Sommerreminiszenzen
Dennoch konnte ich auch in diesem Sommer vieles genießen. Schwimmen im Teich, den morgendlich duftenden Garten, Besuche von Kindern, Freundinnen und Freunden. Man musste nur die Augen auch auf anderes lenken, trotz des Bedrohlichen, das uns umgibt. Geht das? Es muss gehen, wenn wir nicht in die Depression verfallen und handlungsunfähig werden wollen.
Deshalb sehe ich die vielen Kulturfestivals im ganzen Land, nicht als eine Ablenkung von dem Krieg mitten in Europa, vom Klimawandel und von all dem, was für uns alle daraus resultiert, sondern als Kraftquellen, um die Zukunft bewältigen zu können.
Ilja Trojanow hat dies bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele sehr deutlich gemacht. Er hat sich so wohltuend von dem abgehoben, was sonst öffentlich kommuniziert wird. Er lieferte den Beweis dafür, dass die Vieltönigkeit der Kunst uns davor bewahren kann, in die Sprache des Kriegs zu verfallen, die weder Schattierungen, Ambivalenzen und Nuancen zulässt, sondern nur das selbstgewisse Schwarz-Weiß - Ja und Nein kennt. Er brach eine Lanze für jene Künstlerinnen und Künstler, deren Vergehen es zu sein scheint, das falsche Heimatland zu haben. Es ist leicht, vom Hochstand des unberührten Beobachters heraus, wie Markus Hinterhäuser das benennt, von russischen Kunstschaffenden zu verlangen, ihre Existenz und die Sicherheit ihrer Familien aufs Spiel zu setzen indem sie als ethische Voraussetzung für künstlerische Betätigung öffentlich politische Schwarz-Weiß Bekenntnisse abliefern. Wer mit seiner Meinungsäußerung so gar nichts riskiert, hat kein Recht, Menschen in dieser massiven Zwangslage zu verurteilen.
Trojanow hingegen spannte in seiner Eröffnungsrede einen weiten Bogen von der bildungsbürgerlichen Grausamkeit, die sich nichts dabei denkt, den Schülerinnen und Schülern unserer Gymnasien Latein mittels Cäsars „De Bello Gallico“ beizubringen, was er als eine „Apologie des Massenmords“ bezeichnet, bis zu jenen ausbeuterischen Konzernen, die mittels Kultursponsoring „Ethikwashing“ betreiben. Besonders hob er dabei den Konzern Solway hervor, der das Kinder- und Jugendprogramm der Salzburger Festspiele finanzierte und gleichzeitig in Guatemala in einer Nickelmine die größten Umweltschäden anrichtete, die dort besonders das Leben von Kindern gefährdete. Es war aber auch kein Zufall, dass er als zweites Beispiel den Diamantenabbau in Sierra Leone anführte, der dort Umweltschäden, Verarmung und Bürgerkrieg fördert. Möglicherweise ist bei dieser Schilderung manchen Festgästen der Diamantschmuck etwas heiß geworden. Sponsoring kann nie wertneutral sein und künftig wird ein kritischer Blick darauf nötig sein, wer es ist, der die sogenannte Hochkultur ermöglicht.
Enttäuschend war dann für mich die Eröffnung durch den Bundespräsidenten, verfiel er doch in jene Schwarz-Weiß Malerei, die Trojanow zuvor kritisiert hatte. Wo Trojanow unser Wirtschaftssystem wegen seiner systematischen Gier massiv in Frage stellte, sah Van der Bellen nur Freiheit und Recht. Es war eine Wahlkampfrede und Kunst und Kultur kamen nicht vor. Der frenetische Applaus nach dieser Rede offenbarte doch ein wenig, dass viel Kleingeisterei im eleganten Äußeren dieses österreichischen Kultursommers 2022 steckt.
Aber auch die Corona-Pandemie hat uns noch fest im Griff. Ein Freundesehepaar erkrankte schwer und unser ältester Jugendfreund ist seit dieser Erkrankung an den Rollstuhl gefesselt. Tragisch ist dabei, dass die Ansteckung sichtlich bei ihrer Diamantenen Hochzeitsfeier in der Kirche passiert ist, weil Verantwortungsträger ungeimpft und leichtfertig mit der Ansteckungsgefahr umgegangen sind. Es trifft mich immer wieder, wenn ich höre, dass viele Priester ungeimpft sind und es mit den Masken auch nicht so genau nehmen. Außerdem gibt es unter ihnen auch echte Impfgegner, die den Gläubigen von der Impfung abraten. Das passt überhaupt nicht damit zusammen, dass maßgebliche Teile der Katholischen Kirche die Einführung der Bestrafung von Frauen nach einer Abtreibung in den USA begrüßten. Der achtlose Umgang mit dem Leben im Zusammenhang mit der Pandemie und die rigorose Einstellung zur Abtreibung offenbaren ein ziemlich verzerrtes Menschen- und Gottesbild.
Umso bedauerlicher ist es für mich, dass diese zunehmende Repression gegen Frauen überlagert wird von der an sich wichtigen Debatte rund um die Geschlechtsidentität. Dass dies ein breites Feld ist und Diskriminierung von Schwulen, Lesben und Transgender-Personen in einer freien Gesellschaft keinen Platz haben darf, sollte außer Streit gestellt sein. Die Unduldsamkeit aber, mit der die Debatte derzeit unter Feministinnen in den sogenannten sozialen, aber auch in allen anderen Medien geführt wird, befremdet mich.
Ich bin in den prüden 50er Jahren erwachsen geworden und einen langen Weg gegangen, bis ich öffentlich dazu stehen konnte Feministin zu sein. In meiner Altersgruppe gab es noch die scheel angesehenen „Emanzen“ und sich als Katholikin als Feministin zu bezeichnen, war mutig.
Mir haben die Weltfrauenkonferenzen des vergangenen Jahrhunderts die Augen geöffnet und ich erinnere mich noch an die heißen Debatten um das Wort „Gender“ das bis heute in manchen katholischen und rechten Kreisen verpönt ist. Dass es nicht nur ein biologisches, sondern auch ein soziales Geschlecht gibt, weil die Zuschreibungen an Frauen und Männer und ihre Möglichkeiten in der Gesellschaft, viel mit tradierter Sichtweise und wenig mit Biologie zu tun haben, verstehen manche bis jetzt nicht. Umso schmerzhafter ist es für mich zu sehen, dass die derzeitige Diskussion wieder tief im biologischen Sumpf gelandet ist. Ob jemand einen Penis hat, oder nicht, ob jene Person sich als Frau oder Mann bezeichnen darf, ob ich eine Frau bin, oder nur ein Mensch, der menstruiert, weil es ja auch Frauen gibt, die eine andere biologische Ausstattung haben und ich deshalb nur eine „als Frau gelesene Person“ bin, all das entzweit junge Feministinnen. Wer dazu eine kritische Meinung äußert, wird als „transphob“ oder TERF(Trans-Exclusionary Radical Feminism) bezeichnet, also als Feministin, die Menschen, die sich einem anderen als ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen, ausschließt. Über sie ergießt sich die Häme all jener, für die Geschlecht zwar verändert werden kann, die äußeren Geschlechtsmerkmale aber eine Bedeutung beimessen, die wir als aufgeklärte Menschen eigentlich überwunden glaubten. Ich sehe die Probleme jener, die ihre Geschlechtsidentität nicht mit ihrem biologischen Geschlecht in Einklang bringen und finde, dass alle so leben können sollen, wie es für sie stimmt. Aber den Kampf für gleiche Rechte für Frauen und Männer, für Lesben, Schwule Transgender und Asexuelle überall auf der Welt sollten wir nicht den Scheinkämpfen auf Nebenschauplätzen opfern. Das führt zu Intoleranz und einer geistigen Enge und überlässt das Feld der politischen Auseinandersetzung jenen, die sich darüber ins Fäustchen lachen, weil es ihnen ungehindert zu gelingen scheint, unsere Gesellschaft ins 19. Jahrhundert zurückzubilden.
Noch dazu, wo ich in meinem Erwachsenenleben – und das dauert nun schon, wie oben ersichtlich, sehr lange –noch nie mit solch multiplen Krisen konfrontiert war. Es geht, ohne es unnötig dramatisieren zu wollen, tatsächlich um das Überleben der Menschheit. Gleichzeitig tobt ein schrecklicher archaischer Angriffskrieg mitten in Europa – denn geographisch gesehen ist die Ukraine das Zentrum Europas.
In einer solchen Situation sind tiefgreifende Veränderungen der Politik und des Verhaltens jedes einzelnen Menschen unabdingbar. Ja, wir haben uns von russischem Gas gefährlich abhängig gemacht, aber hat das nicht genau den kapitalistischen Grundsätzen entsprochen, dort zu kaufen, wo es am billigsten ist? Ich will gar nicht wissen, wie Vertreter der For- Profit- Wirtschaft reagiert hätten, wenn ein österreichischer Energiekonzern zulasten seiner Aktionäre und Kunden aus geopolitischen Erwägungen heraus, teureres Gas eingekauft und viel Geld in die Nachhaltigkeit der Energieversorgung gesteckt hätte. Eine verantwortungsvolle Energiepolitik wäre nur möglich gewesen, wenn die Grundversorgung Energie in öffentlicher Hand geblieben wäre, aber das wurde ja zugunsten des Neoliberalen Dogmas „mehr privat – weniger Staat“ aufgegeben. Genau diese Situation, dass Grundversorgung privatisiert ist und europaweit die gleichen Wettbewerbsregeln gelten, macht ein Eingreifen der öffentlichen Hand besonders schwer. Aber auch in dieser Situation hindert niemand den Staat daran, Mindesteinkommen, Notstandshilfe und Sozialhilfe drastisch anzuheben und dafür von der nicht mehr so kleinen Schicht der Überreichen, Erbschafts- und Vermögenssteuer einzuheben.
Ich finde es beschämend, dass sich die ÖVP zum Sprachrohr jener macht, die nicht wissen, wohin mit ihrem Reichtum und unter anderem in Immobilien investieren, die dann die Preise von Wohnungen so hinauftreiben, dass sie unleistbar werden. Aber es sind nicht alle gleich. Die junge Millionenerbin Marlene Engelhorn hat sich an die Spitze jener gesetzt, die für mehr soziale Gerechtigkeit eintreten und ruft laut: Besteuert mich doch endlich. Denn es ist ein großer Unterschied, ob reiche „Philanthropen“ einen Teil ihres Vermögens für soziale Zwecke spenden, oder ob es dem Staat zur Umverteilung zur Verfügung gestellt wird. Denn die individuelle Wohltätigkeit richtet sich immer danach, was dem Spender persönlich wichtig ist und nicht danach, was dem Gemeinwohl am besten dient.
Dazu passt ganz gut, dass der vielgelobte deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck immer sagt: „Wir werden alle ärmer werden.“ Nein, das stimmt nicht, die Krise trifft vor allem jene hart, die vorher schon kaum das Auslangen hatten und zwingt einen Teil des Mittelstandes zu Einschränkungen. Aber für die gut Verdienenden, die Erbinnen und Erben von Geld und Immobilien, bedeutet die Teuerung derzeit nur, dass sie halt einen kleineren Teil ihrer Einkünfte investieren können. Ja, es soll sogar welche geben, die von der Teuerungskrise profitieren. Die Rede davon, dass wir alle ärmer werden, verschleiert das Ungleichgewicht in unserer Gesellschaft. Und solange es so ist, dass sich nicht einmal eine grüne Umweltministerin drübertraut, etwas zu tun, was dem Klima gut täte und gleichzeitig auch dem Energienotstand mildern würde, nämlich Tempobeschränkungen für den Autoverkehr, sind wir von einer dem Gemeinwohl dienender zukunftsfähiger Politik noch ziemlich weit entfernt.
Ja, und da wäre ich nun dort angelangt, was mich und ich denke die meisten Menschen hilflos betroffen macht und was auf unser aller Seelen lastet. Der Krieg in der Ukraine. Die Frage, wie reagiert man auf diesen archaischen Überfall eines mächtigen Despoten auf ein Nachbarland? scheint für die meisten europäischen Politikerinnen und Politiker geklärt zu sein. Dieser Despot muss besiegt werden, koste es was es wolle. Und da kommen in mir Zweifel hoch. Ich stelle mir die Frage nach dem Preis, wenn dieser Krieg wirklich, wie die meisten Militärs sagen, noch sehr lange dauern wird. Sind sich all jene, die für die Eskalation des Krieges eintreten, sicher, dass die Ukraine sich eine bessere Verhandlungsbasis schaffen kann? Was wird dann aus den Menschen in diesem Land? Welche nicht wieder gut zu machende Zerstörungen an Körper, Geist und Hab und Gut werden zurückbleiben? Was richtet die Kriegsrhetorik jetzt schon auch in unseren Ländern an? Wird unser demokratisches System soziale Unruhen aushalten, die zwangsweise bei einer Mangelwirtschaft kommen werden? Gibt es andere Möglichkeiten, als immer mehr Waffen zur Zerstörung der Ukraine zu liefern? Über all das würde ich gerne sprechen, aber das geht leider nicht, denn jede abweichende Sicht zum herrschenden kriegerischen Konsens bekommt sofort das Vasallentum gegenüber Putin umgehängt.
Die Welt wird nie mehr so sein, wie sie noch vor drei Jahren war, aber dennoch will ich mir den Grundsatz meines politischen Engagements nicht nehmen lassen. „Eine andere Welt ist möglich“. Gerade jetzt möchte ich an der Überzeugung festhalten, dass alle Menschen guten Willens dafür kämpfen müssen, damit wir in Frieden und Gerechtigkeit miteinander leben lernen. Das wird uns nicht geschenkt. Ich beginne damit, den resignativen Kräften in mir keinen Raum zu lassen und das kleine Mädchen Hoffnung nicht zu verscheuchen.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.