Das Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich
3 LEBENSVERBINDUNGEN: BEZIEHUNGSFÄHIGKEIT UND SOZIALER ZUSAMMENHALT
Lebensverbindungen
Altes Testament
Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. (Genesis 1,27)
Neues Testament
Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.
(Johannes 15, 12-13)
MENSCHSEIN IST LEBEN IN BEZIEHUNG
(67) Von der Empfängnis an ist menschliches Leben geprägt durch Beziehung. In Sicherheit bietenden Beziehungen kann das Kind den anderen und die Welt so kennen lernen, dass es sich zu einer eigenständigen, sozial kompetenten und verantwortlichen Persönlichkeit entwickelt und seine Identität findet. Die Sehnsucht nach gelingenden Beziehungen bleibt für das weitere Leben bestimmend.
Beziehungen müssen sich bewähren
(68) Im spannungsreichen Umfeld der Komplexität des Alltags, in der Auseinandersetzung mit den Erwartungen anderer und den Wünschen nach persönlicher Entfaltung, in der Vielfalt konkurrierender Lebensentwürfe hat sich Beziehungs- und Bindungsfähigkeit zu bewähren.
(69) Menschliche Beziehungen werden in Frage gestellt und oft schwer belastet durch Misstrauen, durch Rivalität in Arbeit und Wirtschaft, in einer Konsum- und Freizeitwelt, die mehr vom Haben als vom Sein bestimmt ist. Die Beschleunigung des Lebens und die sich daraus oft ergebende Überforderung, der schleichende Verlust gemeinsamer gesellschaftlicher Ruhezeiten und der Möglichkeit für zweckfreie menschliche Begegnungen beeinträchtigen und gefährden das menschliche Zusammenleben.
TRAGFÄHIGE BEZIEHUNGEN
Lernort Familie
(70) Die für jeden Menschen entscheidenden Erfahrungen von Liebe und Angenommen-Sein, von Vertrauen, Verlässlichkeit und Sicherheit werden vor allem in der Familie grundgelegt. Familien sind der Ort der Geborgenheit. Doch auch negative Grunderfahrungen können in der Familie gemacht werden: Brüchigkeit der Beziehungen, Zurückweisung und Enttäuschung, Erfahrung physischer und psychischer Gewalt können für das Leben prägend werden und nach der Tragfähigkeit von Beziehungen fragen lassen.
Gottes- und Nächstenliebe
(71) Christinnen und Christen sind überzeugt, dass Gott selbst mit jedem Menschen in Beziehung tritt. In menschlicher Liebe und Treue wird die Liebe und Treue Gottes gegenwärtig.
Gottes Treue gibt uns den Mut, trotz unserer menschlichen Schwäche darauf zu vertrauen, dass auch unter Menschen Treue und Verlässlichkeit möglich sind. Sie bilden die Basis jeder verbindlichen menschlichen Gemeinschaft.
Freiheit und Bindung
(72) Wenn Menschen heranwachsen, müssen sie zunehmend Verantwortung übernehmen, sich selbst, anderen Menschen und dem Schöpfer gegenüber. Dabei erfahren sie die Spannung von Freiheit und Bindung.
Die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, und die Bereitschaft, verlässliche Bindungen einzugehen, sind von grundlegender Bedeutung für das persönliche Leben und für die Möglichkeit zu einem verantwortungsbewussten gesellschaftlichen Leben, Mitsein und Mitgestalten.
Leitbild für Ehe und Familie
(73) Die monogame Ehe, in der Mutter und Vater den ihnen anvertrauten Kindern ein Wachsen und Reifen in einem geschützten Lebensraum ermöglichen, ist Leitbild der christlichen Familie.
Ein Leben nach diesem Leitbild stellt die Menschen vor eine Reihe von Herausforderungen: War im traditionellen Familienbild die Rollenteilung zwischen dem außerhäuslich erwerbstätigen Vater und der Hausfrau-Mutter klar definiert, so stellt heute die Verbindung von Familie und Erwerbsarbeit eine Herausforderung für Mütter und Väter dar, deren Lösung weitgehend den Einzelnen überlassen bleibt. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bieten dafür oftmals zu wenig Hilfestellung.
Der tiefen Sehnsucht nach gelingenden Beziehungen steht die Angst gegenüber, dass Bindungen einengen, die Freiheit einschränken könnten. Als Reaktion darauf versuchen Menschen, sich möglichst unabhängig zu machen. Individuelle Unabhängigkeit und Eigeninteresse werden zu gesellschaftlichen Leitwerten, hinter denen die Würde der anderen und die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen und des sozialen Zusammenhalts zurücktreten. Dabei wird vielfach nicht wahrgenommen, wie sehr Menschen dadurch in Isolation geraten und menschlich verarmen.
Das Gelingen christlicher Ehe, lebenslanger Bindung und gegenseitiger Liebe ist getragen von der Zusage Gottes und dem vertrauensvollen sich Bemühen um eine Kultur der Beziehung.
In diesem Bemühen wissen sich die Familien eingebunden in größere soziale Netze von Freundschaft, Gemeinde und „Gottesfamilie“, die den Blick über die Kernfamilie hinaus weiten.
Wagnis und Scheitern
(73) Der hohen Bewertung von menschlichen Beziehungen entspricht eine große Aufmerksamkeit für ihr Scheitern. Christinnen und Christen wissen um das Glück gemeinsamen Lebens, sie wissen aber auch um das Scheitern in Partnerschaft, Ehe und Familie. Beides verdient auf je angemessene Weise Beachtung und Behutsamkeit.
Christinnen und Christen treten dafür ein, dass geglückte, aber auch nicht gelungene Lebensrealitäten in den Partnerschaften, den Ehen und Familien entsprechend beachtet werden.
Beziehungen werden heute in vielfältigen Lebensmodellen gelebt, die Kirchen und Gesellschaft vor schwierige Fragen stellen, die zu unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Lösungsversuchen führen. Dabei stehen auch die Betroffenen selbst vor großen Herausforderungen. In jedem Fall sind Respekt, wechselseitiges Einverständnis, Gewaltfreiheit und Gleichberechtigung für eine menschengerechte Lebensweise unverzichtbar.
Lebensbedrohende Entwicklungen
(74) In den schwerwiegenden Fragen von Abtreibung und Reproduktionsmedizin droht die Würde menschlichen Lebens ausgeblendet und Gewalt gegen menschliches Leben, das sich nicht schützen kann, legitimiert zu werden.
In diesen Fragen bestehen auch zwischen den Kirchen unterschiedliche Positionen. Einig sind sich die Kirchen im Eintreten für Freiheit in Verantwortung und im Einbeziehen der Rechte des andern, die für ein menschenwürdiges Leben in unserer Gesellschaft unerlässlich sind. Das Prinzip der Autonomie darf nicht verabsolutiert werden, sondern schließt Verantwortung für sich und andere ein.
In der Frage der Euthanasie treten die Kirchen in Österreich in ihrer Erklärung zum menschenwürdigen Sterben einstimmig für eine Kultur der Solidarität mit den Sterbenden ein und lehnen jede Form der Euthanasie ab.
Die Machbarkeit in Wissenschaft und Technik findet ihre Grenze in der Unverfügbarkeit des Lebens.
Verantwortung für das Leben
(75) Menschliches Leben braucht Achtung, Geborgenheit und Fürsorge vom Beginn bis zu seinem Ende. Kinder brauchen für ihre Entwicklung die Geborgenheit in einer Familie, kranke und alte Menschen Begleitung und Hilfe. Männer sind dabei ebenso gefordert wie Frauen.
Nur in einer Gesellschaft, in der menschliche Verbundenheit und Freundschaft gepflegt werden, werden sich Menschen füreinander einsetzen, wird ein Klima der Solidarität entstehen, in dem auch Kranke und Behinderte Hilfe und Pflege, Obdachlose und Suchtkranke Unterstützung, Gefangene und Haftentlassene Begleiter auf dem Weg zurück in die Gesellschaft finden können.
Beziehungsfähigkeit und Engagement
(76) Neben Familien, Nachbarschaft und Freundeskreis übernehmen verschiedene Organisationen Verantwortung und sind zur Hilfe bereit. Eine große Zahl ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen sich in den Dienst sozialer Einrichtungen und bilden durch ihre verlässliche Bereitschaft und ihr längerfristiges Engagement die Basis für nachhaltige Hilfe. Aus freiwilligem Engagement sind Parteien und Verbände entstanden. Auch neue soziale Bewegungen leben in hohem Maß von beziehungsfähigen Personen, die bereit sind, sich für andere einzusetzen.
Die Beständigkeit dieses vielfältigen Engagements hängt entscheidend von materieller und ideeller Unterstützung und der öffentlichen Anerkennung ab. Es bedarf der besonderen Aufmerksamkeit der Gesellschaft, ein Klima der Beziehungs- und Bindungsfähigkeit zu erhalten und damit sozialen Zusammenhalt zu fördern und zu sichern.
UNTERWEGS MIT DEN MENSCHEN
Aufgaben für die Kirchen
- Die Kirchen sind gerufen, Menschen durch Verkündigung, Gottesdienst und Seelsorge zu begleiten. Sie wollen die Menschen in ihren verschiedenen Lebensabschnitten stärken und sie zu tragfähigen und dauerhaften Beziehungen und Bindungen ermutigen. (77)
- Die Kirchen laden in ihren Räumen zu Begegnung und Gemeinschaft ein. Sie wollen eine Kultur der Gastfreundschaft und der Toleranz pflegen. (78)
- Die Kirchen suchen angesichts der Realität des Scheiterns von Beziehungen nach Versöhnung aller Beteiligten. Sie ermutigen zum Austragen von Konflikten und dort, wo Schuld entstanden und Verletzung geschehen ist, zur Vergebung. (79)
- Physische und psychische Gewalt in der Partnerschaft, gegen Frauen, Kinder und gegen ältere Menschen verletzt die Menschenwürde. Die Kirchen sprechen sich klar gegen jede Form der Gewalt aus, sie wollen Gewalt und Missbrauch in den eigenen Reihen selbstkritisch benennen und bekämpfen. (80)
- Die Kirchen bieten Räume für Schutz und Heilung, für die Aufarbeitung von Schuld und das Erlernen eines gewaltfreien Umgangs. (81)
- Die Kirchen stellen sich nach ihrer je eigenen Tradition der Auseinandersetzung um die unterschiedlichen in der Gesellschaft gelebten Lebensmodelle und setzen sie in eine respektvolle Beziehung zueinander, um Ausgrenzung zu überwinden. (82)
- Die Kirchen mühen sich in vielfältiger Weise um die Integration von Menschen am Rand der Gesellschaft. Sie stellen sich an die Seite von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen, von Arbeitslosen und Obdachlosen. Suchtkranken, Gefangenen und Haftentlassenen wollen sie den Weg in die Gesellschaft ebnen. (83)
- Die Kirchen erkennen den Reichtum unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Sie wollen sich den zunehmenden Herausforderungen stellen und ihren Beitrag zur Integration und einem friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft leisten. (84)
FÜR EINE SOLIDARISCHE GESELLSCHAFT
Aufgaben für die Gesellschaft
- Gesellschaft und Staat sind verpflichtet, den Menschenrechten und der Menschenwürde entsprechend, die Lebensrealität aller und jedes Einzelnen anzuerkennen und zu respektieren. (85)
- Eine entsprechende Familien- und Sozialpolitik soll jene verlässlichen materiellen Rahmenbedingungen garantieren, die für stabile Beziehungen notwendig sind. (86)
- Eine entsprechende Lohn- und Einkommenspolitik, verbunden mit arbeitsrechtlichen Regelungen müssen daraufhin ausgerichtet werden, die bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten zwischen Frauen und Männern gerechter verteilbar zu machen und die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben zu verbessern. (87)
- Der freie Sonntag als Chance für Ruhe und Feiern, für die Pflege sozialer Kontakte und für religiöse Feste ist zu schützen. (88)
- Solidarität zeigt sich auch im Engagement für andere Menschen und gesellschaftliche Anliegen. Dieses verdient immer Anerkennung und Wertschätzung. Dauerhaftes Engagement, etwa in gemeinnützigen Einrichtungen, bedarf darüber hinaus entsprechender rechtlicher und materieller Absicherung. (89)
- Entscheidungen in Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit sind vor allem die Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen und sozialen Zusammenhalt zugrunde zu legen, anstatt sie vorrangig nach Einzelinteressen auszurichten. (90)