Prekariat hat für mich zwei Dimensionen: eine wirtschaftliche und eine emotionale. Finanziell bedeutet es: Kann ich von dem leben, das ich für meine Arbeit bekomme? Und die andere Frage ist: werde ich fair behandelt? Oder etwa ausgebeutet? Ein Beispiel: Es kann sein, dass ich finanziell abgesichert bin und mich ehrenamtlich engagiere und in diesem Ehrenamt ausgebeutet werde.
Die wirtschaftliche Seite bietet meist mehr Möglichkeiten: Einnahmen und Ausgabensituation verbessern, sprich weniger ausgeben oder mehr einnehmen, Vereinbarungen mit Leuten treffen, Hilfe holen (Elternverein, Staat, …), billiger einkaufen, …
Die emotionale ist für mich die wichtigere Komponente. Da spielt Scham eine große Rolle. Aber auch die Ablehnung, die man von anderen erfährt, wenn sie z.B. sagen: „Geh doch mal arbeiten…“. Von Sorgen zerfressen werden Lösungsmöglichkeiten nicht mehr gesehen. Die emotionale Dimension wird zur realen Hürde um institutionelle Hilfe zu erhalten.
Vor rund 20 Jahren sind meine Eltern mit ihrem Unternehmen in die Insolvenz gegangen. Ich habe sie damals mit 250.000€ finanziell gestützt. Es gab aber ein rechtliches Problem. Obwohl ich bei meinen Eltern angestellt war, wurde mir Selbständigkeit unterstellt. In Deutschland (ich bin aus Deutschland) bedeutet das: Notstandshilfe etc. gibt es nur für Unselbständige. Bei mir gab es ein Prüfungsverfahren, das ein Jahr lang gedauert hat. Das hieß: ein Jahr lang kein Arbeitslosengeld, keine Notstandshilfe, keine Krankenkasse und irgendwie durchschlagen. Seitdem habe ich mir nie wieder einen Polster aufbauen können.
Ein paar Jahre später kam ein Unfall meines Sohnes dazu. Die Kosten, die dafür bisher privat angefallen sind, liegen bei derzeit 55.000€. In den letzten Jahren war die Auftragslage wegen Corona nicht ideal und aktuell blieb mir im Zuge der Signa-Group Pleite ein Unternehmen 8.000€ schuldig.
Die emotionale Belastung ist groß, wenn die nächste Klassenreise ansteht und 1.000€ dafür aufgestellt werden müssen oder die Waschmaschine kaputt ist oder der Sohn am Montag in der Früh noch 10€ für die Schule braucht und grad kein Bargeld im Haus ist. Es ist ein Vorurteil, dass jemand, der selbständig ist, im Geld schwimmt. Bei vielen EPUs (Ein-Personen-Unternehmen) geht es tagtäglich um´s Überleben. Und es gibt rund 160.000 EPUs in Österreich. Da stellen Unternehmen oft tolle Projekte auf die Beine bei einem Stundensatz von 2€, nicht 10€ oder mehr.
Ich sage mir, wenn meine Gedanken wieder um das persönliche Versagen kreisen: „Ich bin nicht meine Gedanken.“ Ich kann etwas. Ich frage mich: Wo habe ich eine Einflussmöglichkeit? Ich kann um Hilfe bitten. Ich kann lernen, um nicht im Tal der Tränen zu bleiben.
Ich kann mir die Frage stellen: Was habe ich (erreicht) und an Kompetenzen und Fähigkeiten? Ok., ich kann nicht chinesisch, aber Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch. Ok., Ich habe falsche Entscheidungen getroffen, aber ich habe Organisationstalent, ich kann Menschen vernetzen… Ich kann den Fokus setzen auf das, was positiv ist. Das ist ein mentales Thema. Aus der Opferhaltung heraus. Die Situation akzeptieren. Ich muss mich selbst als positiven Täter sehen, meine Selbstwirksamkeit wahrnehmen. Eine Aktion setzen.
Und dann ist da noch die Sache mit der Co-Abhängigkeit: Bewege ich mich in einem Umfeld mit guten Geschichten, dann komme ich da raus, wenn alle nur über ihre Situation sudern, ist es schwer.
Meine Zukunftshoffnung ist die: Meine eigenen Fähigkeiten generieren für andere einen Mehrwert, sodass ich davon leben kann. Eine Situation, dass ich nicht nachdenken muss, ob ich mit den Kindern auf Schiurlaub fahren kann. Dass eine 1.000-2.000€ Investition möglich ist und ich nicht ständig Löcher stopfen muss.
Mit meinem Wissen von heute würde ich es nicht mehr so machen wie damals. Aber ich habe vieles erlebt, was ich nicht missen möchte und Menschen kennen gelernt. Ich bin nach Österreich gezogen, habe meine Frau kennen gelernt, ich hätte meine Kinder nicht, wenn es anders gekommen wäre…. Ich habe auch viel gelernt in der Zeit.
Man lernt. Man erwirbt aber auch Kompetenzen. Z.B. wie etwas billig geht. Nicht alles muss man kaufen. Vieles kann man ausborgen. Manches kann man gemeinsam nutzen, oft gibt es billigere Alternativen oder man trifft Agreements, denkt an Ad ons, an win-win Lösungen für beide Verhandlungspartner.
Um die Situation für Menschen in prekären Situationen zu verbessern, würde ich die Kosten durch den Staat, das was an unbedingt notwendigen Ausgaben da ist, reduzieren. Z.B. die Kosten für die Schule. Denn jedes Kind muss in die Schule gehen. Aber auch z.B. die Kosten, die anfallen, wenn man sich einen Ausweis ausstellen muss. Denn jeder braucht einen Ausweis. Den Gesundheitsbereich würde ich beitragsfrei gestalten für alle, die keine Steuern zahlen müssen und bei den Energiekosten würde ich mehrere Tarifmodelle anbieten wie bei den Handys. So dass jemand, der wirklich Kosten reduziert und durch sein Verhalten wenig verbraucht, auch nur merkbar wenig zahlen muss. Und für Alleinerziehende würde ich einen staatlichen Unterhaltsfonds einrichten, wie in Belgien. Dann bekommt man von dort automatisch das Geld für die Kinder und muss nicht mit dem Ex-Partner streiten und dort auch noch Energie verschwenden.
Außerdem habe ich noch einige weitere Vorschläge:
1. Micropayments:
Die Potentiale von Micropayments: Heute ist es technisch keine Hürde mehr, kleinste Zahlungen im Millisekundentakt zu tätigen. Insofern ist es heute nicht mehr nötig, Batch-Zahlungen auf einen Schlag durchzuführen. Solche „größere“ Summen können manche Menschen überfordern. Beispiel Mietzahlungen. Am Monatsende stehen 600 Euro zu Buche, die gezahlt werden müssen. Würde man dafür einen Kredit aufnehmen und diesen stundenweise zurückzahlen, hätte man das Prinzip des micropayments. Anstatt am 1. Des Monats 600€ auf einen Schlag zu zahlen, zahlt man einfach jeden Tag 20€ oder jede Stunde 0,83€. Selbiges Prinzip ließe sich auch auf eingehende Zahlungen anwenden: Gehälter, Steuern etc.
2. Mahnspesen:
„Meine Tochter hat versehentlich zu viele Weihnachtsgeschenke gekauft. Ihr haben folglich am Konto 0,21€ gefehlt, um ihre Mobilfunkrechnung zu bezahlen. Jetzt darf sie eine Buchungsgebühr an die Bank zahlen, weil die Abbuchung nicht möglich war, eine Fehlbuchungsgebühr an den Provider, eine Strafgebühr, eine Mahngebühr und Strafverzinsung. Insgesamt fast 60€.“
Mahngebühren und Strafverzinsungen, die Leute abschrecken sollen, säumige Zahler:innen zu werden, sorgen bei Menschen, die sich in einer prekären Lage befinden, ganz schnell für eine sich rasant abwärts bewegende Schuldenspirale, aus der sie nur mit einer Privatinsolvenz wieder rauskommen. Ist man über eine Schwelle drüber, kommt man kaum mehr wieder raus. Es ist, wie im Wasser in eine unbekannte Strömung zu kommen. Hier braucht es einen anderen Mechanismus, der auf der einen Seite den erzieherischen Charakter hat, nicht leichtsinnig Schulden zu machen, der Unternehmen ihre Ausfälle kompensieren lässt, der die Schwelle der Verschuldungsspirale in weitere Entfernung rücken lässt.
Unternehmen tun sich selbst keinen Gefallen, wenn Kunden in diese Verschuldungsspirale kommen, denn diese Kunden werden ihnen schnell komplett wegfallen und die Forderungen können sie gleich abschreiben. Deshalb bieten viele verantwortungsbewusste Unternehmen ihren Kunden, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind, oftmals auch sehr kulante Unterstützungen. Das wird leider nicht gut kommuniziert. Die meisten Menschen an der Office Front und im Call Center wissen nichts davon. Von den Menschen, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind, ganz zu schweigen. Die reden viel zu spät mit den Unternehmen. Meistens erst, wenn sie voll über der Schwelle drüber sind. Weil es ein schambehaftetes Tabuthema ist und die Unternehmen ihr Entgegenkommen nicht an die große Glocke hängen. Zudem wird von der Gesellschaft knallhart erwartet, dass Unternehmen herzlos mit Kund:innen umgehen würden.
3. Bündelung staatlicher Leistungen im voll zu versteuernden Bürgergeld,
das über der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Für Menschen bis 21, für Menschen ab 60, für Menschen, die selbst keinen Unterhalt erwirtschaften können (wegen Krankheit, Verhinderung, Beeinträchtigung, etc.). Bei Kindern vom Alter her steigend. Wenn jemand das Bürgergeld bekommt, der nichts verdient, wird er/sie unter der Besteuerungsgrenze liegen. Bekommt es jemand, der schon etwas hat, werden darauf Steuern zu zahlen sein. Beispiel Rente. Die Armutsgefährdungsgrenze liegt in Österreich bei 1.392,00 Euro. Setzen wir das Bürgergeld bei 1.670 Euro an, die monatliche Besteuerungsgrenze bei 2000,00 Euro. Eine Pensionistin würde also 1.670 Euro an „Basisrente“ bekommen. Zuzüglich ihrer eigentlichen Pension, sagen wir mal 1.200 Euro. Zuzüglich anderer Einnahmen wie Zinsen. Sagen wir, sie käme im Monat dann auf 3000 Euro. Nach Abzug des Steuerfreibetrages würde sie auf 1000 Euro Steuern und Sozialversicherungen zahlen. Bei Menschen im niedrigen Einkommenssektor wäre das also nicht so gravierend. Bei reicheren Menschen würde das Bürgergeld über die Besteuerung also wieder zurückgeholt werden.
Basis für diese Idee ist die Modern Money Therapy, die besagt, dass der Staat den Bürger:innen und Unternehmen das Geld zur Verfügung stellt (das Geld also dem Staat gehört), mit dem diese wirtschaften können. Über die Besteuerung holt sich der Staat das Geld wieder zurück.
4. Gleitende Besteuerung:
Bisher muss man aufgrund dessen, was man in den letzten 12 Monaten verdient hat, Steuern zahlen. Mit einem komplizierten Mechanismus kann man bei Verlusten im Vorjahr diese steuerlich auf die aktuelle Steuerschuld anrechnen. Aber das passiert nicht automatisch. Praktischer für Menschen, insbesondere in prekären Situationen, wäre eine gleitende Besteuerung, in der das Einkommen, das man bisher im Leben erwirtschaftet hat, als Basis für die Besteuerung herangezogen wird. Wenn man also 10 Jahre unter der Steuerbefreiungsgrenze gelebt hat, und jetzt mal ordentlich Geld verdient, zahlt man weniger. Hat man früher immer gut verdient und viele Steuern gezahlt, liegt jetzt aber unter der Besteuerungsgrenze, zahlt man trotzdem Steuern.
5. Inflationsbekämpfung/Verhinderung der Lohn-Preis-Spirale:
Bekannt ist: Höhere Löhne führen zu höheren Preisen, führen zu höheren Löhnen, führen zu höheren Preisen … . Statt einer pauschalen Lohnerhöhung von z.B. 10% für alle Mitarbeitenden eines Unternehmens wäre es besser, jedem Mitarbeitenden pauschal 400 Euro mehr zu geben und die allgemeine Lohnerhöhung auf 4% zu setzen. So würden die Kosten für das Unternehmen bei nur ca. 6% statt 10% liegen, die Mitarbeitenden im unteren Einkommensbereich hätten deutlich mehr Lohn und diejenigen, die im oberen Lohnbereich liegen, hätten immer noch mehr, aber brauchen das ja eigentlich nicht zum Überleben.
Für Selbstständige hatten Wissenschaftler:innen einen Mindestlohn angedacht, indem Mindeststundensätze für Unternehmen skizziert werden, die nicht unterschritten werden dürfen, wenn sie einem Kunden Leistungen verrechnen. Sie plädierten für 21 Euro/h.
6. Ausfallbürgschaft
Als „hermes Bürgschaft“ der Stadt Hamburg für Unternehmen bekannt. Der Ursprung stammt aus der Zeit des kalten Krieges. Geschäfte mit dem Osten galten als ziemlich unsicher, insbesondere, da gerne mal mit „Containerladungen voll linker Schuhe“ bezahlt wurde. Wenn du also mit der UdSSR ein Geschäft machen wolltest, dafür einen Kredit benötigt hast, ist die Stadt als Ausfallbürge aufgetreten und so wurde die Kreditlinie des Unternehmens nicht belastet. Also statt dass die Stadt selbst einen Kredit gegeben hat oder dem Unternehmen eine Förderung geschenkt hat, hat sie es nur unterstützt, auf dem Kapitalmarkt zu einer akzeptablen Verzinsung Geld zu bekommen.
Nur in den seltensten Fällen konnten die Unternehmen in der vereinbarten Laufzeit ihre Kredite nicht zurückzahlen und die Stadt musste als Bürge einspringen. Der Kapitalaufwand der Stadt so wie das finanzielle Risiko waren also nur sehr gering.
Bezogen auf arme Menschen könnte man also Folgendes machen. Mit Unterstützung der Schuldnerberatung versucht man, seine Finanzen in den Griff zu kriegen: Ausgaben senken, Einnahmen erhöhen, mit Gläubigern reden. Wenn sich dann eine Liquiditätslücke auftun sollte, bekommt die Person eine Ausfallbürgschaft der Gemeinde, mit der diese Person bei der Bank einen attraktiven Überbrückungskredit bekommt, den sie später wieder zurückzahlen muss. Die Gemeinde legt dafür einen Notfallfonds auf, um im Fall der Fälle die Bürgschaften zahlen zu können. Wird die Bürgschaft gezogen, die Person kommt in den darauffolgenden 20 Jahren aber zu „Reichtum“, muss die Summe schrittweise zurückgezahlt werden.
7. Schulden nicht vererben
Dass man Schulden vererben kann, ist auch ein großes Problem. Das Geschrei ist immer groß, wenn jemand ein Vermögen erbt, dass man dann in Form von Steuern mitnaschen will. Wenn man aber einen Batzen Schulden erbt, kommt man nur dadurch da raus, dass man das Erbe ausschlägt. Da wäre es eigentlich nur fair, wenn man hier eine kompensierende Unterstützung leisten würde, die es ermöglicht, die Schulden tragen und zurückzahlen zu können, diese zu reduzieren. Denn was können die Kinder dafür, was ihre Eltern angestellt haben.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.