Verantwortung für den Schmerz der Armen und der Erde übernehmen
Laudato Si hat 2015 der internationalen kirchlichen Bewegung für globale Gerechtigkeit und Solidarität, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit und auch im Klimaschutz engagierte, einen riesigen Energieschub verliehen. Die politische Zusammenschau zwischen Umwelt und Entwicklung passierte auf der Weltbühne konsequent ab den 1990er Jahren.
Das kirchliche Lehramt bezog bereits in den Jahrzehnten davor immer wieder Stellung in Sachen Umweltzerstörung, ausbeutende Wirtschaftsweise und globale Armut und Ungerechtigkeit. Und in der pastoralen Praxis wurden auch schon lange vor 2015 globale Fragen in Arbeitskreisen und Initiativen zur Sprache gebracht. Aber das konsequente Zusammendenken der Themen Klima- und soziale Gerechtigkeit führte ein politisches und kirchliches Schattendasein.
So machte Papst Franziskus mit der Veröffentlichung der Enzyklika im Mai 2015 den Auftakt für ein Jahr, das einen Höhepunkt multilateraler Einigung in Klima- und Entwicklungsfragen darstellt: von der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba im Juli über die Verabschiedung der Agenda 2030 im September und dem Klimaabkommen von Paris im Dezember.
Laudato Si war nicht nur ein Lichtblick kirchlicher Aktualität und erschien bahnbrechend, für das, was danach politisch folgen sollte. Es war auch ein Hoffnungsschreiben angesichts von existentiellen Krisen, weil es Gestaltungsbereiche benannte, wo wir als Kirche etwas zu sagen hätten: Genügsamkeit, Solidarität, Geschwisterlichkeit und Gemeinwohl, alles Bausteine zu mehr Gerechtigkeit.
Neben der Vision wurde die Mission neuerlich klar entfaltet: die Kultur und das Naturverständnis hinter dem auf fossiler Energie beruhenden Wachstums- und Entwicklungsmodell müssen sich ändern. Die EU verabschiedete 2019 dann den Green Deal, die katholische Kirche in Österreich nachhaltige Finanzrichtlinien und die Amazonien-Synode ihr Abschlussdokument. Es passierte viel und dennoch viel zu wenig: wir stehen heute viel schlechter da als 2015.
Der IPCC, das wichtigste internationale wissenschaftliche Forschungsgremium zu Klima, hat erst jüngst bestätigt, dass „3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen […] unter Bedingungen [leben], die sehr verwundbar gegenüber dem Klimawandel sind.“ Und dass Gerechtigkeit einer der handlungsleitenden Werte sein muss, um Klimaresilienz zu schaffen, aber die Zeit knapp werde, um wirksam gegen die Erderwärmung vorzugehen. Und bei der UN-Zwischenbilanz zur Agenda 2030 wurde deutlich, dass die Weltgemeinschaft weit entfernt ist von ihren selbstgesteckten Zielen für ein Gutes Leben für Alle.
Der von Papst Franziskus in Laudato Si und inhaltlichen Nachfolgedokumenten geäußerte Aufruf zu einer radikalen Umkehr der Länder des Globalen Nordens im Sinne einer sozial-ökologischen Ausrichtung der Politiken hat zwar inner- und außerhalb der Kirche viele beeindruckt und begeistert sowie viele neue Initiativen entstehen lassen. Auch zahlreiche Bischöfe, besonders viele in Ländern, die zum Klimawandel wenig beigetragen haben, ihn aber bereits jetzt erheblich spüren, sind Anwälte eines Wandels.
Aber die Umkehr auf politischer Ebene wurde nicht geschafft. D.h. Katholikinnen und Katholiken haben sich vielerorts bei Wahlen für jene Parteien entschieden, die für ein „Weiter so“ standen anstatt für jene, die die unumgängliche Transformation mit ehrlichen, aber auch motivierenden Visionen untermauern. Die Ortskirchen haben sich zu selten getraut, systemische Fragen zu stellen oder dorthin zu zeigen, wo bestehende Krisen sich zu verschlimmern drohen, Räume für gesellschaftliche Debatten anzubieten, die es braucht, um sich den bestmöglichen Weg der Veränderung gemeinsam zu erstreiten oder auch Aspekte des Lebensstils und Überkonsums anzusprechen.
Trotz deutlich erkennbarer Fortschritte in einigen Bereichen, fällt die Gesamtbilanz seit der Veröffentlichung von Laudato Sí sehr ernüchternd aus. Aber es ist auch noch nicht das Ende. Papst Franziskus ist nicht mehr bei uns, aber seine Sorge um das gemeinsame Haus hat er uns in die Herzen geschrieben. Wir dürfen weitergehen, um auf den Schmerz der Armen und der Erde nicht nur zu hören, sondern darauf zu reagieren und unsere Verantwortung wahrzunehmen.
Dr. Anja Appel
Sie ist Politikwissenschafterin und leitet die Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.