In Zeiten wie diesen
Ich lerne den PCR-Test im Internet abzuwickeln und schaffe es mühselig, meine Hände so ruhig zu halten, dass dabei mein Pass gescannt werden kann. Wir brauchen diesen Test für eine Behandlung meines Mannes im Spital und er kann ihn nicht außer Haus machen lassen. Mir graut bereits davor, wieder stundenlang auf die Abholung durch den Krankentransport warten zu müssen, denn wenn sie es nicht rechtzeitig schaffen, ist der PCR-Test abgelaufen und das Procedere beginnt von Neuem.
Es scheint mir ewig her zu sein, als vorigen Sonntag meine Tochter und ich dachten, es wäre eine gute Idee in den Stephansdom zu gehen und das mit der 3. Corona-Impfung zu verbinden. Schon als wir die Stufen von der U-Bahn hinaufgingen, merkten wir, dass diese Idee viele hatten. Eine Menschenkette, die sich so manche Demo gewünscht hätte, schlängelte sich entlang des Doms. Aber Vorhaben werden von uns selten abgesagt, also stellten wir uns an – allerdings nicht ahnend, wie lange es wirklich dauern würde. Als wir nach 2 ½ Stunden dem Eingang zur Kapelle, in der geimpft werden sollte, sehr nahe kamen – die Orgelklänge der Messe im Dom waren längst verklungen - marschierten Menschen mit Fahnen und Transparenten vorbei – sie waren auf dem Weg zur Anti-Impf-Demo vor dem Bundeskanzleramt. Ihre hämischen und abschätzigen Bemerkungen, wobei „Wie kann man so blöd sein, sich da anzustellen“ noch die mildeste war, zeigten unmittelbar, wie weit die Sichtweise und Befindlichkeit der Menschen in unserem Land bereits auseinander getriftet sind.
Trotz der Bilder aus den Spitälern und den eindringlichen Appellen des in den Spitälern am Ende ihrer Kräfte angekommenen Personals, demonstrieren zu diesem Wochenende wieder zigtausend Menschen gegen Impfung und „Freiheitsberaubung“.
Wie wurde das möglich? Oder zeigt das Brennglas der Pandemie wie in anderen Fällen auch, nur deutlich, woran es schon seit langem krankt? Darüber denken viele kluge Menschen derzeit nach. Soviel ich weiß, herrscht Ratlosigkeit.
Denn die Gruppe jener, die sich der Impfung verweigert, ist, wie die gesamte Bevölkerung, sehr heterogen. Was sie alle eint, ist das tiefe Misstrauen gegenüber staatlichen und ökonomischen Institutionen und ein Freiheitsbegriff, der glaubt, ohne einem solidarischen Grundkonsens auskommen zu können. Abgesehen von der leider verbreiteten Verschwörungsgläubigkeit ist es aber wichtig, sich die Befindlichkeit so vieler Menschen, die ihre Freiheit durch obrigkeitliche Eingriffe bedroht sehen, genauer anzusehen. Weiters frage ich mich, ob Menschen, die den eigenen Körper als ihr abgegrenztes, beziehungsloses Eigentum sehen, mit sich wirklich achtsam umgehen. Diese Befindlichkeiten, eigenständig und unabhängig von anderen leben zu können, gab es sicher schon immer, aber meiner Meinung nach haben politische und philosophische Prozesse, die sich in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelten, diese individualistische Vereinzelung massiv bestärkt.
Ich erinnere mich noch genau, als wir damals innerhalb der Katholischen Frauenbewegung begannen, Selbstbewusstseinsseminare für Frauen zu entwickeln. Das war dringend nötig. Es war erst einige Jahre her, dass Frauen durch die Familienrechtsreform der 70er Jahre aus der Vormundschaft des Ehemannes entlassen wurden. Frauen mussten ihren Platz in der Familie und in der Gesellschaft erst finden. Der erste Teil des Seminars lautete „ich auf dem Weg zu mir“ und wurde begeistert aufgenommen. Der zweite Teil „ich auf dem Weg zu dir“, also die private Gemeinschaftsfähigkeit, war auch noch gefragt, ebenso wie der dritte Teil „ich auf dem Weg zu Gott“. Aber der vierte Teil „ich auf dem Weg in die Gesellschaft“ wurde kaum wahrgenommen und wenn, dann meist nur, weil die Frauengruppe eben noch beisammen bleiben wollte. Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass damals die höchst nötige Individualisierung von Frauen vielfach gelungen ist, der zweite, für ein reifes Menschsein nötige Schritt, sich für die Gestaltung der Gesellschaft mitverantwortlich zu fühlen, meist vergessen wurde. Und das galt nicht nur für Frauen, es ist ein Grundproblem der 68er Bewegung. Da wurde zurecht die Befreiung aus den patriarchalen Strukturen der Elternhäuser und Bildungseinrichtungen erkämpft. Antiautoritäre Erziehung war die Losung zumindest in intellektuellen Familien. Aber auch das wurde nur halb verstanden. Es wurde vorwiegend das Individuum gesehen, das eigene Kind sollte durchsetzungsstark werden. Solidarisches Gemeinschaftsgefühl erlebten die Kinder dieser Generation selten. Am ehesten noch in den diversen Jungschargruppen. Deren Wirken wurde allerdings von den immer reaktionärer werdenden Kirchenleitungen misstrauisch beäugt. Die Kinder- und Jugendorganisationen der Parteien waren längst ausgedünnt. Das starke Individuum war Ziel von Erziehung und Bildung. Dieser gesellschaftlichen Entwicklung folgte eine Liberalisierung und Privatisierung des wirtschaftlichen und politischen Lebens. Die Ich-AG war geboren und das primitive Recht des Stärkeren feierte fröhliche Urständ – Symbole dafür sind Margret Thatcher und Ronald Reagan. Der ökonomische Neoliberalismus legte sich wie eine Schlammschicht über alle Lebensbereiche und dominierte zunehmend das Denken. So konnte Gary Becker 1992 den Wirtschaftsnobelpreis mit der Theorie gewinnen, dass der nach seinem eigenen Vorteil strebende homo oeconomicus alles menschliche Verhalten, auch die Liebe, lenkt. Was besagt, Menschen lieben, arbeiten, engagieren sich nur zu ihrem persönlichen Eigennutz.
So konnte es passieren, dass wir einen Finanzminister hatten, der einen Sticker mit seinen Insignien am Revers trug und stolz behaupten konnte, er sei seine eigene Ich-AG, ohne dass er schallendes Gelächter damit erntete. Er und sein Bundeskanzler konnten auch von unserem Land als dem „Unternehmen Österreich“ sprechen. Weitere Slogans prägen die politische Kultur bis heute z.B. „mehr privat – weniger Staat“. Jener Finanzminister ist mittlerweile, zwar nicht rechtskräftig, verurteilt, seine auf internationalem ökonomischen und politischen Konsens basierenden Ideen aber haben sich überall eingeschlichen. Alles musste Gewinn-orientiert werden, auch das eigene Leben. Die Frage „Was habe ich davon?“ wurde zur Grundlage menschlichen Handelns bis tief in die sozialen Bewegungen hinein.
So kann es derzeit passieren, dass der maßgebliche Vertreter der Gemeinwohl-Ökonomie stolz seine 30 Gründe, weshalb er sich nicht impfen lässt, propagiert. Er schiebt damit die Gedanken an die schwer erkrankten Menschen, an die im Gesundheitsbereich arbeitenden und an den Zusammenhalt der Gesellschaft beiseite. Ist das Denken in Ambivalenzen verloren gegangen? Ja, die enormen Gewinne der Pharmakonzerne mit den Impfstoffen sind massiv zu kritisieren – dennoch ist es überlebenswichtig, dass es diese Impfstoffe gibt. Ja, es gibt Menschen, die tun viel für ihre körperliche und spirituelle Gesundheit – dennoch können auch sie schwer erkranken. Ja, eine Impfung ist ein Eingriff in das System meines Körpers, aber bei einer schweren Corona-Erkrankung verliere ich die Kontrolle über meinen Körper in noch viel höherem Maße. Ja, meine Freiheit wird derzeit massiv begrenzt, aber das hat Gründe, die diese Begrenzung plausibel erscheinen lassen.
Überhaupt, es ist die Freiheit und was darunter verstanden wird, die derzeit die Menschen auf die Straßen bringt. Und da schließt sich wieder der Kreis zu der individualistischen und ein wenig größenwahnsinnigen Vorstellung des Menschen als eigennütziges, unabhängiges und nur sich selbst Rechenschaft pflichtiges Wesen. Diese Theorie ist definitiv falsch. Wenn wir realistisch sind und ein wenig historische Bildung genossen haben, müssen wir erkennen, wir Menschen sind von anderen Menschen und unseren Rahmenbedingungen abhängig. Wir können nur miteinander gut leben und das beschränkt unsere individuelle Freiheit von Anfang an. Das heißt nicht, dass wir widerstandslos alles hinnehmen müssen, nein, widerständiges Leben ist Voraussetzung für unseren zivilisatorischen Fortschritt. Dabei geht es um den Schutz meiner persönlichen Integrität, aber auch um die Möglichkeit eines solidarischen Miteinander, wo niemand zurückgelassen wird. Es ist traurig, dass derzeit anscheinend so viele Menschen ihre ersten Gemeinschaftserfahrungen bei Demonstrationen machen, wo Rücksichtslosigkeit und extreme Individuelle Freiheit gefordert werden.
Wie kommen wir da wieder raus? Sicher nicht, indem wir den Kontakt zu Personen abbrechen, die sich und die Welt anders sehen, als wir. Aber auch nicht, indem wir das strittige Thema ausblenden. Das wurde sicher schon viel zu lange praktiziert. Wir müssen wieder miteinander streiten lernen und niemand darf glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Streiten eröffnet neue Blickwinkel, die in unseren persönlichen und Internet-Blasen leicht ausgeblendet werden können. Die gespaltene Gesellschaft ist auch ein Produkt übertriebenen Harmoniebedürfnisses und mangelnder Konfliktfähigkeit. Der Umgang mit der Corona-Krise hat ja die üblichen Blasen aufplatzen lassen, der Konflikt geht quer durch Freundeskreise und Familien. Das ist auch eine Chance wieder friedlich streiten zu lernen. Streitvermeidung führt zu Unversöhnlichkeit, weil sich da subkutan sehr viel Groll aufbaut.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.