Der diesjährige G7 Gipfel, zu dem auch eine Reihe weiterer global Player – Indien, Indonesien, Vietnam u.a. - eingeladen waren, fand in Hiroshima statt. Dieser symbolträchtige Begegnungsort wurde mit Bedacht gewählt. Er spannt einen Bogen von der Katastrophe 1945 zur gegenwärtigen Kriegs- und Krisensituation:
Mehr als 500 Tage dauert schon der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine: Kriegsverbrechen, tausende zivile Opfer, Zerstörung von Kulturgütern, die Öko-Katastrophe des Kachowka-Staudammes… Ein Zermürbungskrieg droht in den besetzten Gebieten der Ukraine. Dazu das gefährdete Kernkraftwerk Saporischja und die unverhüllten, immer wieder geäußerten Drohungen Russlands mit seinem Atomwaffenpotential.
Laut der Atomkriegsuhr (doomsday clock) wurden die symbolischen „5 Minuten vor 12“ im Jahr 2023 mit einem Wert von „90 Sekunden vor 12“ angegeben. In den frühen 1990er-Jahren lag der Wert noch um ein Vielfaches höher. Durch den russischen Angriff auf die Ukraine stieg die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen; nach Einschätzungen von Expertinnen und Experten war die Gefahr eines Atomkriegs noch nie so hoch wie bisher.
Für das vergangene Jahr 2022 verzeichnet der SIPRI-Bericht einen Anstieg der globalen Rüstungsausgaben von 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr., die höchste Steigerung seit den 1960er Jahren.
Das diesjährige Gutachten der deutschen Friedensforschungsinstitute prognostiziert, dass der Krieg gegen die Ukraine noch lange dauern werde.
Weiter denn je scheinen wir zur Zeit entfernt von einer Welt ohne (Atom)Waffen. Im Gegenteil konstatiert das Gutachten einen neuen Rüstungswettlauf und die Bereitstellung von immer mehr Atomwaffen, während Rüstungskontrollabkommen aufgekündigt werden.
Zudem werden die Gesellschaften weltweit von Krisen erschüttert: Pandemie, Klimawandel und Extremwetterereignisse. Die Zahl der Gewaltkonflikte, an denen oft genug nicht-staatliche, irreguläre Milizen und Rebellenguppen beteiligt sind, wächst.
In Europa erleben wir das Erstarken rechter und rechtsradikaler Bewegungen, die z.T. Regierungsverantwortung übernommen haben. Die westlichen Gesellschaften sind von zunehmender Spaltung bedroht. Gezielte Desinformation, Verschwörungstheorien und Fake News haben maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung. Das Modell der liberalen und sozialen Demokratie ist weltweit herausgefordert.
Die Chancen
Erinnerung an Hiroshima ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen nicht nur ein Gebot der Stunde. Und sie muss Impuls sein, Rüstungskontrolle und Friedenspolitik neu zu denken. Es ist notwendig, die Ukraine weiterhin mit humanitärer Hilfe, aber auch mit Waffensystemen zu unterstützen. Zugleich müssen jedoch Verhandlungen zu Waffenstillstand und Frieden vorbereitet werden. Die FriedensforscherInnen schlagen eine internationale Kontaktgruppe vor, in der auch Initiativen und Akteure aus nicht-westlichen Staaten – etwa China, Indien, Brasilien oder Südafrika – mitwirken sollen. Diese sollte Verhandlungsschritte und Lösungsmöglichkeiten erarbeiten.
Der Fokus der internationalen Politik muss darüber hinaus auf die Entwicklung im Globalen Süden ausgeweitet werden. Es braucht - angesichts von Dürre- Hunger- und Flutkatastrophen, der rasanten Zunahme von Flucht- und Migrationsbewegungen, der zunehmenden Gewalt und der externen Einflussnahme in den rohstoffreichen Regionen des Südens - eine Neudefinition von Entwicklungszusammenarbeit.
Das bedeutet: Kooperation mit demokratischen Kräften auf Augenhöhe, Zusammenarbeit mit lokalen NGOs und internationalen Organisationen. Humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensbildung müssen in einen Gesamtkontext des öko-sozialen und demokratischen Wandels eingebettet werden. Weiters sind Perspektiven für eine geregelte Migration erforderlich, die Menschen aus den Ländern des Südens faire Chancen eröffnen, in Europa studieren, leben und arbeiten zu können. Migration als Austausch und Lernerfahrung für beide Seiten ist nicht Bedrohung, sondern Bereicherung.
Angesichts dieser Vielfalt an Herausforderungen ist zivilgesellschaftliches Engagement weltweit ein Gebot der Stunde: gegen den Angriffskrieg in der Ukraine und für rasche Aufnahme von Verhandlungen, für effiziente Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Erhaltung der Biosphäre, für soziale und ökologische Gerechtigkeit und für Demokratie – auch in Europa.
Was uns Mut machen kann, ist ein Blick über die Grenzen unseres kleinen Kontinents: zu den Menschen und der Zivilgesellschaft im Iran oder in Israel, die seit Monaten aufstehen für Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit. Und wir müssen auch begreifen, dass Frieden, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie nicht selbstverständlich sind, dass es notwendig ist, sich immer wieder aktiv dafür einzusetzen.
Dieser Beitrag wurde für die KA anlässlich des Hiroshima-Gedenkens der Friedensbewegung am 6. August am Stephansplatz verfasst.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.