Die zerbrechliche Demokratie
So gesehen haben diejenigen, die jetzt gegen die Beschränkungen demonstrieren, durchaus berechtigte Gründe, Kritik an den Corona-Maßnahmen zu äußern und politische Verantwortung einzufordern.
Freiheit und Verantwortung
Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind Grundrechte der Demokratie. Jede/r hat das Recht auf eine eigene Meinung und auch das Recht, diese öffentlich kund zu tun.
Es ist eine breite Vielfalt von Personen und Gruppierungen mit unterschiedlichen Motiven, die bei diesen Demonstrationen oder "Spaziergängen" mitmacht. Oft sind es Menschen, die sonst eher nicht zum Aktivismus neigen, die ihrer Sorgen um ihre Arbeitssituation oder ihrem Ärger über die Schulschließungen Ausdruck geben.
Aber es gibt da noch einige andere Aspekte:
Persönliche Rechte und Freiheiten enden aber dort, wo die Demonstrierenden sich selbst und andere gefährden, weil sie weder Mund-Nasen-Schutz tragen noch Sicherheitsabstände einhalten.
Freiheit ist immer mit Verantwortung, Rechte sind auch mit Pflichten verbunden. Eine grenzenlose Freiheit kann es nicht geben. Wer lautstark gegen Impfzwang und "Maske" schreit und darauf pocht, ein Leben ohne Beschränkungen führen zu wollen, zeigt weder Widerstandsgeist noch Kritikfähigkeit sondern bloß ausgeprägten Egoismus. Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind ein hohes Rechtsgut, das nicht einfach beschränkt werden darf[1]. Wenn aber DemonstrantInnen durch ihr Verhalten die öffentliche Gesundheit gefährden, kann ein Demonstrationsverbot oder die Auflösung einer Kundgebung geboten sein.
Widerstandsbewegung?
Anti-Corona-Kundgebungen gleiten ins Groteske ab, wenn lautstark gegen die "Corona-Diktatur" protestiert wird. Was eine Diktatur ist und wie sie mit DemonstrantInnen verfährt, beweisen Herr Lukaschenko und Herr Putin zur Zeit sehr eindeutig, wie die Bilder aus den Städten Russlands und Weißrusslands und die tausenden Inhaftierten vor Augen führen.
Und wenn sich die DemonstrantInnen mit der Widerstandsbewegung der "Weißen Rose" im NS-Regime vergleichen oder nachgeahmte Judensterne tragen, dann ist das schlichtweg eine Verhöhnung aller Opfer des Nationalsozialismus.
Bemerkenswert ist auch die Position der FPÖ, die sich neuerdings als Verteidigerin gegen die Demokratiegefährder (die Bundesregierung) in Szene setzt[2] . Zudem mischen Alt- und Neo- Nazis und Identitäre wie Martin Sellner gemeinsam mit Herrn Strache und Herrn Schnedlitz (FPÖ-Generalsekretär) in solchen Kundgebungen mit. Auch Herr Kickl poltert lautstark gegen den Corona-Wahnsinn. Dass die FPÖ es mit der Abgrenzung nach Rechts nicht so genau nimmt, ist hinreichend bekannt und wird hier wieder einmal unmissverständlich bewiesen.
In Österreich und auch in Deutschland oder den Niederlanden nutzen Rechte und rechtsextreme, zum Teil gewaltbereite Bewegungen wie QAnon oder die "Querdenker" die Gelegenheit, diese Demonstrationen für sich zu vereinnahmen, wobei, die Bilder aus den Niederlanden teilweise von Sachbeschädigungen, Plünderungen und Gewalt geprägt waren.
Nochmal: es geht nicht darum, öffentlich Kritik an den Maßnahmen der Regierung oder Bedenken gegen die COVID-Impfungen zu äußern. Wenn aber bizarre Verschwörungstheorien propagiert, die Pandemie und ihre Folgen geleugnet werden und Freiheit mit Gewalt eingefordert wird, dann sind die Grenzen der Freiheit ausgereizt.
Bestärkt werden diese verschiedenen Gruppierungen durch die sogenannten "sozialen Medien", in denen auch schon Aufrufe zur Gewalt, zur Besetzung des Parlaments, oder zum Sturz der Regierung aufgerufen wurde.[3] Die FAZ trifft mit ihrer Charakterisierung den Kern: ..."(E)in buntes Häuflein, in dem der abgehalfterte Strache neben dem ihm wohlbekannten Neonazi Küssel und dem Rechtsaußen-Aktivisten Sellner marschiert, aber auch eher harmlose, besorgte Bürger anzutreffen sind. Es ist – ähnlich wie in Deutschland – eine kniffelige Aufgabe, hier zu differenzieren und die Extremisten zu isolieren. [4]
Diese Entwicklungen sind mehr als bedenklich. "Das Spektrum der "Querdenker"-Bewegung, die gegen Corona-Maßnahmen protestiert, sorgt seit Monaten für eine erhöhte Gefährdungslage. Verfassungsschützer und andere Sicherheitsexperten sind sich einig, dass sich hier binnen rascher Zeit eines der explosivsten Phänomene zusammengebraut hat."[5]
Vertrauensverlust
Ein Grund dafür liegt in den pandemiebedingten psychischen und wirtschaftlichen Belastungen, die für einen großen Teil der Bevölkerung immer schwerer ertragbar sind. m Während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 wurden die Beschränkungen weitgehend akzeptiert, Solidarität wurde gezeigt, kreative Ermutigungsinitiativen gesetzt. Derzeit sind immer mehr Unmut, Verunsicherung und Angst spürbar. Das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen, und damit der Zorn (auf die eigene Ohnmacht, aber auch auf die wahrgenommene Macht und Ineffizienz der Regierung wachsen. Das beweist auch das steigende Bedürfnis nach psychotherapeutischer Begleitung. Zugleich wächst auch das Misstrauen gegen die Wissenschaft. Weder Politik noch Wirtschaft noch Medizin scheinen Schutz und Problemlösungen anzubieten.
Laufend neue, wenig verständliche und oft widersprüchliche Experten-Aussagen zu COVID-19 verstärken Unsicherheit und Angst. Immer noch haben Politik und Wissenschaft das Virus und seine gesellschaftlichen Folgen nicht im Griff. Es ist den Maßnahmen zur Bekämpfung immer noch einen Schritt voraus. Die wirtschaftlichen Folgen sind nicht wirklich absehbar. Wir sind konfrontiert mit einer Entwicklung, die nicht berechenbar ist, die Unsicherheit schafft nach Jahrzehnten der relativen Sicherheit, des Wohlstandes, des sozialen "Weiterkommens". Das alles ist nun in Frage gestellt. Eine definitive Antwort auf die Frage: "Wie lange noch?" ist nicht in Sicht.
Unter diesen Voraussetzungen haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur. Diese Entwicklung konnte man in den USA seit der Wirtschaftskrise 2008 beobachten.
Gründe und Hintergründe
Woher kommt diese Haltung: Offenbar einerseits aus der Wahrnehmung der Ausgrenzung, des sozialen und wirtschaftlichen Abstiegs, des Allein-Gelassen-Seins mit den aus eigener Kraft nicht lösbaren Problemen. "Die da oben", die politischen "Eliten", interessieren sich nicht für uns, von ihnen haben wir nichts mehr zu erwarten. Das führt zur Suche nach einfachen Antworten und Leitfiguren, die solche Antworten geben: "Heimat" und Identität statt Globalismus und Vielfalt. Feindbilder wie Rassismus, Antisemitismus, Xenophobie entstehen da ganz von selbst. Der Slogan "Heimatschutz statt Mundschutz" bei der Wiener Demo mag dafür ein Beispiel sein. Die Vernunft bleibt da leicht auf der Strecke. Rechte, rassistische, gewaltbereite Bewegungen nutzen solche Stimmungen und Ängste aus und instrumentalisieren die Anti-Corona-Kundgebungen. Es geht ihnen nicht darum, eine andere Politik von den Entscheidungsträgern einzufordern. Für sie sind die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die "Eliten",... Feindbildern, die es - auch mit Gewalt - zu bekämpfen gilt. Dabei spielen die sogenannten "sozialen Medien" eine unrühmliche Rolle, tummeln sich doch auf ihren Plattformen Verschwörungstheoretiker, Fundamentalisten und Extremisten aller Spielarten. Diese schüren unter dem Vorwand der "Freiheit" eine Fundamentalopposition gegen "das System". Und einem weiteren lautstarken Segment der DemonstrantInnen geht es nicht um ein allgemeines gesellschaftliches Gut sondern um ihre persönlichen Freiheiten.[6] Dies unterscheidet die Anti-Corona-Demonstrationen von den Klimademonstrationen 2019, oder der Anti-Atom- und Friedensbewegung der 80er Jahre.
Demokratie ist nicht selbstverständlich
Wir haben es mit einer gewaltigen Herausforderung an unsere Demokratie, an unsere Gesellschaft, zu tun. Was uns die jüngsten Ereignisse in den USA vor Augen geführt haben, ist die Verletzlichkeit dieser Demokratie und ihrer Institutionen. Und zwar von 2 Seiten her:
Die Maßnahmen gegen COVID-19 beschränken selbstverständliche demokratische Rechte und Freiheiten.
Rechtsextreme Bewegungen und Verschwörungstheorien bekämpfen unsere Demokratie und ihre Institutionen, indem sie vorgeben, dagegen Widerstand zu leisten.
Es ist notwendig, diese Bewegungen und Ideologien zu stoppen.
Das heißt für die Politik:
- die Verunsicherungen, die Ängste, die Lebenssituationen der Menschen ernst zu nehmen.
- entsprechende Maßnahmen zu setzen, insbesondere zur Unterstützung derer, die zu den Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklung zählen.
- politische, soziale und wirtschaftliche Entscheidungen klar und verständlich zu kommunizieren, damit die Menschen sie nachvollziehen und mittragen können.
Es braucht einen Dialog auf Augenhöhe zwischen den politischen EntscheidungsträgerInnen und den betroffenen Bevölkerungsgruppen, um Vertrauen wieder herzustellen. Politik darf nicht zur narzisstischen Selbstdarstellung verkommen.
Die Pandemie hat die Spaltung der Gesellschaft verschärft, die Ungleichheit zwischen Reich und Arm, zwischen Gewinnern und Verlierern, verstärkt. Politik wird Maßnahmen einer neuen Verteilungsgerechtigkeit und ökologischer Zukunftsfähigkeit setzen müssen.
Die Macht der sogenannten "sozialen" Medien muss beschränkt werden. Auch wenn Twitter und Facebook endlich Donald Trumps Konten gesperrt haben: Angela Merkel hat ein klares Wort ausgesprochen :Es darf nicht in die Macht von Google oder Facebook gelegt werden, was publiziert und was zensuriert wird.
Ganz besonders geht es aber auch darum, dass wir uns dessen bewusst werden, dass Demokratie gelebt und praktiziert werden muss, dass Diskurs und Dissens zu ihrem Wesen gehören und dass Politik zwar Auseinandersetzungen und GegnerInnen, aber keine Feinde kennt. Es sollte auch den politischen Parteien weniger um die Durchsetzung ihrer Ansprüche als um das Wohl der gesamten Gesellschaft gehen.
"Wir haben wieder begriffen, dass Demokratie kostbar ist. Demokratie ist zerbrechlich."[7] Diese Worte sprach Präsident Joseph R. Biden in seiner Inaugurationsrede am 20. Jänner 2021.
Und es braucht unser aller Wachsamkeit und Zivilcourage, um die demokratischen Gesellschaften zu sichern und zu bewahren.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.
[1] Thomas Hödlmoser in Salzburger Nachrichten vom 30. Jänner, Wochenende, S 2-3
[2] FPÖ-Sicherheitssprecher Amesbauer; https://www.fpoe.at/artikel/fpoe-amesbauer-drohgebaerden-des-anti-terror-versagers-im-innenministerium-werden-buerger-nicht-eins/
[3] https://www.derstandard.at/story/
[4] https://www.faz.net/aktuell/politik/corona-protest-in-wien-mit-extremisten-17150794.html
[5] https://www.derstandard.at/story/2000122092831/; Wie-gefaehrlich-sind-die-querdenker; DIE ZEIT vom 21. 01. 21, S 7
[6] Thomas in Salzburger Nachrichten vom 30. Jänner, Wochenende, S 2-3
[7] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/01/20/inaugural-address-by-president-joseph-r-biden-jr/