Fundamentale Irrwege
Der erste Durchgang der Wahlen in Brasilien hat deutlich gemacht, dass die überwiegende Mehrheit der dortigen Bevölkerung dazu bereit ist, das Amazonasbecken und die indigene Bevölkerung dem vordergründigen Wohlstand zu opfern. Teils um ihre ererbten Privilegien zu sichern, teils aus Unwissenheit über die Folgen ihres Handelns stimmten sie bei den parallel zu den Präsidentschaftswahl laufenden Senats- und Gouverneurswahlen mit großer Mehrheit für die Anhänger Bolsonaros. Das ist keine innerbrasilianische Tragödie, denn vom Erhalt des Ökosystems in diesem 5-größten Land der Erde hängt unser aller Zukunft ab. Ich bin mit Brasilien familiär verbunden und deshalb verfolge ich das politische Geschehen dort intensiv. Alle halbwegs vernünftigen und mit ein wenig Verantwortungsgefühl ausgestatteten Menschen haben gehofft, dass die Wahlen eine Veränderung der desaströsen Verhältnisse bringen würden. Brasilien hat den ersten Wahlgang hinter sich und das Ergebnis hat uns, viele Menschen im Lande und auf der ganzen Welt schockiert. Sollte also Ignacio- Lula da Silva Präsident werden, was noch immer wahrscheinlich ist, sind ihm die Hände gebunden, denn er kämpft in allen Gremien gegen eine überwältigende Mehrheit von Bolsonaro-Parteigängern.
Wie konnte es dazu kommen? Brasilien, die Heimat der Befreiungstheologie, wo sich selbstorganisierte Basisgemeinden schon in den 1960er Jahren, inspiriert vom 2. Vatikanischen Konzil auf den Weg gemacht haben, ihre Gesellschaft zu verändern. Ihre Vertreter wie Leonardo Boff, Gustavo Gutierrez, Jon Sobrino und viele andere, haben Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika inspiriert und der katholischen Kirche Europas wesentliche Impulse gegeben. Sie haben die bedeutenden Theologen und Theologinnen dieser Aufbruchszeit, wie Dorothee Sölle, die südkoreanische Befreiungstheologin Chung Hyun Kyung, Johann Baptist Metz, Karl Rahner und vielen mehr, ihren Stempel aufgedrückt. Auf ihren Erkenntnissen baute die feministische Theologie auf.
Der politische Einfluss der Befreiungstheologie war in Brasilien, aber auch in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern groß. Die Arbeiterpartei (PT) und die Landlosenbewegung stützten sich in diesem durch und durch katholischen Land auf die Organisationsform der Basisgemeinden. Auf der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellin hat sich die ganze Kirche dieses Kontinents auf den Weg zu einer wirklich armen, missionarischen und österlichen Kirche gemacht. Die Option für die Armen wurde zur Grundlage christlicher Spiritualität. Eine selbstbewusste Bewegung der Armen entstand – das konnte von den herrschenden postkolonialen Eliten in diesem Teil der Erde nicht hingenommen werden. Noch weniger wollten allerdings die USA akzeptieren, dass andere als kapitalistische Gesellschaftsmodelle in ihrem Hinterhof Fuß fassen sollten und sie hatten ihre Methoden. Mit sehr viel Geld wurden evangelikale „Missionare“ in Brasilien eingeschleust. Die Gebetshäuser dieser „Erneuerungsbewegungen“ schossen aus dem Boden. An allen Ecken und Enden sah man sie und sie hatten enormen Zulauf, denn der Weg, der mit der Befreiungstheologie zu gehen war, war ein steiniger Weg durch die Wüste einer mächtigen Sklavenhaltergesellschaft und im Widerstand zu dieser. Die neuen Gruppierungen hingegen wollten an den Zuständen nichts ändern, sie waren das, was schon Karl Marx der Religion vorgeworfen hatten „Opium für’s Volk“. Dennoch gab es Bollwerke gegen diese neuen Strömungen. Helder Camara, der Erzbischof von Recife, Paulo Everisto Arns, der Erzbischof und Kardinal von Sao Paulo und Pedro Casadaligas in Sao Felix und auch Erwin Kräutler aus Österreich.
Und hier beginnt aus meinen Augen die Schuld der Verantwortlichen der Katholischen Kirche. Papst Johannes Paul II. hatte das unterdrückerische kommunistische Regime in Polen als seinen Erfahrungshintergrund und schaffte es, nicht ohne die Unterstützung der USA, den sowjetischen Koloss ins Wanken zu bringen. Er war eine charismatische Persönlichkeit, ein schöner Mann, aber seine Religiosität war, bedingt durch das Leben hinter dem Eisernen Vorhang in weiten Teilen eine Vorkonziliare. Und so kam es, dass er in Lateinamerika - und nicht nur dort – versuchte, um den fundamentalistischen evangelikalen Bewegungen etwas entgegensetzen zu können, ähnliche Spiritualität im katholischen Bereich zu stärken. Er trieb einen Umbau der dortigen Kirche hin zu vorkonziliaren Strukturen voran. Auf Grund seiner Erfahrungen in Polen, wollte er jegliche sozialistische Gesellschaftsmodelle innerhalb der Kirche im Keim ersticken und er ordnete die Befreiungstheologie in seinem begrenzten Weltbild als eine solche ein. Das sichtbarste Symbol dafür war es, als er Ernesto Cardenal die Hand entzog, als dieser seinen Ring küssen wollte. Statt mittels der Basisgemeinden und ihrer Vertreterinnen und Vertreter ein Gegengewicht zu den von den USA eingeschleusten reaktionären evangelikalen Strömungen zu setzen, beraubte er sie ihrer führenden Persönlichkeiten. Die Bischöfe der Befreiungstheologie wurden entmachtet und in Pension geschickt und durch linientreue, dem obrigkeitsstaatlichen Denken verhaftete ersetzt. Die meisten Basisgemeinden zerfielen, die einst mächtige Katholische Kirche Brasiliens versank in die Bedeutungslosigkeit.
Und damit schließt sich der Kreis. Bolsonaro stützt seine Macht, trotz seines durchaus nicht entsprechenden Lebenswandels, ähnlich wie Trump auf die christlichen Fundamentalisten und Fundamentalistinnen, die mittlerweile die religiöse Macht im Staat übernommen haben – denn er ist ja für die Bestrafung der Abtreibung und das scheint für diese Gruppierungen das Wichtigste zu sein. Sein zweites Standbein ist die Agrarlobby – die Nachkommen der ehemaligen Sklavenhalter hat er ja sowieso auf seiner Seite.
Also kann man sagen, ohne historisch falsch zu liegen, Johannes Paul II hat ein gerüttelt Maß Anteil daran, dass Menschen wie Bolsonaro an die Macht kommen konnten.
Um das zu verstehen, müssen wir gar nicht so weit gehen. Auch bei uns haben die Bischofsernennungen Johannes Paul II. , wie Kurt Krenn, Hans Hermann Groer, Alfons Stickler, Georg Eder, Klaus Küng, Andreas Laun, den Niedergang der Katholischen Kirche in Österreich eingeläutet. Das hat auch bei uns Folgen, denn das kritisch katholische Milieu, das sich davor vorwiegend in der österreichischen Volkspartei politisch betätigt hatte, ist weitgehend verschwunden. Das hat dazu geführt, dass diese Partei ihr soziales und ethisches Profil verloren hat.
Im Rückblick scheint es so zu sein, dass die Katholische Kirche mit der Entscheidung, sich von der Befreiungstheologie ab- und den fundamentalistischen Strömungen zuzuwenden, einen fundamentalen Irrtum begangen hat, dessen Folgen wir weltweit zu tragen haben.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen
