Niemals wieder
Meine Generation hatte sich, nachdem wir „auferstanden aus Ruinen“ das Leben neu ordneten, den optimistischen Leitspruch „Niemals wieder“ zugelegt. Nie wieder Krieg, nie wieder Rassismus. Darauf baute unser Selbstverständnis, unsere Weltsicht und unser Menschenbild auf. Das Grauen des Kriegs und die Gräuel der Shoa waren als Erfahrung so tief in unseren Seelen verankert, dass es undenkbar schien, in diese Barbarei zurückzufallen. Die Erschütterung darüber, dass hoch entwickelte Technik und Wissenschaft sich in den Dienst einer Militärmaschinerie stellte und dafür verantwortlich war, millionenfache Vernichtung industriell zu organisieren, saß so tief, dass eine Wiederholung undenkbar schien.
Das war allerdings von Anfang an eine Fiktion. Wenn überhaupt, dann galt das „niemals wieder“ höchstens für Europa, denn wir haben erst sehr spät darüber hinaus zu schauen gelernt und mussten schmerzhaft erfahren, dass außerhalb Europas diese Barbarei mit immer ausgefeilteren technischen Möglichkeiten weiter existiert. Ausbeutung, Vertreibung, politische Morde und Folter sind in vielen Teilen der Welt Alltag. Auch dass wir Europäer und Europäerinnen daran wesentlich beteiligt sind, erschütterte unsere Selbstgewissheit.
Dennoch, war es für mich ein Schockerlebnis, als 1991 plötzlich Kampfflugzeuge an unserer südlichen Grenze auftauchten und ein unvorstellbar grausamer Krieg im zerfallenden Jugoslawien mitten in Europa wütete. Wie primitiv da auf allen Seiten Kriegspropaganda betrieben wurde und die europäische Union keinen Ausweg aus dieser vorzivilisatorischen Freund-Feind-Logik fand, machte mir Angst. Mein Lebensgefühl des „niemals wieder“ war zerbrochen.
Jetzt scheint es wieder so weit zu sein. Das Säbelrasseln im Osten Europas offenbart die Unfähigkeit der Regierungen Konflikte anders auszutragen, als durch Kriegsdrohungen und Aufrüstung. Das völlige Unverständnis gegenüber den Ängsten und Ansprüchen der anderen Seite zeugt von einem auf vorpubertärem Niveau steckengebliebenem Denken derer, die Verantwortung tragen. Noch viel deprimierender aber ist, dass die Medien ebenfalls in dieses hysterische Kriegsgeheul einstimmen. Da ist von der gefährlichen Doktrin „Willst du den Frieden, dann bereite den Krieg vor“ die Rede. Es schienen sich alle in eine Sackgasse zu manövrieren. Mir graut davor, tatenlos zusehen zu müssen, wie die „Staatenlenker“ Europa wieder zu einem Kriegsschauplatz machen wollen. Die Weisheit, zu versuchen in den Schuhen des Gegners zu gehen, besitzt sichtlich niemand. Ja, Putin ist ein autokratischer Herrscher, aber wie haben sich die demokratischen Präsidenten der USA verhalten, als ihr Hinterhof Lateinamerika sich von ihnen abzuwenden drohte? Sie organisierten Militärputschs in Chile, Argentinien, ganz zu schweigen von Nicaragua. Auch bei der Machtergreifung Bolsonaros in Brasilien wird es sich erweisen, dass die USA ihre Hand im Spiel hatte.
Dennoch ist das Kriegsgerassel in den letzten Tagen leiser geworden. Mag sein, dass ich naiv bin, aber ich vermute hinter dem Einlenken der Kriegstreiber, dass sie merken mussten, ihre Bevölkerungen scheinen trotz aller politischer und medialer Aufrüstung dem Slogan der Friedensbewegung „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“ zuzuneigen. Weder in Russland noch in der Ukraine und in der EU ließen sich die Menschen trotz allen nationalistischen Getöses für einen Kampf mobilisieren. Es scheint, dass wir Bürgerinnen und Bürger nicht so machtlos sind, wie wir oft denken. Aber für die Zukunft wäre es schön, wenn das Wissen um und die Arbeit an nicht militärischen Konfliktlösungsstrategien zur Grundausstattung jedes Politikers und jeder Politikerin gehörte. Dazu wurde schon viel geforscht und es gibt diesbezüglich einen großen Wissensschatz – es müsste nur das Interesse daran bestehen, aus diesem kindischen „Aug um Aug – Zahn um Zahn“ auszubrechen.
Das zweite „niemals wieder“ galt dem Rassismus. Der in der Pandemie wieder vermehrt aufgeflammte Antisemitismus hat auch diesen Grundkonsens in Frage gestellt. Wieso ist das so? Ich denke, dass das ein Thema für uns Christinnen und Christen sein muss, weil die Kirchen in der Vergangenheit sehr viel Schuld auf sich geladen haben, auch wenn seit dem 2.Vat. Konzil eine totale Abkehr von dieser Verirrung des Antijudaismus vollzogen wurde. Es muss aber einbekannt werden, dass der ursprünglich christliche Antijudaismus tiefe Spuren in unserer kulturellen DNA hinterlassen hat, sodass die Nazis leichtes Spiel hatten, losgelöst von religiösen Begründungen, den Judenhass in den Seelen der Menschen zu verankern. Sie nutzten tief verwurzelte Vorurteile um die industrielle Verfolgung und Ermordung von Menschen „gesellschaftsfähig“ zu machen, aber nicht einmal der Schock darüber hat die wahnhafte Idee Antisemitismus beseitigen können.
In diesem Zusammenhang war es für mich spannend, als unser afghanischer Freund als Begründung dafür, weshalb wir uns so gut verstehen, anführte, dass wir gemeinsame Wurzeln hätten, wir wären eben beide Arier. Bei mir klingelte es da, habe ich doch als skurriles historisches Relikt die „Ariernachweise“ meiner Eltern und Schwiegereltern in Erinnerung. Von diesen pseudowissenschaftlichen, rassistischen Kategorisierungen einer finsteren Zeit, nämlich die Einteilung der Menschen in Arier, Semiten usw. haben wir uns nicht ganz freiwillig, verabschiedet. Sie haben sich allerdings selbst ad absurdum geführt, denn niemand von uns fühlt sich noch als „Arier“, also als Teil einer „Indogermanischen Rasse“, der europäische, indische und iranische Menschen vorgeblich angehören. Gleichzeitig hat sich die Einheit „Semiten“ zu denen sich jüdische und arabische Menschen zugehörig fühlen sollten, angesichts der Kämpfe, die sich zwischen Juden und Arabern in Israel und dessen Nachbarländern abspielen, ebenfalls als obsolet erwiesen.
Was aber sicher geblieben ist, das ist der gegen Juden gewandte Antisemitismus. Er ist tief in allen Weltregionen verankert. Denn auch in islamischen Ländern hat der Antijudaismus eine lange Geschichte und ist nicht erst durch das Unrecht an den Palästinensern entstanden. Er dient derzeit dem extremen Islamismus als Welterklärung.
In Europa hat weder historisches Schuldbewusstsein, noch Aufklärung, Bildung und eigene Erfahrung den Antisemitismus zum Verschwinden gebracht. Es lohnt sich darüber nachzudenken, warum. Zwar ist die Ächtung des Antisemitismus in der westlichen Welt offizieller nicht antastbarer oberflächlicher Konsens, das Geschwür dieses Jahrtausende alten Judenhasses aber pflanzt sich subkutan fort und bricht immer wieder auf. Aus Angst, an Tabus zu rühren, wird über vieles nicht gesprochen. Das war lange Zeit ein Schutz vor offen zur Schau gestelltem Judenhass. Je länger die Shoa zurückliegt, umso weniger aber schützt dieser Konsens vor dem Rückfall in die Barbarei und vor antisemitischen und rassistischen Exzessen. Eine verquere Feindbildentwicklung tut ein Übriges. Muslime wissen sehr wenig vom Holocaust, aber viel von der Behandlung ihrer Glaubensbrüder in Israel. Andererseits schlagen sich Menschen mit einer rechten Ideologie auf die Seite Israels, weil für sie die Muslime derzeit als noch willkommeneres Feindbild herhalten müssen. Das ändert aber nichts an deren grundsätzlichen antisemitischen Haltung. Noch immer sind es hinter meist vorgehaltener Hand die Juden, die schuld daran sind, wenn in unseren Gesellschaften etwas schief läuft.
Aber auch bei uns Christinnen und Christen ist der Antisemitismus nicht überwunden. Viele fühlen sich noch immer im Besitz der Wahrheit und blicken auf andere Religionen und Weltanschauungen herab, ohne sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber wenn man sich selbst nicht anschauen will, leben diese verborgenen Vorurteile weiter und man muss nur ein wenig kratzen und sie treten zutage. Das führt zu grotesken Verdrehungen. Nach außen hin wird ein Philosemitismus zelebriert, aber wehe, wenn wie z.B. in der Waldheim-Affäre die eigene Haltung kritisiert wird, oder Personen wie Tal Silberstein Anlass zu Kritik geben, dann treten die tief verankerten antijüdischen Reflexe ans Tageslicht. Die sind eben nicht nur in den rechten Zirkeln zu Hause, wir tragen sie alle in uns.
Deshalb scheint es im sogenannten bürgerlichen Lager derzeit das einfachste zu sein, seine projüdische Haltung unter Beweis zu stellen, indem man Israels oft kritikwürdige Politik vorbehaltlos unterstützt. Aber den Antisemitismus bekämpft man nicht durch das Gutheißen einer fragwürdigen Politik, die den Palästinensischen Menschen schweres Unrecht zufügt, sondern indem Kritik unter Freunden möglich ist. Gerade weil Israel zum Unterschied von seinen Nachbarstaaten eine Demokratie ist, braucht es auch Kritik auf Augenhöhe, wie gegenüber allen anderen demokratischen Staaten auch. Seinen diktatorischen Nachbarstaaten gegenüber wäre eine solche Kritik fehl am Platz, weil das gemeinsame Fundament fehlt. Bei vielen, die jegliche Kritik an Israel als antisemitisch abkanzeln, habe ich oft das Gefühl, dass sie dadurch ihrem latenten Antisemitismus gegen nicht israelische Juden ein unangreifbares Deckmäntelchen verleihen können.
Gerade wenn wir der Überzeugung sind, dass so etwas wie der Holocaust nie wieder passieren darf, sind wir dazu aufgerufen, überall zu reagieren, wenn Menschen sich über andere erheben und diese herabgewürdigt werden. Die Menschenwürde ist unteilbar. Die Haltung, die sich daraus ergibt, bewahrt vor der gesellschaftlich zerstörerischen Krankheit des Antisemitismus. Denn das „Niemals wieder“ als gesellschaftlicher Konsens meiner Generation gilt leider nicht mehr.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.