...der werfe den ersten Stein
Heribert Prantl, langjähriger Journalist der Süddeutschen Zeitung, sagte vor kurzem, in Umkehr der gebräuchlichen Phrase: „Wer den Frieden will, bereite den Frieden vor“. Aber wer tut das angesichts einer Lage, in der die Mächtigen dieser Welt diese als ihre kriegerische Spielwiese betrachten? Bleibt die Frage, wer hat ihnen diese Macht gegeben? Wer hat versagt?
Die Antwort muss leider lauten, alle, die in ihrem Lebensumfeld nicht dazu beigetragen haben, eine menschenfreundliche Gegenmacht aufzubauen, haben das ihre dazu getan, um diesen primitiven Autokraten den Weg zu bereiten. Ich habe Zeiten erlebt, in denen es anders war und es starke Kräfte des Widerstands gegen die auch damals oft destruktiven Machthaber gegeben hat. Sie haben für kurze Zeit eine solidarische Grundierung in den politischen Diskurs gebracht.
Wir dachten damals, dass die Fortschritte im Bereich der Menschenrechte und der friedlichen Konfliktaustragung nicht rückgängig zu machen sein werden –Nach Ernst Jandl: werch ein Illtum. Es gelang mächtigen Lobbies sehr schnell, wieder das wirtschaftliche, politische und das daraus folgende militärische Konkurrenzdenken tief in die Gesellschaft zu implantieren und alle Räume zu besetzen.
Was tun? So wie der rücksichtslose Individualismus von oben nach unten unsere Gesellschaft entsolidarisiert und entdemokratisiert hat, sehe ich nur die Möglichkeit, von unten nach oben einen menschenfreundlichen Umgang miteinander zu implantieren. Da hat Jesus eine sehr hilfreiche Anleitung für uns: Wer frei ist von Schuld, der werfe den ersten Stein. Konflikte entstehen immer dort, wo man sich als Einzelne, als Gemeinschaft und als Bevölkerung missverstanden und ungerecht behandelt fühlt.
Die eigenen Unrechtsverstrickungen klammert man dabei gerne aus. Deshalb müssen wir jesuanisch versuchen, das eigene Unrecht und Versagen anzuschauen, damit wir lernen können, milder mit unseren Gegnern umzugehen. Es gibt Konfliktfelder, bei denen dieser Mangel an Selbstreflektion ganz besonders deutlich sichtbar wird:
Man kann sagen, es ist Unrecht, wenn eine 13-köpfige Einwandererfamilie 9.000,-- € im Monat bekommt, ohne dass jemand einer Erwerbsarbeit nachgeht. Gleichzeitig wäre die Einordnung hilfreich, dass es in ganz Österreich nur 4 Familien gibt, auf die das zutrifft. Es gibt sicher in vielen Politikfeldern Handlungsbedarf und vielleicht gilt das auch für die Sozialhilfe, dennoch ist es eine Tatsache, dass deren Kürzung uns nicht reicher machen würde. Da gibt es ganz andere Handlungsfelder, in denen Milliarden bewegt werden. Und ist es nicht so, dass wir fast alle im gesetzlichen Grauraum agieren, wenn es um steuerliche Vermeidung geht?
Israel lädt derzeit schwere Schuld auf sich, das bestätigen nicht nur jene, die als Ärzte ohne Grenzen und anderen Hilfsorganisationen dort ausharren, sondern das ist mittlerweile Erkenntnis der zivilisierten Welt. Ja, der 7. Oktober war ein grauenhafter Überfall und hat Juden in aller Welt schwer traumatisiert, und ihre latenten und begreiflichen Ängste aktiviert.
Glauben wir aber wirklich, wir können die Schuld unserer Vorfahren an diesen Ängsten tilgen, wenn wir Kritik am Israel vermeiden? Glauben wir wirklich, wir tun den Juden in aller Welt etwas Gutes, wenn wir uns zu dem Unrecht, das der Israel begeht, nicht lautstark zu Wort melden? Möchten wir mit der solidarischen Staatsraison für Israel nicht zudecken und auslagern, was wir in unseren eigenen Familiengeschichten nicht so genau anschauen wollen?
Wir ändern nichts mehr an der Tatsache, dass in unserem Land Juden industriell ermordet wurden - und die meisten zu- oder weggesehen haben - indem wir heute wieder die Augen verschließen und uns weder für die Geschichte des Nahen Ostens noch des Zionismus wirklich interessieren. Denn nur durch Selbstreflektion könnten wir uns jeglichen vorschnellen Urteils enthalten und unreflektierte Parteinahme vermeiden. Nur so kann Empathie für die gequälten Menschen entstehen und auch ein wenig Verständnis für deren Verhalten. Wir sollten nicht wieder denen in die Falle gehen, die mittels Schürens von Hass unsere Barmherzigkeit töten.
Und auch in der Ukraine ist es nicht ganz so einfach. Denn wenn wir uns darüber einig sind, dass Krieg immer die grauenhafteste aller möglichen Reaktionen auf Konflikte zwischen Völkern ist, dann muss er mit dem größtmöglichen Einsatz von Diplomatie verhindert, und auch im Falle des russischen Überfalls auf diplomatischem Weg beendet werden.
Wenn klar ist, dass die europäischen Länder nicht bereit sind, ihre eigenen jungen Männer in den Krieg gegen Russland ziehen zu lassen und einen neuen Weltkrieg zu riskieren, darf man nicht zusehen, wie hunderttausende Soldaten, viele Bürgerinnen und Bürger der Ukraine sterben und unendlich viel Infrastruktur vernichtet wird. Da stellt sich eben die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, noch dazu wo die Ukraine mit solch immens großem Materialverbrauch und unvorstellbar großer Umweltzerstörung jetzt schlechter dasteht als am Beginn des Krieges.
Haben wir Europäerinnen und Europäer alles getan, um diesen Krieg zu verhindern? haben wir richtig gehandelt, indem dem Raubtierkapitalismus in Russland Tür und Tor geöffnet wurde und es keine Berührungsängste mit kriminellen Oligarchen gab? Es war kein Wandel durch Handel, der da betrieben wurde, sondern bewusstes Wegschauen, um die eigenen Geschäfte nicht zu gefährden.
Dass Putin seinen Aufstieg, der mit westlicher Beteiligung erfolgten Verarmung eines großen Teils der russischen Bevölkerung verdankte und erst seine vorgebliche Stärke für gewaltsam errichtete Stabilität sorgte, beunruhigte niemanden, bis zu dem Zeitpunkt, wo sich seine Aggression gegen den Westen richtete. Auch wenn die Schuldfrage ziemlich eindeutig ist, müssen Verhandlungen das oberste strategische Ziel sein, denn der Preis der Gerechtigkeit ist zu hoch – und wer weiß, was wirklich gerecht ist. Wer ist hier naiv und wer realistisch?
Das alles liegt nicht in unserer Hand, dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass eine offene Auseinandersetzung mit den Ursachen des Unfriedens in dieser Welt erste Schritte zur Veränderung bewirken. Wir wurden Jahrzehnte von Oben mit der Formel, dass Eigennutz der Weg zum Erfolg ist, sehr erfolgreich indoktriniert, das Ergebnis zeigt sich überall.
Vielleicht gelingt es ja mit der Einübung von Empathie und Menschenfreundlichkeit von unten, diese Abwärtsspirale aufzuhalten. Man wird mir entgegnen, dass wären ja nur Tropfen auf einen heißen Stein – stimmt, aber viele Tropfen auf viele heiße Steine können das mitmenschliche Klima verändern.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.
