Jahreswechsel oder Zeitenwende?
Dennoch gerieten wir bei unserer Sicht bezüglich Stadtstraßen und Donauquerung ziemlich hart aneinander. Da er im Süden Wiens wohnt, kennt er die Leiden auf der Südosttangente sehr gut. Auf das Auto angewiesen, da er und seine schwer gehbehinderte Frau sonst völlig vereinsamen würden, scheint für ihn eine neue Donauquerung unabdingbar. Seine Hoffnung bezüglich Bekämpfung des Klimawandels sind deshalb die technischen Lösungen wie E-Mobilität und Wasserstoffantrieb. Außerdem brachte er auch das vordergründig einleuchtende Argument, dass wir ja bezüglich der Klimakrise völlig irrelevant wären, die großen Klimasünder wären ja die bevölkerungsstarken Länder wie Indien, China, Brasilien, dort müsse es zu eklatanten Änderungen kommen.
Das stimmt natürlich, wenn man die Welt als eine Ansammlung von Nationen betrachtet, ohne Blick auf Zusammenhänge und historische Herleitungen.
Ich erinnere mich noch, als ich in den späten 80er Jahren mit der Katholischen Frauenbewegung in Indien war. Damals war das Nachhaltigste, das man sich vorstellen konnte, ein indisches Dorf. Es gab keinen Abfall, die Kühe fraßen das, was für die Menschen nicht mehr geeignet war und ihr Dung wurde an die Wand geklatscht und daraus Brennmaterial produziert. Allerdings - die Menschen dort waren bitterarm, hatten nicht genug zu essen und keine Zukunftschancen.
Veränderung war dringend nötig. Indien gehörte damals zu den blockfreien Staaten, die weder dem kapitalistischen System noch dem real existierenden Kommunismus etwas anzufangen wussten. Diese Staaten wollten ihren eigenen Weg zur Entwicklung gehen, es gab keine ausländischen Autos und auch Coca-Cola durfte nicht importiert werden. Dass dieses Konzept scheiterte, hat viele Gründe - einer davon ist sicher die Strahlkraft die die europäischen und amerikanischen Wohlstandsinseln auf die Menschen ausübten. Statt einen eigenen Entwicklungspfad einzuschlagen, bei dem die eigenen sehr spezifischen Technologien und Erfahrungen hätten genutzt werden können, hofften alle auf die Segnungen der Globalisierungen. So wurde Indien zu einem Riesenmarkt für Investitionen und schuf mit tatkräftiger Unterstützung der Industriestaaten eine Zulieferindustrie ohne die geringste Rücksicht auf Menschen und Umwelt. Das brachte natürlich vielen einen neuen Wohlstand, allerdings an der Armut der Dörfer änderte sich wenig. In hohem Maße haben die Industrieländer von dieser Entwicklung profitiert, billigste Textilien, Gebrauchsartikel, Nahrungsmittel, aber auch unter menschen- und umweltzerstörenden Bedingungen erzeugte Industrieprodukte und Bodenschätze, schufen ein riesiges billiges Angebot für die Wohlstandsreservate dieser Welt. Es ist eben so, dass Europa und Nordamerika nicht nur ihre eigenen CO2 Emissionen produzieren, sondern auch in hohem Maße am Ausstoß der ärmeren Länder beteiligt sind. Soja aus Brasilien, Bergbau in Afrika und Elektronik aus China sind nur exemplarisch dafür. Ohne diese Importe wären wir hier in Europa längst nicht so reich.
So sentimental der Rückblick auf China als Land der Radfahrer, auf Vietnam als Land der Motorroller als Familientransportmittel, auch sein mag, wir leben in einer Welt und wir Menschen in Europa haben nicht das Recht, auf unserer Lebensweise zu beharren und der Mehrheit der Menschheit Bescheidenheit zu verordnen. Ich sehe noch vor mir die Kolonnen der über lange Strecken zu Fuß zu ihren Arbeitsplätzen wandernden Menschen in Südafrika und gleichzeitig die Weigerung vieler Menschen hier bei uns, mit einem Einkaufswagerl ein wenig länger zu Fuß gehen zu wollen.
Ja, es gibt auch in all diesen Ländern bedenkenlose Reiche, so wie bei uns in den Supermärkten jeweils eine Person in einem Riesen-SUV ihre Einkäufe erledigt und in der Corona-Krise der Luftverkehr mit Privatjets ungeheure Ausmaße angenommen hat, aber durchschnittlich verbraucht jeder chinesische, indische, brasilianische Mensch weitaus weniger Ressourcen als wir hier in Europa.
Deshalb geht es nicht darum, dass wir Autos mit Elektro- und Wasserstoffantrieb mehrheitsfähig machen. Diese technischen Lösungen und noch viele mehr wird es dringend brauchen, wenn wir unsere Zukunft gestalten, dennoch führt kein Weg daran vorbei, dass viele Menschen weltweit ihr Verkehrs- und Konsumverhalten massiv verändern. Ohne technische Lösungen bleibt manche Bewusstseinsänderung aussichtslos, aber ohne großer Transformation des Bewusstseins und des politischen Handelns führen diese Lösungen in eine Sackgasse.
Das hat nichts mit Verzicht zu tun, sondern mit einer anderen, vielleicht sogar freudvolleren Lebensweise. Alle, die sich weltweit eine imperial ausbeuterische Lebensform leisten, müssen veranlasst werden, diese zu ändern. Das tut aber niemand freiwillig, dazu braucht es eine weitsichtige Politik und vor allem eine breite Kommunikation darüber, wie ein gutes Leben möglich wird, das nicht auf der Ausbeutung der armen Menschen und der Natur besteht.
Dabei geht es nicht darum, auf das Auto zu verzichten, wenn es im wahrsten Sinn des Wortes notwendig ist, es geht auch nicht darum, auf Lebensmittel aus den Ländern des globalen Südens zu verzichten. Es geht nur um Kostenwahrheit und darum, ob so wie wir selber leben, die ganze Menschheit leben könnte, ohne unseren Planeten für alle unbewohnbar zu machen.
Und da sind wir wieder beim Lobautunnel und der Stadtstraße. Da haben WissenschaftlerInnen festgestellt, dass wir das von uns zugesagte Klimaziel mit diesen Bauwerken nicht erreichen können – das verpassen dieser Ziele würde uns deshalb sehr viel Geld kosten. Es ist nämlich erwiesenermaßen so, dass jede neue Straße den Verkehr anzieht. Die Südosttangente war ja ursprünglich auch eine Entlastung. Zukunftsweisend wäre es, zu überlegen, wie man den LKW-Verkehr sinnvoll eindämmen könnte und all jene, die leicht ein anderes Verkehrsmittel benützen können, dies auch tun. Da wäre dann genug Platz für alle, die das Auto als Fortbewegungsmittel dringend brauchen.
Die Veränderung muss in den Hirnen und Herzen der Menschen ankommen und die Politik hat die Pflicht, diese Veränderungen sinnvoll zu steuern. Da ist es kontraproduktiv, wenn der öffentlich rechtliche Rundfunk zur besten Sendezeit eine von der Autoindustrie gesponserte Sendung mit dem Titel „Autoland Österreich“ ausstrahlt und die Stadt Wien die Diskussion um die Notwendigkeit des Baus neuer Stadtstraßen verweigert. Ja, in der Autozulieferungsindustrie arbeiten in Österreich viele Menschen, aber wäre es nicht genauso wichtig, die Bedürfnisse der Menschen in anderen Wirtschaftszweigen, z.B. im Gesundheitsbereich genauso ernst zu nehmen? Wir gehen auf Zeiten mit Arbeitskräftemangel zu, wäre das nicht eine Chance, strukturelle Veränderungsschritte zu setzen? Das Beharren auf dem Status quo wird sich nicht ausgehen.
Die Corona-Krise hat viele von uns in eine angstvolle Grundstimmung gebracht. Umso wichtiger wäre es, das Hoffnungspotential der Zeitenwende in der wir uns befinden, zu erkennen. Die Frage, was wir für ein gutes Leben in Zukunft brauchen werden, ohne unseren Planeten zu zerstören, ist es wert, offen und solidarisch diskutiert zu werden.
Ja, Europa ist klein und die große Musik spielt anderswo, aber die kulturelle Hegemonie, auf die wir uns ja so viel einbilden, strahlt noch immer auf den Rest der Welt aus und das sollten wir zum Anleiern der Zeitenwende nützen.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.