Was wäre wenn ….
Dennoch, ich bin nach wie vor davon überzeugt, eine zivilisierte Gesellschaft muss andere Konfliktlösungsmechanismen finden, als den Krieg, der grausamst Ermordete, zerstörte Länder und zerstörte Menschen zurücklässt. Und viele Jahrzehnte war ja das friedliche Zusammenleben für einen kleinen Teil der Welt auch erlebte Realität. Bis zum Jugoslawienkrieg 1991 war Europa 56 Jahre von militärischen Kämpfen verschont geblieben. Der Kalte Krieg allerdings tobte und war in vielen Weltteilen ein heißer Stellvertreterkrieg der Weltmächte, von Korea, Vietnam, Afghanistan, bis zu vielen afrikanischen und lateinamerikanischen Konfliktherden. Der Frieden war ein trügerischer. Die Auflösung der einander im kalten Krieg gegenüberstehenden Blöcke hat das „Gleichgewicht des Schreckens“ der Atommächte beseitigt und gleichzeitig auch in Europa den Weg freigemacht für sogenannte konventionelle kriegerische Auseinandersetzungen. Begonnen hat es in Jugoslawien, aber auch Armenien, Tschetschenien und Georgien sind europäische Länder! Gar nicht zu denken an den Irak, Syrien, Libyen und Afghanistan. Es wurde uns sehr deutlich vor Augen geführt, dass auch bei uns die Schicht der Zivilisation sehr dünn ist und wenn sie durch Kriege aufgerissen wird, darunter primitive und grausame Verhaltensmuster die Vorherrschaft übernehmen.
More of the same
Momentan sieht es so aus, als hätten die Vertreter militärischer Lösungen nur darauf gewartet, um ihre Weltsicht durchsetzen zu können, die besagt, wir müssen alle bis auf die Zähne bewaffnet sein, damit wir nicht angegriffen werden. Ist das die Konfliktlösungsstrategie von aufgeklärten humanistischen Staaten? Wie passt es zusammen, dass wir es geschafft haben, individuelle Gewalt zu ächten und zu bestrafen, militärische Gewalt aber noch immer als Konfliktlösungsstrategie gilt?
Ist die Abschreckung durch Aufrüstung das Einzige, was uns vor Kriegen bewahren kann? Die weltweite Antwort auf diesen mörderischen Überfall auf die Ukraine, ist anscheinend nur, more of the same. Mehr Waffen, obwohl die Nato Staaten schon bis auf die Zähne bewaffnet sind, mehr kampfbereite Truppen an die Grenzen, mehr Sanktionen, bei denen man die Bevölkerung aller Staaten, aber kaum die wirklich Schuldigen trifft.
Haben wir also nichts gelernt, war die Friedensbewegung eine naive Verirrung? Müssen wir die neue Weltsicht akzeptieren – bewaffnet euch, denn der Feind droht immer und überall? Haben wir also keine humanistischen Fortschritte gemacht? Ist Gewaltfreiheit nur eine individuell zu kultivierende Tugend von Menschen, die sich diesen Luxus leisten können?
Die "freie Welt" auf den Stufen der Konflikteskalation
Wenn wir auf diese Weltsicht einschwenken, dann hat Wladimir Putin schon gesiegt. Dann verraten wir unsere „westlichen Werte“ und begeben uns mit ihm auf eine Stufe. In meiner Schmalspur-Ausbildung zur Erwachsenenbildnerin habe ich gelernt, dass es Stufen der Eskalation von Konflikten gibt. Die reichen von der besten aller Lösungen, wo die jeweiligen Konfliktparteien zufrieden aussteigen, bis zur absoluten Ausweitung eines Streits, wo es nur mehr um die Vernichtung des Gegners geht. Wenn diese Stufen der Eskalation auch in Konflikten mit rachsüchtigen Despoten gelten, dann müssen wir auch im Umgang mit ihnen dafür sorgen, dass Konflikte in einem frühen Stadium befriedet werden. Ich fürchte allerdings, dass die Ukraine und Russland nahe an der letzten Eskalationsstufe sind.
Je länger dieser Krieg dauert, umso wahrscheinlicher ist es, dass er das Ende des Versuchs bedeutet, die Idee von Freiheit, Gleichheit und Solidarität umzusetzen, denn das sind seit der französischen Revolution die Werte, auf denen die sogenannte freie Welt fußt. Die Schwarz-Weiß-Bilder, die die Berichterstattung in den westlichen Ländern zeichnet, ist ein Schritt zur Primitivisierung des politischen Diskurses. Dass man die russische Führung in ihren Handlungen als quasi „schwarz“ bezeichnen muss, ist ja mittlerweile ziemlich außer Streit gestellt. Dass aber die USA, EU, Nato und auch die Ukraine in diesem Konflikt eine makellos weiße Weste hätten, stelle ich massiv in Frage. Ganz abgesehen von den Gräueltaten, die in anderen Erdteilen von Vertretern der freien Welt verübt wurden. Wenn es unser Anliegen ist, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, so braucht es Ausstiegsszenarien. Im Privatleben kann ich einen Konflikt lösen, indem ich jeden Kontakt abbreche. Das geht bei geopolitischen Konflikten nicht. Wir werden mit Russland, egal unter welcher Führung, weiter leben müssen. Deshalb muss das Gespräch gesucht werden, deshalb müssen „um des lieben Friedens willen“, auch mit einem mörderischen Aggressor Kompromisse geschlossen werden. Wenn wir allen Regierungschefs die ein irrationales und rückwärtsgewandtes Welt- und Menschenbild haben, das Gespräch verweigerten, blieben nicht allzu viele über. Wenn wir auf die nicht allzu kleinen Minderheiten in unseren eigenen Ländern schauen, die ähnlich denken, hätten wir intern auch viel zu tun.
Dystopie oder Aufleben friedlicher Konfliktlösungsstrategien
Vielleicht wäre es politisch und ökonomisch doch klug, nicht mehr Geld in die Aufrüstung zu stecken, sondern darauf, in Zukunft Frühwarnsysteme für außer Kontrolle zu geratende Konflikte zu installieren, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen, bevor es wie durch den Überfall Russlands auf die Ukraine zu spät ist. Vielleicht sollten wir alle mehr zivilen Widerstand lernen, damit Despoten gar nicht erst an die Macht kommen. Denn wenn sie es sich dort einmal eingerichtet haben, ist es fast unmöglich, sie wieder loszuwerden.
Irgendwann wird dieser Krieg zu Ende sein, ob siegreich oder nicht, die Ukraine wird zerstört zurückbleiben, die jungen und gebildeten Menschen werden dieses Land für immer verlassen haben. Die Welt wird in feindliche Blöcke aufgeteilt sein, die sich schwer bewaffnet gegenüber stehen. Die Globalisierung wird noch viel mehr als bisher nur mehr zu einem Projekt von Oligarchen, die es ja auf der ganzen Welt und nicht nur in Russland gibt. Die Armut wird weltweit zunehmen, der soziale Frieden wird auch in der „freien Welt“ gefährdet sein. Die EU wird wie im ersten Kalten Krieg zu einem Anhängsel der USA. Dort wiederum werden die Falken das Kommando haben und ihre Macht rücksichtslos ausüben.
Das Projekt Wandel durch Handel ist gescheitert. Die wirtschaftliche Verflechtung, bei der vor allem die Reichen profitierten, bewahrte uns nicht vor kriegerischer Eskalation. Denn dieses Projekt baute nicht auf dem Prinzip der Zusammenarbeit auf, sondern auf Konkurrenz und hat zu einer Macht- und Reichtumsfülle von Egomanen mit viel krimineller Energie geführt.
Was wäre wenn...?
Aber was wäre, wenn in Anbetracht dieser Szenarien, die Einsicht Raum gewinnen könnte, dass eine andere Welt möglich ist? Wenn statt in noch mehr Waffen, in friedliche Konfliktlösungsstrategien investiert würde?
Was wäre, wenn all jene Konzerne, die vom Krieg massiv profitieren, all die Spekulierenden, die enorme Gewinne durch die Verteuerung von Grundversorgung – von Brotgetreide bis zu Energie - einstreifen, zur Kassa gebeten würden, um den sozialen Ausgleich und den Kampf gegen den Klimawandel zu finanzieren?
Was wäre, wenn die maßgebliche Konfliktlösungsstrategie darin bestünde, das Gespräch aufrecht zu erhalten und den Aggressoren keinen Vorwand zu einem Krieg zu liefern?
Was wäre also, wenn wir zur Friedenssicherung einen Schwerpunkt auf die Globalisierung von Kultur, Kunst, Geisteswissenschaft und Spiritualität legten, nachdem die Globalisierung der ökonomischen Interessen gescheitert ist?
Was wäre wenn es auf der ganzen Welt Orchester gäbe, für die es verpflichtend ist, dass sie sich aus Musikern und vor allem Musikerinnen aus allen Erdteilen zusammensetzen?
Was wäre wenn Universitäten und Kunsthochschulen einen hohen Prozentsatz von Studierenden aus armen Ländern vorweisen müssten?
Was wäre wenn Interreligiosität vor allem in Interkulturalität und Friedensarbeit bestünde? Gab es da nicht einmal die internationalen ökumenischen Versammlungen „Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung“? Was wurde aus den ökumenischen europäischen Frauensynoden?
Was wäre, wenn wir die Freuden und Hoffnungen, Trauer und Angst der Menschen endlich ernst nehmen, wie es das zweite Vatikanische Konzil von uns verlangt, sodass wir niemanden zurücklassen?
Was wäre, wenn dadurch die Macht des guten Willens die Allmacht der Destruktivität besiegte?
Alles sehr naiv? Aber wie naiv ist es erst, zu glauben, dass Kriege (Aufrüstung) Frieden schaffen können?
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.