Die Berichterstattung zum Tod von Papst Franziskus konzentriert sich überwiegend auf die äußeren, institutionellen und kirchenpolitischen Aspekte seines Pontifikats, auch auf seinen Einsatz für den Klimaschutz und für soziale Gerechtigkeit.
Um diese Persönlichkeit zu verstehen, muss man jedoch meines Erachtens einen Schritt tiefer gehen, und eine spirituelle Dimension berücksichtigen, die den „heißen Kern“ seines Wirkens bildet.
Als junger Chemiker, mit einem Mädchen verlobt, hatte Jorge Bergoglio eines Tages eine spirituelle Erfahrung, im Zusammenhang mit dem Besuch einer leeren Kirche. Eine solche Erfahrung ist immer völlig unerwartet, plötzlich, kurz – aber derart intensiv, dass es das ganze Leben aus der Bahn wirft und das Bild der Welt verändert. Augustinus beispielsweise lieferte die berühmte Beschreibung seiner eigenen Erfahrung in den „Confessiones“ (Kap. 9) als Kontakt mit „dem“, einem „Berührtwerden“ von „dem“ – was letztlich passiert, bleibt unbeschreiblich, unnennbar. Vielleicht kann man es so sehen, dass sich für einen Moment ein Spalt öffnet und das eigentliche Wesen, die Tiefendimension der Realität (einschließlich von einem selbst, das eins ist damit) zum Vorschein kommt, erfahren als höchste ultimative Freude.
Bergoglio hat mehrmals von diesem Moment erzählt. Diese Erfahrung bildet den Hintergrund, warum er als Bischof als Motto wählte: „Miserando atque eligendo“ (aus Barmherzigkeit erwählt). Die mystische Erfahrung bildete für ihn den Anstoß dafür, Priester zu werden.
Dieser momenthafte „Kontakt“ mit „dem“ – was die Theologen als namenloses Geheimnis der Wirklichkeit bezeichnen, das man nicht begreifen, von dem man nur ergriffen werden kann – verbindet Bergoglio mit Franz von Assisi, der ebenfalls als junger Mann eine solche mystische Erfahrung gemacht hat, die ihn aus den Gleisen der damaligen Konventionen herausgeworfen, verrückt hat. Er erhält den Ruf, die Kirche wieder aufzubauen – und versteht das zuerst buchstäblich und baut das kleine verfallene Kirchlein, in dem er diese Erfahrung hatte, wieder auf. Vielleicht hat seine Namenswahl als Papst u.a. auch mit dieser Parallele mit Franz von Assisi zu tun.
Ich bin überzeugt, dass die ganze Persönlichkeit, das Wirken von Jorge Bergoglio/ Franziskus nur von diesem spirituellen „Urknall“ in seiner Jugend her zu verstehen ist: die reale, empirische Erfahrung, dass eine geistige Realität/ Gott tatsächlich existiert.
Das Atemberaubende an diesem Pontifikat: ein Mystiker, ein Befreiungstheologe (der argentinischen Variante „Theologie des Volkes“ seines Lehrers Scannone) betrat den Stuhl Petri. Es gelang ihm, inmitten der historischen Wucherungen, Verkrustungen, machtpolitischen Strukturen, theologischen Überbauten einer uralten Institution – durch all das hindurch auf die eigentliche frische ursprüngliche Quelle hinzuweisen, ihrem Sprudeln in der Kirche und in der Welt Bahn zu machen: nämlich den Nazarener und sein „Evangelium der Freude“, der die Armen seliggepriesen hat, die Friedfertigen, Machtlosen.
Franziskus wendete – im Großen Geheimnis verwurzelt – die radikale kritische Kraft des ursprünglich Christlichen an, mit großer Gelassenheit, Klarheit, Entschiedenheit, Freiheit, Leichtigkeit – fast spielerisch. Das Salz wurde wieder salzig, das Licht auf dem Berg wieder erkennbar.
Eine der letzten Interventionen des kranken Papstes war der Brief an die US-Bischöfe im Februar 2025, die eine scharfe, deutliche Kritik an der missbräuchlichen Instrumentalisierung und verzerrten Darstellung der scholastischen Theologie des Kirchenlehrers Thomas von Aquin (Konzept „ordo amoris“, ST II-II, q. 26) durch den katholischen US-Vizepräsidenten DJ Vance enthielt. Vance hatte sich nach dem Amtsantritt im Jänner in einem Interview auf „Fox News“ auf die Tradition der „Ordnung der Liebe“ berufen. Er interpretiert das theologische Konzept im Sinn der „Retrotopie“ (Z. Bauman) eines nationalistischen Stammesdenkens, nationalistischer Abschottung und Fremdenfeindlichkeit. Es ist der atemberaubende Versuch, den fast völligen Stopp der US-Auslandshilfe und die rabiate Abschiebungspolitik der US-Administration, insgesamt die nationalistische „America First“-Agenda der Trump-Vance-Administration mit der katholischen theologischen Tradition zu verbrämen und zu legitimieren. Franziskus stellte im Brief ein richtiges Verständnis von ordo amoris und christlicher Nächstenliebe dar, mit Hinweis auf die Definition des „Nächsten“ durch Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Der Nächste ist nicht das Mitglied der eigenen Familie, der eigenen ethnischen, nationalen, religiösen Gemeinschaft, der eigenen Gesellschaft. Der Nächste ist gerade der verletzte, verlassene, hilfsbedürftige Fremde. Bei dieser Kontroverse geht es um nichts Geringeres als den „heißen Kern“ des Christentums, des Evangeliums.
Als Stimme der Ausgeschlossenen, Armgemachten, Verletzten, Unsichtbaren, der Weggeworfenen, Ohnmächtigen nutzte Franziskus die globale Bühne des Papstamts, um den radikalen Kontrapunkt des Evangeliums gegen die Mächte und machtvollen Entwicklungen der Gegenwart zu setzen: gegen die sich aufbauende Macht des „Cyber-Faschismus“ (H. Wegenaar) des digitalen Kapitalismus; gegen den aggressiven staats- und demokratiefeindlichen Libertarismus der Tech-Eliten wie Peter Thiel, der teilweise mit religiösem Zungenschlag und theologischen Rechtfertigungen operiert; gegen die skandalöse globale soziale Ungleichheit; gegen die Über-Macht der fossilen Industrie, die sich politische Marionetten wie Trump mit riesigen Wahlkampfspenden kauft; gegen das Auftrumpfen der Autokraten; gegen das kaltblütige Ignorieren des Völkerrechts, des Kriegsrechts, der Menschenrechte und der Durchsetzung des blanken Rechts des Stärkeren durch die Herrscher der Welt; gegen „Volksgemeinschafts“-Fantasien der Rechtspopulisten und Rechtsextremen und Fremdenhass; gegen den Aufstieg von religiösem Fundamentalismus, Missbrauch von Religion für Gewalt und nationalistischer Religiosität; gegen die leise „legale“ Erosion von Demokratien durch Druck auf Universitäten, Anwaltskanzleien, Administrationen usw.; gegen die massive Biodiversitätskrise und das stille Verschwinden der Arten; gegen äußere und innere Verwüstung und Vermüllung; gegen den schleichenden Kollaps des globalen Klimasystems und dessen Verleugnung, usw.
Mit Mut und Hoffnung setzte sich der argentinische Papst – der Pontifex gerade zu den Verletzlichsten, Vergessenen, den Flüchtlingen, Migranten, Armen, Landlosen, Indigenen - all dem entgegen, mit einem Trotzdem und seinem Gottvertrauen.
Ernst Fürlinger: habilitierter Religionswissenschaftler mit Schwerpunkt interreligiöser Dialog, Islam und Hinduismus an der Universität für Weiterbildung Krems.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.