Wer wagt die Veränderung?
Der dringlichste Wandel betrifft die beiden existentiellen Krisen, die Klimabedrohung und alles was das Thema Care, die Fürsorge, die Vorsorge und Versorgung mit dem Lebensnotwendigen betrifft. Dennoch werden äußerst zögerliche Veränderungsschritte gesetzt.
Bei der Klimakonferenz in Glasgow sind kleine Fortschritte erzielt worden, aber das reicht nicht. Es ist kontraproduktiv auf die großen CO2 Emittenten Indien, China, Brasilien zu zeigen, solange wir hier in Europa und vor allem in den USA pro Kopf wesentlich mehr verbrauchen, als die Menschen in diesen Ländern. Wir sind es, die vorzeigen müssen, dass ein gutes Leben ohne fossile Energie und Atomenergie möglich ist.
Außerdem müssen wir uns im Klaren sein, dass unser Schnitzel und unser Tafelspitz, unser Blätterteig und unsere Hautcremen trotz AMA-Gütesiegel ihren Ursprung in den Ländern des Südens haben. Unser Sojafutter frisst den Regenwald und das Palmöl, das in fast allen fetthaltigen Produkten enthalten ist, wächst auf Plantagen, wo ursprünglich ebenfalls Regenwald das Weltklima schützte. Deshalb müssen wir die treibenden Kräfte der Veränderung sein, denn begonnen hat das ganze Schlamassel ja ebenfalls bei uns.
Wenn in diesem Zusammenhang das Unwort Verzicht benutzt wird, dann müssen wir uns die Frage stellen: Ist es ein so großer Verzicht, nahversorgende Geschäfte statt riesiger versiegelter Flächen an den Ortsrändern zu haben? Ist es unverzichtbar, sich den Stress anzutun, um über’s Wochenende in überfüllte Städte zu fliegen, die ihr Flair längst dem Massentourismus geopfert haben?
Ist es für Kinder nicht lustiger, gemeinsam im Schulbus oder mit der Bahn in die Schule zu fahren, statt von einer gestressten Mutter vor Arbeitsbeginn noch schnell dort abgeliefert zu werden? Ist es diese ziemlich irrelevante Zahl, genannt Bruttosozialprodukt, wert, jede Diskussion über Arbeitszeitverkürzung abzuwürgen? Dem vordergründigen Verzicht, steht nämlich ein nachhaltiger Gewinn gegenüber, den wir benennen müssen. Gesunde Luft, Zeit miteinander und füreinander, weniger Lärm, auch weniger Milliardäre, aber eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Besitz.
Vielleicht sollten wir auch den Begriff „Wertschöpfung“ hinterfragen. Derzeit wird er ja nur auf die Güterproduktion, den globalen Handel und die finanzmarktlichen Transaktionen angewendet. Investitionen in Gesundheit, Bildung, Versorgung, Fürsorge und Klimaschutz laufen unter „Kostenfaktor“. Damit wird vermittelt, dass alles, was Industrie, Gewerbe und Finanzwirtschaft produziert, Werte schafft und alles, was in den Bereich Care-Wirtschaft fällt, Kosten verursacht. Argumentiert wird das damit, dass dafür Steuergeld aufgebracht werden muss.
Bei genauerer Betrachtung hält diese Sicht der Realität aber nicht stand. Auch der Straßenbau und sämtliche Infrastrukturinvestitionen werden mit Steuern finanziert, dennoch käme niemand auf die Idee, diese Wirtschaftszweige als Kostenfaktoren zu bezeichnen. Erklärt wird das immer damit, dass da ja Arbeitsplätze geschaffen werden. Das gleiche gilt allerdings auch für die Care-Wirtschaft. Schulen, Spitäler, Pflegeinstitutionen schaffen anteilsmäßig noch viel mehr Arbeitsplätze, weil ja die Arbeit mit Menschen viel personalintensiver ist, wenn sie gut sein soll.
Die positive Wirkung von guter Care-Wirtschaft wird niemand leugnen können und die Werte, die ein gutes Schulsystem schöpft, wirken Jahrzehnte. Es wird Zeit, dass wir nach dem tatsächlich erfolgten Wandel von der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungswirtschaft auch mental das Industriezeitalter hinter uns lassen.
Die Herstellung von Gütern wurde in den letzten hundert Jahren massiv rationalisiert. Es werden massenhaft Güter erzeugt, die eigentlich niemand braucht, nur um die Illusion einer wachsenden Warenwirtschaft aufrecht erhalten zu können. Aber Wachstum der Warenproduktion und des Warenhandels braucht in Zeiten von Klima- und Care-Krise niemand, es braucht ein Wachstum der Sektoren Bildung, Sorge, also Care und Investitionen in den Klimaschutz.
Der vorweihnachtliche Lockdown könnte als Einübung in ein anderes Wirtschaften genutzt werden. Statt dessen balgen sich die geschlossenen Handelsbetriebe mit Preisnachlässen von 70 % um Online Kunden in der zur Black Friday Woche ausgedehnten Preisschlacht. Abgesehen von der Frage, wie hoch die Spannen in diesen Sparten sind, wenn man solche Nachlässe gewähren kann, schaut das Ganze eher nach einer Verzweiflungstat aus.
Was muss man noch an Verdummungsinitiativen kreieren, um die Illusion einer wachsenden Warenwirtschaft aufrecht erhalten zu können? Ich hoffe sehr, dass heuer diese Masche nicht zieht. Die Dringlichkeit, andere Lebensfelder in den Mittelpunkt zu rücken, scheint Oberhand zu gewinnen. Die zentrale Stellung, die derzeit das Gesundheitspersonal und seine prekäre Situation in der öffentlichen Diskussion einnimmt, verdrängt die For Profitwirtschaft aus den Schlagzeilen.
Die Bedeutung der Schulen nicht nur für die Kinder, sondern für die gesamte Gesellschaft, offenbart sich nun allen. Das technisierte, wie Industriearbeitsplätze getaktete Pflegewesen, zeigt seine Dysfunktionalität für die dort Tätigen und vor allem für die Pflegebedürftigen. Sogar die Banken, die immer sehr nahe am Zeitgeist sind, stellen das Miteinander-Leben in den Mittelpunkt ihrer Werbeaktivitäten. Junge Menschen, unterstützt von Hainburg-VeteranInnen haben sich an der Baustelle der Schnellstraße in Wien-Donaustadt ihr Wintercamp eingerichtet. Da kann schon noch was werden! Der Zeitgeist dreht sich, stellen wir uns ihm nicht entgegen. Es gibt trotz allem Hoffnung in diesem denkwürdigen Advent.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.