isolation und Ausgrenzung zu ermöglichen.
Wohnungslosigkeit
(118) Ursachen für Wohnungslosigkeit sind Scheidung, Langzeitarbeitslosigkeit, Armut und Verschuldung, prekäre Familiensituation oder auch psychische Probleme. Besonders betroffen sind Asylwerber und Migranten.
Wohnungslose Menschen brauchen ambulante Betreuung, Unterkunft in Notschlafstellen oder Heimen. Sie benötigen Beratung, Unterstützung bei Inanspruchnahme sozialer Leistungen, zur Schuldenregulierung und bei der Lösung sonstiger persönlicher Probleme.
Um Wohnungslosigkeit zu vermeiden, müssen entsprechende Einrichtungen, die bereits im Stadium drohenden Wohnungsverlustes Hilfe anbieten, bundesweit zur Verfügung stehen.
Soziale Infrastruktur
(119) Vieles, was in kleinen Gemeinden oder im ländlichen Bereich durch familiäre oder nachbarschaftliche Hilfe geregelt werden kann, muss in der Stadt durch verschiedene Sozialeinrichtungen organisiert werden. Ein gutes Wohnungsangebot, Nahversorger für Lebensmittel, Kinderbetreuungseinrichtungen, Erreichbarkeit von Schulen und medizinischer Versorgung sind für das Leben in der Stadt von großer Bedeutung.
Öffentliche Räume mitbestimmen
(120) Das Leben in den Stadtteilen ist geprägt durch Verkehrsverbindungen und die Gestaltung öffentlicher Räume, die wesentlichen Einfluss auf das Miteinander und das Lebensgefühl der Bürgerinnen und Bürger haben. Deshalb ist es wichtig, dass Entscheidungen über deren Gestaltung mit entsprechender Beteiligung der betroffenen Bürgerinnen und Bürger geplant werden. Stadtteilarbeit, Gemeinwesenarbeit sollten dafür kommunikative Räume schaffen.
Mitbestimmung ermöglicht ein Gesprächsklima zwischen Bürgerinnen und Bürgern eines Wohngebietes, das - über den konkreten Anlass hinaus - das Verständnis füreinander und das Zusammenleben erleichtern kann.
Städtisches Christentum
(121) In der Stadt ist die Auflösung der engen Verflechtung von Glaube und Alltagsleben unübersehbar. Religion ist zur Privatsache geworden. In der Freiheit der Stadt verschwinden die Reste traditioneller Religiosität - oder sie werden zur Folklore. Christliches Leben in der Stadt bedeutet bewusste Entscheidung für die Teilnahme am Leben einer Gemeinde oder religiösen Gruppe und für eine religiöse Lebensführung. Dabei stellt sich die Herausforderung durch ein religiös gleichgültiges Umfeld wie durch die Präsenz anderer Religionen.
KIRCHEN IN DER STADT
Aufgaben für die Kirchen
- Die Kirchen wollen phantasievolle pastorale Ansätze entwickeln und auf die Menschen zugehen. Die Verkündigung in der Stadt muss experimentell sein und Spielräume für kirchliches Leben eröffnen. (122)
- Durch regelmäßige Feier der Gottesdienste wollen die Kirchen einen Ort anbieten, an dem sich Menschen, woher sie auch kommen, als Gemeinde Jesu Christi erfahren. (123)
- Kirchen eröffnen inmitten des Lärms und der Hektik Räume der Stille und Sammlung, der Geborgenheit und der Begegnung mit Gott. Dafür sollen die Kirchen offen stehen. (124)
- Kirchengemeinden und religiöse Gruppen müssen sich die Sorgen der in der Stadt lebenden Menschen zu eigen machen und ihnen ihre Dienste anbieten. (125)
- Die Kirchen stellen Räume für Wohnungslose und unterschiedliche Hilfen für Menschen, die auf der Straße leben, zur Verfügung. (126)
- In Projekten der Stadtteilarbeit werden sich die Kirchen an der Gestaltung der Stadt als Lebensraum beteiligen. (127)
- Das Bild unserer Städte wird durch Kirchen und kirchliche Gebäude geprägt, die um ihres kulturellen Wertes willen von Touristen aufgesucht werden. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil des religiösen und kulturellen Erbes und bedürfen der Pflege und Betreuung. (128)
MITEINANDER IN DER STADT
Aufgaben für die Gesellschaft
- Die Kirchen erwarten von der Kommunalpolitik, die städtische Infrastruktur den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger laufend anzupassen. (129)
- Die Kirchen unterstützen mit ihren eigenen Möglichkeiten die Bemühungen, ein Netz sozialer Dienste für alle bereitzustellen. (130)
- Die Kirchen treten ein für durchmischte städtische Lebensräume und für Verkehrs- und Kommunikationsnetze, die sozialen Zusammenhalt ermöglichen. (131)
- Besondere Aufmerksamkeit im Lebensraum Stadt muss der Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätzen für Jugendliche gelten. (132)
- Für die Entwicklung menschengerechter Städte bedarf es offener, kreativer Formen der Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen. (133)
EUROPA UND REGIONEN
EUROPA IM UMBRUCH
(134) Die Europäische Union steht mit der schrittweisen Erweiterung auf 27 und mehr Mitglieder noch in diesem Jahrzehnt, der Erarbeitung eines Verfassungsvertrags und der Neuordnung ihrer Strukturen vor der größten Herausforderung seit ihrer Gründung vor mehr als 50 Jahren. Diese Entwicklung, die weit über den Rahmen einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht, wird die gesellschaftliche und politische Zukunft Europas wesentlich prägen und weltweite Veränderungen beeinflussen.
(135) Parallel zur Entwicklung des größeren Europa nimmt auch das Bewusstsein der Menschen für ihre nationale Zugehörigkeit und regionale Besonderheiten wieder zu. Die Beheimatung in den eigenen Lebensräumen und Regionen wird durch die Dynamik der Integration als bedroht angesehen. Die Vielfalt Europas ist aber zugleich Grundlage für eine wachsende gesamteuropäische Identität.
Belastete Geschichte
(136) Das Zusammenwachsen der Völker Europas wird durch die Last der Geschichte aber auch behindert. Die beiden Weltkriege haben in Europa tiefe Wunden geschlagen. Vorurteile, Angst, Feindschaft und Hass haben Bevölkerungen und Staaten gespalten. Der Nationalsozialismus hat mit seiner Rassenpolitik das europäische Judentum fast gänzlich vernichtet. Die Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkrieges und die Ära der kommunistischen Regime sind in ihren Folgen noch immer spürbar. Die unterschiedliche Entwicklung der europäischen Staaten durch die Trennung Europas in Ost und West ist noch längst nicht überwunden.
Es braucht ein gemeinsames Aufarbeiten der Geschichte, Begegnungen über Grenzen hinweg und Eingeständnis von Schuld, um ein gemeinsames Europa der Zukunft zu bauen.
PROJEKT EUROPA
(137) Die wirtschaftliche Integration bildete die Basis des Friedensprojektes der Europäischen Union bei ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg als „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“. Bis heute stehen Wirtschaftsinteressen im Mittelpunkt europäischer Politik.
Ehrgeizige Wirtschaftsziele
(138) Die sogenannte „Lissabon-Strategie“ ist ein zentrales Element der EU-Politik für das Jahrzehnt 2001 - 2010. Um die EU in den „wettbewerbfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum“ umzuformen, ist die Modernisierung des Europäischen Sozialmodells durch Bildung und lebenslanges Lernen vorgesehen. Damit verbunden soll die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung sozialer Integration eine Entwicklung ermöglichen, die auch ökologische Ziele einbezieht.
(139) Die EU setzt nicht nur Rahmenbedingungen zur Erreichung dieser Ziele, sondern beeinflusst mittels Verordnungen und Richtlinien die nationale und regionale Politik. Hier wirken europäische Prozesse bis in lokale Gegebenheiten hinein. Das europäische Friedens- und Wohlstandskonzept soll damit mehr und mehr Gestalt gewinnen.
Lebensqualität für alle
(140) Während Wettbewerbs-, Binnenmarkt-, Finanz- und Budgetpolitik die EU-Politik bestimmen, bleibt Sozialpolitik im wesentlichen Aufgabe der Nationalstaaten.
Damit das Zusammenspiel von Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Demokratie auf das vorgegebene Ziel von „Lebensqualität für alle“ ausgerichtet bleibt, braucht es politische Beteiligung und allgemeinen Zugang zu Gesundheitsversorgung, sozialen Diensten und zu Bildung. Nur so kann Ausgrenzung vermieden und der soziale Zusammenhalt gestärkt werden.
(141) Diesen Zielen dient auch die rechtliche Anerkennung eines Sonderstatus von kirchlichen und nichtkirchlichen gemeinnützigen Einrichtungen. Sie dürfen nicht einfach dem EU-Wettbewerbsrecht unterliegen.
Gesellschaftliche Umbrüche
(142) Starke Veränderungen der europäischen Gesellschaft werden sich nicht zuletzt durch die demographische Entwicklung ergeben. In allen Ländern Europas steigt die Lebenserwartung als Folge des wirtschaftlichen und medizinischen Fortschritts. Gleichzeitig sind die Geburtenraten überall stark zurückgegangen. Dies bedeutet eine große Herausforderung für die Finanzierung der Sozialversicherungen, wie auch für die Gestaltung des Arbeitsmarktes.
Arbeitsmarkt und Migration
(143) Die Erwerbsarbeit wird von weiteren Rationalisierungsprozessen geprägt sein, Frauen werden in neue Berufsfelder eintreten, viele Europäerinnen und Europäer werden länger aktiv im Berufsleben bleiben.
Dennoch wird es zusätzlicher Zuwanderung bedürfen. Europa braucht deshalb eine gezielte Einwanderungspolitik.
Asyl als Menschenrecht
(144) Die Gewährung von Asyl ist für Verfolgte ein Menschenrecht, dessen Einlösung in Europa noch lange nicht zufriedenstellend gelöst ist. So müssten unter anderem auch frauenspezifische Asylgründe anerkannt werden.
Aber Europa wird - auch im eigenen Interesse - bereit sein müssen, Flüchtlingen aus aller Welt nicht nur Asyl zu gewähren, sondern Arbeits- und Integrationschancen zu bieten.
Vielfalt bereichert
(145) Unsere kulturellen Traditionen werden durch Menschen aus anderen Ländern nicht bedroht, sondern bereichert. Um Chancengleichheit zwischen allen Menschen, die in unseren Ländern leben, zu schaffen, braucht es eine Integrationspolitik, die die Bedürfnisse und Anliegen der aus dem Ausland stammenden Menschen und ihrer Familien mit einbezieht und ihre sozialen Rechte garantiert. Integration verlangt auch Teilhabe an demokratischen Rechten.
Auf dieser Basis sollte es möglich sein, eine Kultur der Gastfreundschaft und ein offenes Europa zu entwickeln, das für alle Beteiligten zur Bereicherung werden kann.
Christentum - eine Wurzel Europas
(146) Die Geschichte Europas ist geprägt vom Christentum, das in die Kultur Europas wesentliche Werte eingebracht hat. Dazu gehört die Überzeugung, dass jeder Mensch als Ebenbild Gottes Würde und Freiheit besitzt und in Zeiten der Not besondere Aufmerksamkeit verdient.
(147) Die Kirchen tragen aber auch Mitschuld an der Unrechts- und Leidensgeschichte Europas. Sie sind daher in besonderer Weise herausgefordert, die ihnen geschenkte Kraft zu Vergebung, Läuterung und Neubeginn in den Dienst der Einigung und Versöhnung Europas zu stellen.
DIE KIRCHEN WOLLEN BRÜCKEN BAUEN
Aufgaben für die Kirchen
- Es ist wichtiges Anliegen der Kirchen, Schritte zur Überwindung von Hass, zu Verständigung und Versöhnung zwischen einzelnen Menschen und Gruppen, aber auch über Ländergrenzen hinweg zu setzen. (148)
- Die Kirchen in Österreich nützen ihre vielfältigen Beziehungen zu den Ländern Mittel-, und Osteuropas, um die Erweiterung und die Integration in Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und kulturell zu fördern. (149)
- Kirchliche Einrichtungen sind aufgefordert, mit ihrem Beitrag zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in Mittel- und Osteuropa und durch ihre Kontakte zu Partnereinrichtungen den Einigungsprozess an der Basis zu fördern. (150)
- Die Kirchen nehmen auf vielfältige Weise eine Brückenfunktion zwischen unterschiedlichen Gruppen und Kulturen wahr. Dies betrifft alle Menschen, die dieses Europa bevölkern, dazu gehören auch alle Einwanderer. (151)
- Die Kirchen fördern Begegnung und kulturellen Austausch und empfehlen das Erlernen von Sprachen unserer Nachbarländer. (152)
- Die Kirchen sind überzeugt von der gleichen Würde aller Menschen und treten in ihrer Verkündigung und in ihren Werken gegen Rassismus und gegen jede Diskriminierung von Minderheiten ein. (153)
EUROPA - EINE HERAUSFORDERUNG
Aufgaben für die Gesellschaft
- Die ökonomische Integration Europas braucht soziale und politische Rahmenbedingungen. In einer EU-Verfassung sollen daher neben dem Grundrechtskatalog auch soziale Rechte verankert werden. (154)
- Die der Tradition der Sozialbewegungen entstammenden Leitideen von Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl müssen die Gesetzgebung bestimmen und in der konkreten Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. (155)
- Ergänzend zu den gewählten Entscheidungsgremien sollen im Sinne partizipativer Demokratie auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene Gruppen und Initiativen der Zivilgesellschaft durch Anhörungs- und Konsultationsverfahren besser in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. (156)
- Politiker und Politikerinnen sowie Journalisten und Journalistinnen sind besonders gefordert, sich aktiv für die Entwicklung eines differenzierten Europabewusstseins einzusetzen und so mitzuhelfen, Brücken zwischen den Menschen und Völkern Europas zu bauen. (157)
- Die Europäische Union bedarf gemeinsamer Regelungen im Bereich des Asylwesens, die dem Geist und dem Buchstaben der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprechen. (158)
- Europa muss in eine konstruktive Auseinandersetzung mit den benachbarten islamisch geprägten Ländern eintreten, und die politischen Strategien auf eine aktive Entwicklungszusammenarbeit in der einen Welt ausrichten. (159)