Reizklima
Was mich derzeit vor allem ängstigt, ist der politische Diskurs in unserem Land. Die Gehässigkeit ist nicht zu überbieten. Da gewinnt ein Außenseiter die Wahl zum Vorsitz der sozialdemokratischen Partei, obwohl das viele seiner „Parteifreunde und Freundinnen“ zu verhindern versuchten, indem sie mühsam Aussagen aus vergangenen Tagen ans Licht beförderten, die ihm schaden könnten. Eine davon war sein Bekenntnis dazu, dass Karl Marx eine gute Brille liefert, um auf die Gesellschaft zu schauen. Und schon stürzten sich Medienleute, politische Mitbewerber und die gesamte analoge und digitale Öffentlichkeit auf ihn – also sicher großteils Leute, die von Karl Marx nur ein paar aus dem Zusammenhang gerissene Phrasen kennen, wie z.B. „Diktatur des Proletariats – Religion als Opium für’s Volk – Vergesellschaftung der Produktionsmittel usw.“ Dass Karl Marx ein großer Denker war, der auch seine Gegner maßgeblich beeinflusst hat und nach dem Religion, Politik und Wirtschaft nicht mehr gleich gedacht werden konnten, wie vor ihm, kam nie zur Sprache. Dabei sagte sogar der Doyen der christlichen Soziallehre, der Jesuit Oswald von Nell Breuning: „Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx“. Und auch Marxs Religionskritik hat bedenkenswerte Seiten, wenn er sagt: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist, geistloser Zustände ist, sie ist das Opium des Volkes.“ Denn es war ja eines der größten Versagen des Christentums, den geschundenen Teil der Menschheit auf’s Jenseits zu vertrösten, damit sie die unerträglichen Zustände hier ohne Rebellion ertrugen. Unsere Journalistinnen und Journalisten, unsere Politikerinnen und Politiker haben allerdings nichts Anderes zu tun, als Marx mit Stalin, Pol Pot, Kim il Sung und ähnlichen gleichzusetzen, die sich zwar auf ihn beriefen, aber schon gar nichts mit dem Denkgebäude von Karl Marx zu tun haben. Besonders auffällig in ihrer Polemik tat sich da die Niederösterreichische Landeshauptfrau hervor, die ihrerseits mit einer Partei koaliert, deren reale Nähe zum Gedankengut der Nationalsozialisten in keiner Weise geleugnet werden kann.
Mich empört es gleichermaßen, wenn man Marxist als Schimpfwort benutzt, wie ich es unerträglich finde, wenn Leute, die vom spirituellen Denkgebäude des Christentums keine Ahnung haben, vordergründig wegen der grauenhaften Verfehlungen einzelner „Würdenträger“ die gesamte Religion und jene, die Nachfolge Christi wirklich leben, diffamieren.
Das führt mich allerdings gleich zu einer dieser unentschuldbaren Verfehlungen in letzter Zeit. Dass die italienische Öffentlichkeit den Tod eines der Totengräber der italienischen Demokratie, Silvio Berlusconi wie das Ableben eines Staatsmannes begeht, ist schon sehr zynisch. Dieser Mann hat der politischen Kultur dort den Todesstoß versetzt, er hatte Mafiakontakte, war mit dem rechtsextremen Chef der Loge P2, die in Attentate verstrickt war, eng befreundet, hat die italienischen Medien zerstört, seine Freunde bei obskuren Festen mit minderjährigen Frauen versorgt, usw. und was sagt dazu Kardinal Camillo Ruini „Er war sympathisch, er hat an Gott geglaubt, er hat die Erben der Kommunisten besiegt“, zugestanden hat der Kardinal allerdings, dass Berlusconis Verhalten Frauen gegenüber nicht immer über jeden Zweifel erhaben war. Wer solche Männer an der Spitze einer Religionsgemeinschaft hat, braucht sich über die Verabschiedung von Kirchenmitgliedern nicht zu wundern.
Die Gehässigkeit und sprachliche Verrohung des öffentlichen Lebens versetzt mich nicht nur in Angst, sie macht mich auch traurig. Wer angesichts der bedrohlichen Klimaphänomene, sich einzig über Aktivitäten besorgter junger Menschen empört, die mit ihren Aktionen den Individualverkehr behindern, der verschließt Hirn, Augen, Ohren und Nasen vor dem, was unsere Zukunft wirklich bedroht. „Klimakleber“ als Schimpfwort lässt vergessen, was diese Leute fordern, denn das ist wirklich vernünftig und sofort erreichbar – Tempolimits für den Individualverkehr! Das bringt deutliche CO2 Einsparungen und sicherere Verkehrsbedingungen. Aber „freie Fahrt für freie Bürger“ scheint ein übergeordneter Wert zu sein. Es ist dieser völlig verfehlte Freiheitsbegriff vieler Menschen, dem ja auch die EU huldigt – die Freiheit des Waren- Geld- und Personenverkehrs, der alles andere überdeckt. Die Freiheit eines guten Lebens für alle, muss diesen Freiheiten untergeordnet werden. Außerdem gelten auch diese nur für EU Bürgerinnen und Bürger, denn die freie Fahrt aller andern, vor allem, wenn sie aus armen Ländern kommen, wird immer massiver beschränkt und unmöglich gemacht.
Man darf gar nicht daran denken, dass das „mare nostrum“ das Mittelmehr zu einem Massengrab jener Menschen geworden ist, die auf der Suche nach einem erträglichen Leben, jede Gefahr auf sich nehmen und von skrupellosen „Transporteuren“ abgezockt werden. Wenn jeder der 700 Personen, deren Schiff vor Griechenland untergegangen ist, nur 2.000 € für die Überfahrt bezahlt hat, so haben die Schlepper, die den Tod dieser Menschen bewusst in Kauf genommen haben, 1,400.000 € allein für dieses Schiff kassiert. Es ist völlig verrückt, dass z.B. in die Forschung künstlicher Intelligenz ungeheuer viel Gehirnschmalz fließt, aber sehr wenig ernsthafter Austausch zwischen Wissenschaft und Politik dazu herrscht, wie wir Fluchtbewegungen eindämmen, zugewanderten Menschen gute Integrationsmöglichkeiten bieten und legale Zuwanderung, nicht nur von gut ausgebildeten Menschen, sondern von allen, die hier Arbeitsmöglichkeiten suchen, fördern. Noch dazu, wo wir diese Zuwanderung auf allen Ebenen dringend brauchen.
Und über all dem lastet der Krieg in der Ukraine, der allerdings nur einer von vielen derzeitigen Kriegen auf unserem Planeten ist. Dieser Rückfall Europas in die Barbarei, zweifellos von Putin angezettelt, wird nur Verlierer haben und es darf nicht verboten sein, an Möglichkeiten zu seiner Beendigung zu denken. Denn die Ukraine wird immer an Russland grenzen und es muss auch andere Wege als die der alles vernichtenden Gewalt geben, damit die Menschen dort in Sicherheit leben können. Der Nationalismus als alle Not und Elend überdeckende Klammer wird diesem zerstörten Land auf Dauer keinen Frieden bringen. Die Bankrotterklärung der Zivilisation verdanken wir Putin, aber wir dürfen uns nie auf die gleiche Ebene begeben, wo außer Vernichtung, kein Ausweg möglich ist.
Es sind also viele Krisen, die uns gleichzeitig treffen, Angst erzeugen, die in Aggression umschlägt und die Sehnsucht nach einfachen Lösungen wachrufen und uns nach Sündenböcken suchen lassen. Aber ich bin der Überzeugung, dass sich die vielfältigen Krisen nur solidarisch lösen lassen, das heißt für mich, dem herrschenden „Reizklima“ zu widerstehen. Die Gereiztheit in der öffentlichen Diskussion, im Privaten, in Verkehrsmitteln, in der politischen Auseinandersetzung kann sehr leicht von Demagogen missbraucht werden – und wird es auch. Ich möchte so gerne mit anderen dagegen Widerstand leisten.
Menschenfreundlichkeit, Achtsamkeit und Solidarität mit all jenen, die ihrer bedürfen, als widerständige Grundhaltung gegen dieses vorherrschende Reizklima, das können wir, die bei den derzeitigen destruktiven Spielen nicht mittun wollen, gemeinsam einüben. Denn eines ist gewiss „wir sind viele“ und wir sollten uns denjenigen, die glauben, die Welt von gestern mit allen Mitteln aufrechterhalten zu können, entgegenstellen. Denn in deren Logik bleiben nur gewaltsame Lösungen – wollen wir die?
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.
Übrigens:
Wir freuen uns, dass unsere Bloggerin Traude Novy vom Verein "Südwind" mit dem Preis "Die Seglerin" für ihr langjähriges Engagement in der Entwicklungspolitik und für Gerechtigkeit in der Welt geehrt wurde ...