Bankrotterklärung der Menschlichkeit
Die 3 Mädchen sind in Österreich geboren und fast durchgehend aufgewachsen. Sie waren bestens integriert, besuchten das Gymnasium, hatten FreundInnen, hatten ihr soziales Umfeld in Österreich. Eltern, LehrerInnen und MitschülerInnen haben sich für sie eingesetzt.
Etwa 160 Menschen - darunter Politiker der NEOS, SPÖ und der Grünen - fanden sich gegen 3 Uhr morgens vor dem Abschiebezentrum Simmering ein, um dagegen zu protestieren. [1]Die Polizei löste unter Einsatz von Hunden die Kundgebung auf - Bilder, die schon fast an Weißrussland erinnern. Hier wird Härte gezeigt, die bei den Anti-Corona-Kundgebungen eher angebracht wäre.
Herr Nehammer beruft sich auf Recht und Gesetz (höchstrichterliche Entscheidung, der Folge zu leisten ist,) Die Familien hätten keinen Anspruch auf Asyl gehabt, sie hätten sich bereits Jahre lang illegal in Österreich befunden, mehrfach der Abschiebung entzogen und die Verfahren in die Länge gezogen. Die Eltern hätten verantwortungslos gehandelt, denn sie wussten ja, dass sie nicht in Österreich bleiben konnten.
Recht oder Gerechtigkeit?
Dem Recht mag genüge getan worden sein. Auf der Strecke bleiben Menschenrechte, Kinderrechte und Humanität.
Offen bleibt auch die Frage, warum mit solcher Härte gegen diese Familien vorgegangen wurde, warum es ein Polizei-Großaufgebot braucht, um Menschen aus den Betten zu holen und in einen Bus zu setzen.
Bundespräsident Alexander van der Bellen brachte es auf den Punkt:
"Ich kann und will nicht glauben, dass wir in einem Land leben, wo dies in dieser Form wirklich notwendig ist, gerade wenn Kinder die Hauptleidtragenden sind".
Kein "humanitäres Bleiberecht"?
Im § 55 des Asylgesetzes ist ein Aufenthaltsrecht zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikels 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Dabei geht es letztlich um eine Interessensabwägung: Dauer und Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, familäre Situation, Sprachkenntnisse, Schulbesuch spielen eine Rolle, auch die Frage, wer für ein langes Verfahren die Verantwortung trägt. Dem gegenüber steht das Interesse des Staates auf ein geordnetes Fremdenwesen. § 56 enthält eine Kann-Bestimmung, aufgrund derer nach 5jährigem durchgehendem Aufenthalt (davon mindestens die Hälfte, jedenfalls aber 3 Jahre legal sein müssen) der ein Aufenthaltsrecht gewährt werden.[2]
Dazu kommt eine Kann-Bestimmung mit dem Paragrafen 56. Hier kann nach einem zumindest fünfjährigen durchgängigen Aufenthalt, wobei davon mindestens die Hälfte - jedenfalls aber drei Jahre - rechtmäßig gewesen sein muss, auf Antrag ein Aufenthaltsrecht gewährt werden. Laut dem Rechtsanwalt der Familien wurden die Anträge auf humanitäres Bleiberecht beim Bundesamt für Fremdenrecht und Asylwesen im Mai 2020 gestellt. Das BFA müsse innheralb von 6 Monaten entscheiden, habe aber die Anträge nicht einmal bearbeitet. [3]
Forderungen nach einer Härtefallkommission werden nun wieder laut. So etwas ähnliches gab es bereits im Innenministerium. Vertreter von Gemeinden, humanitären oder kirchlichen Einrichtungen kamen hier zu Wort. 2014 wurde mit der Gründung des BFA diese Konsultationsebene abgeschafft. Das humanitäre Bleiberecht wurde ausgehöhlt.
NGOs fordern seit langem ein modernes Aufenthaltsrecht Unzählige Male schon haben Gemeinden, lokale und soziale Initiativen, VertreterInnen von Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft, gefordert, dass gut integrierte, ausgebildete und beruflich verankerte AsylwerberInnen im Land bleiben dürften. Bislang erfolglos.
Machtspielereien
Es wäre auch ein Gebot der Stunde, das Staatsbürgerschaftsgesetz zu ändern. Es grenzt ja ans Absurde, wenn aufgrund des Abstammungsprinzips[4] Kinder aus seit Jahrzehnten hier lebenden Migrantenfamilien nicht österreichische StaatsbürgerInnen sind,[5] sondern die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern besitzen. Und wer ÖsterreicherIn werden will, hat einige Hürden und Kosten[6] vor sich. Dagegen haben 10 EU-Staaten längst das "Geburtsortprinzip" ( ius soli)[7] eingeführt. Dass dies in Österreich immer noch abgelehnt wird, hat Gründe und Folgen. Das Geburtsortprinzip würde einigen tausend jungen Menschen mit "Migrationshintergrund" eine leichtere Integration im Ausbildungs- und Berufsleben und die politische Partizipation ermöglichen. Dies liegt aber ganz offensichtlich nicht im Interesse des großen Koalitionspartners. ÖVP-Sicherheitssprecher Mahrer bezeichnete die Forderung nach Änderungen des Staatsbürgerschaftsrechts als "aktuell nicht am Tisch"[8]
Verständlich: Der türkisen ÖVP geht es ja darum, das rechte Spektrum ihrer Wählerschaft nicht der FPÖ zu überlassen. Und sie muss natürlich - nach dem Desaster um das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung - dort Härte zeigen, wo es schutzwürdige Familien und Kinder betrifft.
Dem Vorsitzenden der Österreichischen Bischofskonferenz ist zuzustimmen, wenn er feststellt: "Die erschütternden Bilder von der Abschiebung von Kindern durch ein polizeiliches Großaufgebot zeigen auf eindrückliche Weise, dass eine Entpolitisierung und Versachlichung des Instruments des humanitären Bleiberechts in Härtefällen dringend notwendig ist".
Aufstehen und Einstehen für Menschlichkeit
Kirchen, Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft sind erschüttert über diese Abschiebungen. Rechtsprinzipien auf Kosten der Menschlichkeit durchzusetzen, Ein Nacht-und-Nebel-Polizeieinsatz gegen Kinder... Die Asyl- Flüchtlings- und Migrationspolitik in diesem Land ist seit Jahren von stetigen Verschärfungen gekennzeichnet. Die Weigerung des Bundeskanzlers, Flüchtlingskinder aus Moria oder Kara Tepe aufzunehmen, laufende Abschiebungen auch in nicht sichere Drittländer wie Afghanistan... das ist eine Politik der Abschreckung, die für das reiche Österreich beschämend ist.
Gemeinsam müssen wir Zeichen dafür setzen, das dies nicht die Politik ist, die wir wollen. Zeichen gegen wachsende Fremdenfeindlichkeit. Es ist eine breite Plattform, die sich formiert für Flüchtlinge, für Integration und Menschlichkeit.
[1] https://www.vienna.at/polizei-loeste-protest-gegen-abschiebung-von-schuelerinnen-in-wien-auf
[2] https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/
https://www.bfa.gv.at/201/Aufenthaltstiteln_aus_beruecksichtigungswuerdigen_Gruenden/start.aspx
[3] https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/
[4] https://www.oesterreich.gv.at/lexicon/A/Seite.991520.html
[5] https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10005579
[6] https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10005579
https://www.wien.gv.at/verwaltung/staatsbuergerschaft/ahs-info/verleihung-kosten.html
[7] https://www.oegfe.at/stellungnahmen/das-geburtsortsprinzip-in-den-laendern-der-eu/
[8] https://wien.orf.at/stories/3087133/
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.