Vor kurzem nahm ich an einer Veranstaltung teil, bei der sich eine katholische Theologin, ein jüdischer und ein muslimischer Wissenschaftler über den Stand der Beziehungen ihrer Religionsbekenntnisse zueinander unterhielten. Sie stellten unisono fest, dass es dafür schon bessere Zeiten gegeben habe. Gleichzeitig waren sich die drei Personen aber einig, dass sie in vielem, was sie als ihre Aufgabe bei der Gestaltung der Welt sahen, einer Meinung waren.
Es waren Menschen, die in ihrer Religion fest verwurzelt sind, gleichzeitig aber die jeweils andere Tradition, Lehre, Spiritualität und das Wirken der anderen Bekenntnisse wertschätzend würdigen. Einig waren sie sich auch darüber, dass Religionen politisch sein müssen, in dem Sinn, dass sie öffentliche Einrichtungen sind, die öffentlich Stellung beziehen. Diese drei Religionen sind keine individualistischen Heilsangebote, sie gehen vom Menschen als Gemeinschaftswesen aus. Was allerdings nicht bedeutet, dass sie aus ihren religiösen Schriften einen Herrschaftsanspruch zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Sicht der Welt ableiten können.
Der muslimische Wissenschaftler brachte es bei der Veranstaltung auf den Punkt, weshalb derzeit Sand im Getriebe des interreligiösen Dialogs gekommen ist. Er stellte fest, dass die größten inhaltlichen Differenzen nicht zwischen, sondern innerhalb der Religionsgemeinschaften bestehen. Weltoffene und allen Menschen zugewandte Mitglieder der jeweiligen Bekenntnisse finden untereinander viele Gemeinsamkeiten. Es gibt aber innerhalb des Christentums, des Judentums und des Islam Gegensätze, die nur in Bezug auf den Islam diskutiert werden, innerhalb des Christentums und des Judentums aber kaum zur Sprache kommen.
Auf den Punkt gebracht, kann ich mich mit einer aufgeschlossenen Muslima und einem aufgeschlossenen Juden viel eher über grundlegende Fragen des Lebens verständigen als mit katholischen und evangelikalen Trump-Anhängern und mit russisch orthodoxen Christinnen und Christen. Wir alle müssten zuerst einen Dialog innerhalb unserer Religionsgemeinschaften führen und Standpunkte klären, bevor wir mit dem Zeigefinger auf andere verweisen sollten.
Die Trennlinie verläuft nicht zwischen den einzelnen Bekenntnissen, sondern zwischen jenen, die ihre Heiligen Schriften als Zeugnisse der Menschheitserfahrungen mit Gott sehen und jenen, die diese als konkrete und aus der Zeit gefallene Handlungsanleitungen für ihr tägliches Leben und ihren Herrschaftsanspruch über andere missbrauchen. Amerikanische Staatsbürger, die ihr Land als Gods own Country sehen und ihre Vorstellung von Recht und Ordnung überall mit Gewalt durchsetzen wollen, jüdische Siedler, die sich das Recht herausnehmen, ihre arabischen Nachbarn zu misshandeln und zu vertreiben, weil das Westjordanland für sie das biblische Samaria und Judäa bedeuten, und Muslime, die die Weltherrschaft anstreben, berufen sich auf ihre religiösen Schriften, die sie wörtlich in unserer Zeit umgesetzt wissen wollen.
Auch durch unsere nationalen Kirchengemeinschaften gehen tiefe Risse in Bezug auf Auslegung der heiligen Schriften. Aber man kann jahrtausende- und jahrhundertealte Schriften nicht wörtlich nehmen. Wenn man das tut, verfälscht man sie. Sie sind in ihrer Zeit geschrieben und nur das, was darin ewige Gültigkeit hat, macht sie zu heiligen Schriften. Stellt sich die Frage, was das denn wäre? Damit beschäftigt sich seriöse Theologie von Anbeginn an. Für mich ist es das, was diese Schriften in ihrer Zeit an verändernden und für die Menschheit gültigen Inspirationen in das Bewusstsein ihrer Gläubigen eingepflanzt haben. Der Geltungsanspruch ergibt sich daraus, dass die Neue Sicht auf Gott und die Welt menschenfreundlich und zukunftsfähig ist.
Das Neue Testament von uns Christinnen und Christen fächert das auf, was in der jüdischen Bibel grundgelegt ist, es erhebt sich nicht darüber, denn alle Schriften sind Produkte ihrer Zeit. Der Koran war für die Menschen seiner Entstehungszeit wahrscheinlich ebenso richtungsweisend, aber dazu weiß ich zu wenig. Wie gefährlich heilige Schriften allerdings sein können, hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt, denn der Umgang mit ihnen führt in menschliche Abgründe, wenn sie aus dem Geist längst vergangener Zeit und deren jeweiligen Machtansprüchen gelesen werden.
Das gefährliche unserer heiligen Schriften besteht darin, dass dieser archaische Geist, der aus diesen Texten spricht, immer noch in uns allen schlummert und sehr leicht geweckt werden kann. Wir können sie nur durch die Brille der Aufklärung lesen. Die zumeist kommentarlose österliche Lesung der Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft ist für mich jährlich ein Ärgernis. Dadurch wird die Befreiungsgeschichte eines unterdrückten Volkes zum Gewaltexzess. Ein solcher unsensibler Umgang mit biblischen Texten zieht sich durch viele sonntäglichen Lesungen. Nur selten hört man dazu eine zeitgemäße Auslegung.
Dieser Umgang ist in allen drei Religionsgemeinschaften eine nur allzu oft geübte Praxis. Deshalb ist es kein Wunder, dass als Ausweg aus erfahrenem Unrecht immer wieder gewaltsame Rache als legitime Antwort gegeben wird, abgesegnet auch von Vertretern der jeweiligen Religionsgemeinschaften. Wir leben derzeit in unfriedlichen Zeiten und längst überwunden geglaubte Handlungsmuster bestimmen das Weltgeschehen.
Es wäre Aufgabe aller religiösen Bekenntnisse, echte gemeinsame Friedensdienste zu leisten. Aber dazu bräuchte es zuerst einmal den reflexiven Blick nach innen. Religiöse Amtsträger haben die Pflicht, theologisch unhaltbare Standpunkte in der eigenen Gemeinschaft zu benennen. Wir Gläubige aller Religionen müssen Klarheit darüber schaffen, dass deren Daseinsberechtigung nur darin besteht, für die Fülle der Lebensmöglichkeiten Aller einzutreten und es ihre Aufgabe ist, ethische Richtschnur der Menschenfreundlichkeit Gottes zu sein.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.