Umfassende Solidarität
Dennoch kann ich mich eines schalen Beigeschmacks nicht erwehren, den diese Zeichen von Menschlichkeit in einer außer Rand und Band geratenen Weltordnung in mir erwecken. Denn die rückhaltlose Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine, die notwendenden und sinnvollen Vergünstigungen, die ihnen zuteil werden, zeigen leider auch, dass für unsere Regierung, aber auch für unsere Bürgerinnen und Bürger, Menschenleben eben nicht gleich viel wert sind. Denn auf Lesbos leben seit Jahren Mütter und Kinder unter schrecklichsten Bedingungen. Ihr Leben zählt so wenig, dass wir nicht einmal bereit waren, ein paar hundert von ihnen aufzunehmen.
Die Flüchtenden aus außereuropäischen Ländern sind nicht per Auto, Bahn und Bus bei uns angekommen. Sie mussten für ihre Fluchtrouten teuer bezahlen und in lebensgefährlichen Schlauchbooten und zu Fuß den Weg in vermeintlich sichere Länder auf sich nehmen. Dennoch wird ihnen unterstellt, keine Fluchtgründe zu haben, obwohl in ihren Heimatländern zumeist Kriege, Hungersnöte und Elend das Leben beherrschen. Polen, das dankenswerterweise großzügig die Flüchtenden aus der Ukraine aufnimmt, verjagt alle außereuropäischen Flüchtlinge brutal von seinen Grenzen und lässt sie in den angrenzenden Wäldern frieren und hungern.
Es mag Hilflosen Hilfsbereitschaft geschuldet sein, dass die Solidaritätsaktion der Katholischen Frauenbewegung von manchen Pfarren in eine Ukraine-Spendenaktion umfunktioniert wird. Dabei wird übersehen, dass die Spenden für die Projekte der Aktion Familienfasttag Frauen zugute kommen, die zum Beispiel in Kolumbien und auf den Philippinen seit Jahrzehnten unter kriegerischen Bedingungen ihr Überleben sichern müssen. Manche von ihnen kennen nichts anderes als ein Flüchtlingsdasein. Ihr Schicksal rührt nicht so unmittelbar, weil es uns nicht täglich im Fernsehen gezeigt wird, aber wir haben alle Herz und Verstand, die uns sagen, dass wir nicht die einen zulasten der anderen unterstützen sollten.
Aus Afghanistan wurden nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht einmal verfolgte Frauen von uns aufgenommen. Die Regierung berief sich dabei darauf, dass das die Bürgerinnen und Bürger so wollen. Ja, Afghanistan ist weit weg und 40 Jahre Krieg sind für uns sowieso nicht vorstellbar. Derzeit hungern in diesem Land mehr als 20 Millionen Menschen, weil die USA die afghanischen Gelder einbehalten haben. Sie wollen die Taliban treffen, aber sie treffen damit hungernde Frauen und Kinder. Fawad, unser afghanischer Freund hat mit anderen 2015 geflüchteten Landsleuten eine Spendenaktion organisiert. Es gibt jeder was er kann und um das Geld wird dann in Afghanistan von Vertrauensleuten Mehl, Reis, Zucker und Öl gekauft und an Hungernde verteilt. So schnell hat sich das Blatt gewendet und aus Hilfsbedürftigen wurden Helfende. Dass sie alle ihre dort verbliebenen Familien unterstützen, ist ja sowieso selbstverständlich.
Es ist nämlich so, dass die meisten der 2015 zu uns Geflüchteten mittlerweile Arbeit gefunden und sich eine Existenz aufgebaut haben. Ohne sie wäre unser Handwerker-Mangel noch viel gravierender. Aber auch die Hilfsbereitschaft dieser Menschen hört nicht bei den eigenen Landsleuten auf. Fawad hat mich gefragt, wie er den Ukraine-Flüchtlingen helfen kann.
Ein Innenminister, der heute Kanzler ist, sagte mal „2015 darf sich nicht wiederholen“ und er hat ganz recht damit, auch wenn er es anders gemeint hat. In der derzeitigen Flüchtlingskrise darf die Hilfs- und Spendenbereitschaft nicht wie damals in Ablehnung und Abneigung umschlagen, wenn die ersten sentimentalen Aufwallungen vorüber sind. Wir werden in Zukunft noch viel Solidarität mit Menschen in Not und einen langen Atem brauchen. Was wir aber vor allem brauchen, ist eine umfassende Solidarität, die nicht nur die Not in der Nachbarschaft wahrnimmt, sondern die Welt im Blick hat. Denn erst dieser Blick ermöglicht eine Haltung, die nicht zum Spielball unserer leicht entflammbaren, aber auch wieder sehr schnell erkalteten Emotionen wird.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.