Vor Kurzem hörte ich in der immer hörenswerten Sendereihe von Renata Schmidtkunz „Im Gespräch“ die Erfahrungen einer Frau, die der Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren auf die Spur kommen wollte. Sie erfuhr, dass alle zur Vernichtung nach Maly Trostinec, nähe Minsk in Weißrussland deportiert worden waren und dort bei der Ankunft sofort ermordet wurden. Maly Trostinec war kein Vernichtungslager, sondern eine Vernichtungsstätte, wo die Ankommenden sofort erschossen und verscharrt wurden. 27.000 Wiener Juden erlitten dieses Schicksal. Waltraud Barton, die Frau, die auf der Suche nach ihren Verwandten auf diese gezielte Vernichtungsaktion zwischen 1941 und 1943 gestoßen war, ließ der Ort Maly Trostinec nicht mehr los und sie verfasste ein Totenbuch, das alle dort ermordeten Menschen im Gedächtnis bewahren sollte.
Bevor diese Menschen von Wien aus dorthin transportiert worden waren, wurden sie in Sammellagern zusammengetrieben. Ich erfuhr, dass eines der größten in der Kleinen Sperlgasse Nr. 2a, im 2. Wiener Bezirk war. Diese Tatsache ließ mich nicht los, denn ich ging ab dem Jahr 1951 in das Gymnasium Kleine Sperlgasse 4 – lernte also in der direkten Nachbarschaft dieses Lagers viel über Literatur, Geschichte und Ethik. Viele Lehrerinnen an dieser Schule waren Funktionärinnen der Katholischen Frauenbewegung, die in der Zwischenkriegszeit KFO hieß. Auch Anna Nowak, unsere Direktorin betätigte sich dort in der Bildungsarbeit.
Es lässt mich seither nicht los: Wie war es möglich, dass ethisch sensible Menschen es tot geschwiegen haben, was sie ganz einfach sehen mussten, nämlich dass neben der Schule, in der sie die abendländische Kultur unterrichteten, Menschen zusammengepfercht worden waren und von dort jüdische Frauen, Männer und Kinder abtransportiert wurden und niemand fragte, was mit ihnen geschah ? Wie war es möglich, dass einige Jahre danach niemand auf die Geschichte dieses Ortes hinwies? Für mich war das Haus neben dem Gymnasium nur die Volksschule, die nach dem Krieg dort wieder eingerichtet wurde.
Die Katholische Frauenbewegung ist auch aus anderen Gründen tief in der Kleinen Sperlgasse verwurzelt. Denn in der Zwischenkriegszeit betrieben die Frauen dort, wo später die „Expositur“ meiner Schule war, nämlich auf der Nr. 5, ein Hotel, damit Frauen vom Land, die in Wien Bildungsveranstaltungen besuchten, übernachten konnten. Es wurde den Funktionärinnen katholischerseits allerdings angekreidet, dass sie den Frauen zumuteten, im jüdischen Viertel zu verkehren. Als dann durch die wirtschaftlichen Verhältnisse die Wiener Katholische Frauenorganisation – auch wegen des Betriebs des Hotels - Schulden hatte, wurde das dann von kirchlichen Stellen zum Anlass genommen, Alma Motzko, die Vorsitzende, die noch ein Gegengewicht zum aufkeimenden Austrofaschismus war, zu entmachten und eine willfährige Frau einzusetzen. Die österreichische Vorsitzende war damals Fanny Starhemberg, die Mutter des Heimwehrführers Ernst Rüdiger von Starhemberg.
Warum lässt mich all das nicht ruhen? Es ist doch so lange her. Das stimmt. Aber es ließe sich daraus lernen, würde man wollen. Genauso wie die leitenden Frauen der kfo damals geschwiegen haben und nichts sehen und hören wollten, sondern mit ihren Frauengruppen lieber pilgern gingen, genauso werden heute um des lieben Friedens willen die Konfliktfelder gemieden. Sei es die Klimakrise, die eine Änderung unserer Lebensweise und neue Bündnispartnerinnen bräuchte, sei es die soziale Ungleichheit, die eine umverteilende Politik erforderte, sei es der Ton der öffentlichen Auseinandersetzung, der es nötig machen würde, das Freund-Feind Schema zu hinterfragen. Sich wegducken, zu schweigen, im Kleinen Gutes zu tun, das hat schon einmal in den Untergang geführt und weil darüber in unseren Kirchen und kirchlichen Organisationen zu wenig gesprochen wird, scheint es vorprogrammiert, dass es bei den Herausforderungen unserer Zeit nicht anders sein wird.
Noch etwas beunruhigt mich an unserer nicht vorhandenen Erinnerungskultur. Die Osternachtsfeier ist für mich der jährliche Höhepunkt liturgischer Feste und dennoch. Heuer hat es mich besonders getroffen, wie die Zurücknahme der widerspruchslosen Bereitschaft zur Opferung des Isaak und die Vernichtung der Ägypter kommentarlos als Befreiungshandlung Gottes gelesen wurden. Wie unsensibel muss man sein, um diese grausamen Geschichten, die natürlich aus ihrer historischen Verankerung heraus zu interpretieren wären, liest – und nichts dazu sagt. Wie kommt das bei Menschen an, die kaum theologische Bildung haben? Gerade in Zeiten, wo im sogenannten Heiligen Land ein schrecklicher Bruderkrieg tobt, wo im Namen Gottes unschuldige Menschen abgeschlachtet wurden und sich andererseits fundamentalistische Juden auf Gott berufen, wenn sie das ganze Land Israel für sich beanspruchen, das Westjordanland Judäa und Samaria nennen und sich jedes Recht herausnehmen, die Palästinenser von dort zu vertreiben. Die uninterpretierte Berufung auf die Bibel sah in den Juden die Christusmörder mit all den grauenhaften Folgen des Antijudaismus und macht sie andererseits zum auserwählten Volk, das ein Recht darauf hat, die anderen zu vertreiben.
Die Bibel ist kein Geschichtsbuch, sondern das Buch der Menschheitserfahrung mit Gott. Man muss sie historisch kritisch lesen, sie wörtlich zu nehmen ist fahrlässig und gefährlich. Gedächtnis- und Erinnerungskultur im theologischen Sinn gibt Zeugnis von Befreiungserfahrungen. Dazu müssen diese aber in einen historischen Zusammenhang gestellt werden. Solange das nicht geschieht, wird Erinnerungskultur durch gefährliche Mythologie ersetzt.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.