Was ich nicht verstehe
Zurück zu dem, was derzeit mein Verständnis übersteigt:
- Wie konnte Bernhard Görg so lange als gebildeter und moderater ÖVPler gelten? Zu den Vernichtungsmanövern von Kurz gegen Mitterlehner fällt ihm in der Sendung „im Zentrum“ nur der erklärende Satz ein: „Attentate müssen tödlich sein“. Bin auch ich jahrelang der nach außen hin kultivierten Bürgerlichkeit, die im Inneren eine abstoßende Rohheit birgt, hereingefallen?
- Ich kann auch nicht fassen, dass sich ÖVP-Honoratioren als „Alte Deppen“ bezeichnen lassen und Kurz anscheinend noch immer die Stange halten. Solange er ihnen die Wahlen gewonnen hat, konnte man es ja noch verstehen. Parteitreue und den „Roten“ eins auszuwischen, gehört ja zur DNA, aber wieso jetzt noch immer?
- Noch weniger verstehe ich den Sekretär der Bischofskonferenz der Katholischen Kirche, der von Kurz und Freunden gnadenlos lächerlich gemacht wurde und dennoch eine Dankwallfahrt der ÖVP-Parlamentarier*innen nach Mariazell anführte …
- Auch das Selbstverständnis mancher aus dem Opus-Dei-Umfeld ist mir ein Rätsel. Bernhard Bonelli, Absolvent einer Opus Dei Universität und konservativer Katholik, engster Vertrauter von Sebastian Kurz und dessen wichtigster Berater, findet anscheinend nichts dabei, bei den Kurz‘schen Machenschaften mitzuspielen – oder heiligt für diese Art des Katholizismus der Zweck die Mittel?
- Ich verstehe auch nicht, dass trotz grüner Regierungsbeteiligung und offensichtlichem Notstand, alle jene, die im Care-Bereich tätig sind – von den Kindergarten-Pädagoginnen über das Gesundheitspersonal bis zum Reinigungspersonal in öffentlichen Einrichtungen, im Budget ziemlich vergessen wurden. Die Senkung der Körperschaftssteuer war wichtiger. Ist es den CEOs der großen Unternehmungen nicht zu verklickern, dass auch ihr gutes Leben von einer guten öffentlichen Care-Infrastruktur abhängig ist? Sollten wir nicht massiv dorthin Geld umverteilen? Braucht es wirklich eine Senkung der Körperschaftssteuer, um die Steuerspirale in der EU weiter nach unten zu drehen? Es komme mir niemand mit dem Schlagwort „Standort-Politik“, denn dieser Kampf „jeder gegen jeden“ tut auch der Weltwirtschaft nicht gut. Niemand investiert in Österreich wegen unserer niedrigen Körperschaftssteuer, sondern viel eher, wegen eines geordneten Gemeinwesens und des sozialen Friedens.
- Traut man den Vermögenden in unserem Land nicht ein wenig Verstand und Ethik zu, dass man ihnen erklären könnte, dass eine Vermögenssteuer, die ihr Leben in keiner Weise belasten und verändern würde, Mittel für Armutsbekämpfung, Pflege, Bildung und das Gesundheitswesen frei machen könnte, wovon auch sie zumindest indirekt profitieren würden? Ein Nebeneffekt wäre auch noch, dass vielleicht weniger marodierendes Geld herumläge, welches das Spiel an den Börsen, Immobilien Hypes und Bitcoin-Spekulationen ökonomisch bedenklich befeuert.
- Am wenigsten verstehe ich die Journalistinnen und Journalisten in unserem Land. Waren nicht sie es, die mit Jubelberichten und dem Lob auf die professionelle Öffentlichkeitsarbeit der Kurz-Truppe den Aufstieg dieser jungen Karrieristen erst möglich gemacht haben? Fast alle haben sich von dem jugendlichen Elan und dem geschniegelten Auftreten täuschen lassen. Ich höre noch das Lob auf die unvergleichliche Professionalität, die alle anderen Parteien sehr alt aussehen ließe und die euphorische Bewunderung des ganz neuen Stils dieser Selbstdarsteller. Aber was tun die Medienmenschen jetzt? Hat einer von ihnen gesagt „ich habe mich geirrt“. Nein, sie wissen es schon wieder alle besser. Frau Rendi-Wagner wird verhöhnt, weil sie versuchte, in einer drohenden Staatskrise – herbeigeführt von dem überschätzten Wunderwuzzi – Auswege zu finden. Ja, sie hat mit Herrn Kickl gesprochen – aber zum Minister, wie Kurz das tat, hätte sie ihn sicher nicht gemacht. Reflexion und Selbstkritik gehört anscheinend nicht zum Rüstzeug unserer Medienmenschen – das ist in einer Situation wie der derzeitigen demokratiepolitisch bedenklich.
Da stehe ich jetzt mit meinem Unverständnis gegenüber all dem was derzeit geschieht, bin aber dennoch froh, dass da einige überhebliche junge Männer enttarnt wurden, die tatsächlich nicht wie alle anderen nur mit Wasser kochten, sondern eine ziemlich giftige Brühe angerührt haben – die jetzt hoffentlich niemand mehr trinken mag.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.
