Unsere Gesellschaft und ihre Werte
Wieder mussten wir uns von einer lieben Freundin viel zu früh verabschieden. Brigitte Helm war das, was wir als „guten Menschen“ bezeichnen. Sie war immer für andere da und die Freude am Leben war ihr immer anzusehen. Erst bei ihrer Verabschiedung habe ich aber gemerkt, wie weit und tief sie die Menschen in ihrem Umfeld und darüber hinaus die sie umgebende Gesellschaft geprägt hat. Ihr Leben scheint mir exemplarisch dafür zu sein, dass trotz vieler Fehlleistungen der offiziellen Kirchenleitung es eine prägende kirchliche Sozialisation gibt, wo Menschen miteinander und aneinander wachsen können, einen liebevollen Umgang miteinander lernen, wo der Grundstein zu einer Lebenslust gelegt wird, die ernsthaftes Engagement ermöglicht und Enttäuschungen erträglich macht. Für Brigitte Helm war dieser Lernort für ein geglücktes Leben die Katholische Arbeiter*innenbewegung. Ich konnte in meiner aktiven Zeit als Funktionärin der Katholischen Frauenbewegung erleben, welch fundierte Bildung für ein gutes Miteinander, demokratische Entscheidungsfindung, Organisationsarbeit und kreatives Lernen in dieser Jugendorganisation tradiert wurde.
Die vielen Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus, die in der wunderschönen Millenniumskirche von Stattendorf von Brigitte Helm Abschied nahmen und ihren Weg mit ihr beschrieben, gaben Zeugnis für ein Österreich, das sich tatsächlich als Wertegemeinschaft sehen kann. Arbeiterinnen, hohe Beamte, Wirtschaftstreibende, Politiker*innen, Theolog*innen und die Breite der Zivilgesellschaft, versammelten sich zu diesem traurigen Anlass des Abschieds. Gleichzeitig gab diese Versammlung aber auch Hoffnung – ja es lebt noch, das gute Österreich, das miteinander und füreinander Gesellschaft gestalten möchte. Es war ein Moment, wo wir unsere Kraft spürten und wir sind es Brigitte schuldig, diese Kraft auch wirksam werden zu lassen, an solidarischen Werten orientiert, hoffnungsvoll, genussfähig und fröhlich – so wie sie es war.
Aber da gibt es auch noch das Dunkle und Erschütternde mitten unter uns. Ein 13jähriges Mädchen wurde in der Donaustadt tot an einen Baum gelehnt, gefunden. Als vermutliche Täter wurden zwei afghanische Jugendliche, 16 und 18 Jahre alt ausfindig gemacht. Der 18jährige hat einige Vorstrafen und sollte abgeschoben werden. Noch weiß man nicht, wie diese ungeheuerliche Tat begangen wurde und wer aller daran beteiligt war, nur dass Drogen im Spiel waren.
Es ist unwiderlegbar, junge afghanische Männer werden öfter straffällig als der Durchschnitt der Bevölkerung. Aber dennoch ist es perfide, so zu reagieren, wie es die türkise Hälfte unserer Regierung tut. Es schaut so aus, als hätten sie nur darauf gewartet, dass wieder etwas passiert, damit sie ihre einfältige Feindbildrhetorik aktivieren können, um politisches Kleingeld zu machen. Da wird nicht genauer hingeschaut, da wird nicht gefragt, wie es möglich ist, dass ein 13jähriges österreichisches Mädchen, allein in Wien, mit wenig vertrauenswürdigen jungen Männern in deren Wohnung mitgeht. Da wird nicht gefragt, welche Zerrüttungen dieses Kind erlebt hat. Da werden nur Reflexe aktiviert: österreichisches Mädchen – afghanische Männer. Das Schicksal dieses Mädchens hätte wahrscheinlich zu ihren Lebzeiten mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung gebraucht, die bekommt sie jetzt als getötetes Opfer von einer Gesellschaft, die sie im Tode noch instrumentalisiert.
Ein solch verstörendes Ereignis braucht zur Aufarbeitung nicht das Anstacheln von Vorurteilen, sondern einen kühlen Kopf und ein warmes Herz. Es nimmt uns nichts von der großen Trauer darüber, dass da ein junges Leben einen so grauenhaften Tod gefunden hat, wenn wir nüchtern bleiben. Eine verantwortungsvolle Bundesregierung müsste in einer solchen Situation darauf hinweisen, dass es rechtsstaatliche Regeln gibt, die auch in solch verstörenden Fällen nicht außer Kraft gesetzt werden können. Sie müsste auch Schuld eingestehen, dass die jeweiligen Stellen, wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl oft wenig kompetent agiert und das Verwaltungsgericht massiv unterbesetzt ist, was sich in diesen Extremsituationen deutlich zeigt. Ich selbst habe Erfahrung mit diesen öffentlichen Stellen und kenne die enorm langen Wartezeiten, die die Betroffenen psychisch schwer belasten. Diese jungen afghanischen Männer, wieviele es wirklich waren, wissen wir noch nicht, haben wahrscheinlich eine grauenhafte Tat begangen – aber es gilt auch für sie, wie für alle Menschen die Unschuldsvermutung. Die psychische Verrohung die da sichtbar wird, macht uns allen Angst und es ist nicht die Zeit, sie mittels Vergleichen von ähnlichen Taten, die österreichische Staatsbürger begangen haben, zu relativieren. Dennoch ist es hilfreicher, den Blick darauf zu richten, wie solche Ausbrüche von Gewalt, deren Opfer vor allem Frauen werden, zu verhindern sind.
Da wir seit dem Jahr 2016 mit einem jungen Afghanen zusammenleben, habe ich viel von dieser Community mitbekommen. In unmittelbarer Nähe unseres Hauses war 2015 ein Flüchtlingslager für afghanische Familien und unbegleiteten junge Flüchtlingen. Da Fawad, unser Schützling sich viel um seine Landsleute gekümmert hat, habe ich auch viele Schicksale kennengelernt. Mich hat immer wieder die Kraft dieser Menschen beeindruckt, die grauenhafte Erlebnisse verarbeiten mussten, die vor allem die dunkle Seite menschlichen Verhaltens kennengelernt haben, aber dennoch ihre Chance hier nutzen wollten. Ist es denn so schwer zu verstehen, dass Menschen für sich und ihre Familien eine Lebensmöglichkeit abseits von Krieg und Terror suchen? Womit haben wir es verdient, in Österreich geboren worden zu sein, dass wir so empathielos auf Menschen blicken, die dieses Glück nicht hatten, aber dennoch in Frieden leben wollen? Können wir es uns vorstellen, was es heißt, mitansehen zu müssen, wie Nachbarfamilien von den Alten bis zu den Babies grauenvoll „hingerichtet“ werden? Können wir es uns vorstellen, was es für einen 12 jährigen Buben bedeutet, allen auf den Weg nach Europa geschickt zu werden, nur weil seine Eltern glauben, damit sein Leben retten zu können? Können wir es uns vorstellen, was es heißt, in finsterer Nacht in einem Boot zu sitzen, dessen Motor ausgefallen ist und auf Rettung von außen hoffen zu müssen?
Fawad hat sich um junge Burschen im Lager gekümmert, die ganz offensichtlich schwer traumatisiert waren. Wie er mir erzählte, wurde ihre Notlage oft ausgenützt und sie wurden als Drogenhändler angeheuert und verschwanden in der Illegalität. Da ich einige gekannt habe, sind das für mich verlorene Kinderseelen um die ich trauere, auch wenn sie Straftaten begangen haben, so wie ich um jeden jungen Menschen trauere, der auf die schiefe Bahn gekommen ist.
Ich weiß, dass wir nicht die ganze Welt retten können, aber dort wo Not und Leid so offensichtlich ist, müssen wir hinschauen, wenn wir nicht verrohen wollen. Es kann doch nicht so schwer sein, zu differenzieren. Brutale Straftaten sind durch nichts zu entschuldigen, auch nicht durch das Aufwachsen in einem völlig zerstörten Land unter zerstörten Menschen, aber es grenzt fast an ein Wunder, dass die überwiegende Mehrzahl derer, die bei uns Zuflucht gesucht haben, hier nichts anderes wollen, als in Frieden zu leben und sich eine Existenz aufzubauen.
Mittlerweile ist das vielen gelungen. Auch Fawad hat einen Job und konnte nach mühsamen Anläufen, wo wir dachten, das Ansuchen an das Amt für Fremdenwesen und Asyl landet nur im Papierkorb, seine junge Frau nachkommen lassen. Gelungene Integration erleben wir überall. Im Supermarkt, am Markt, in der Gastronomie. Viele Zugewanderte bereichern unsere Gesellschaft und sind dankbar, weil sie wissen, dass so wie sie hier leben können, nicht selbstverständlich ist. Aber es sind natürlich auch Menschen zu uns bekommen, die aus welchen Gründen immer, viel kriminelle Energie in sich tragen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Kriminalität bei uns nur zu geringem Teil ein Problem der Zugewanderten ist, sondern auch ein hausgemachtes. Die vielen Frauenmorde des heurigen Jahres haben vor allem Österreicher zu verantworten. Da ich der festen Überzeugung bin, dass das „Böse“ vor allem ein Mangel an „Gutem“ ist, plädiere ich dafür, alles zu tun, die Spielräume des Guten zu erweitern und dem Bösen, so weit es geht, den Nährboden zu entziehen. Das wäre eine Aufgabe, die sich für uns alle lohnt. Dahinein müsste eine verantwortungsbewusste Bundesregierung viel Kraft und Geld investieren, Feindbildpflege scheint manchen da der billigere Weg – aber der wird uns noch teuer zu stehen kommen.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.