Aus der Geschichte lernen?
Vor kurzem sagte Josef Hader in einem Gespräch, dass er als Kind das Geschichtsbuch des jeweiligen Schuljahres schon an dem Tag, an dem er sich abholen konnte, von Anfang bis zum Schluss gelesen hatte. Das rief Erinnerungen in mir wach. Auch für mich waren die Geschichtsbücher heiß ersehnte Lektüre, die ich begeistert verschlang. Wir mussten die Schulbücher damals noch kaufen – meist antiquarisch, aber sie waren in der Nachkriegszeit neben dem „Buchklub der Jugend“ über den man günstige Bücher erwerben konnte, die einzige Möglichkeit den Lesehunger zu stillen. Daneben diente uns der Schulatlas zur Milderung des Fernwehs.
Ich habe Glück gehabt. Meine Geschichte- und Geografielehrerin war eine politisch kluge Frau, die unser kritisches Denken herausforderte. Aber dennoch bestand der Geschichtsunterricht vorwiegend in der Abfolge von Kriegen und der Landverteilung danach. Diese historische Konzentration auf die Kriege begründet bis jetzt Mythen, nationalistische Legenden und Völkerfeindschaften, die immer wieder dann hervorgezaubert werden können, wenn es im Interesse der Mächtigen liegt, den Weg der politischen Auseinandersetzung zu verlassen und neue Kriege anzuzetteln.
In sogenannten Religionskriegen wurden und werden Religionen immer dazu benutzt, handfeste politische und wirtschaftliche Interessen zu verschleiern und das Volk emotional „mitzunehmen“. Das gilt nicht nur für islamische Völker. Europa hat seit dem 30-jährigen Krieg eine ununterbrochene Abfolge solcher Religionskriege. Zuletzt begründete Serbien seine Gewalt gegenüber den Kosovaren damit, dass vor 100en von Jahren die Serben auf dem Amselfeld die christliche Orthodoxie gegen das Osmanische Reich zu verteidigen versucht haben und deshalb der Kosovo heiliger serbischer Boden sei.
Vielleicht liegt es auch daran, dass Geschichte noch immer „His“story ist und „Her“story, also die Geschichte der Hälfte der Menschheit kaum Einzug in die Lehrbücher gefunden hat.
Kurt Tucholsky sagte sinngemäß, dass jedes Kriegsheldendenkmal der Grundstein für neue Kriege setzt. Er sollte leider damit Recht behalten. Die demütigenden Friedensverhandlungen der Sieger nach dem 1. Weltkrieg, die erdrückenden revanchistischen Wirtschaftssanktionen, aber auch die unhistorische Heldenverehrung der Armee als die „im Felde Unbesiegten“, hat den Aufstieg der Nazis und den 2. Weltkrieg erst möglich gemacht.
Darüber sollten wir nachdenken, wenn wir zu Allerheiligen unreflektiert „ich hatt‘ einen Kameraden“ beim Kriegerdenkmal singen, wie es leider noch immer geschieht. In einem Dorf in Frankreich habe ich ein Kriegsdenkmal gesehen, das in Form einer Pieta eine Mutter darstellte, die ihren sterbenden Soldatensohn umfängt. Das hat mich tief beeindruckt – solche Denkmäler sieht man bei uns selten.
Neulich las ich, dass es in Feldbach in der Steiermark Denkmäler für eine Ukrainische SS-Division gibt, die dort auf Seiten der Nazis gegen die Rote Armee gekämpft hat, nur die faschistischen Symbole auf den Gedenksteinen wurden später entfernt, auch in der Kirche gibt es eine Gedenktafel. Es gilt als erwiesen, dass sich diese Division an Massakern gegen die polnische und jüdische Zivilbevölkerung beteiligt hat. Irritierend daran ist die Ignoranz und historische Unbildung der österreichischen Behörden, die diese Denkmäler genehmigt haben.
Man muss also nicht allzu weit gehen, um festzustellen, dass auch die Ukraine ihre Vergangenheit nicht aufgearbeitet hat. Bezeichnend dafür ist auch, dass es heute in der Ukraine einen Kult um den Führer Stepan Bandera gibt, der in der Zwischenkriegszeit ein ukrainischer Nationalist, aber eindeutig auch ein Faschist und glühender Antisemit war. Nach der orangen Revolution wurden in der Ukraine Lenin Denkmäler durch Bandera Denkmäler ersetzt.
Aufhorchen ließ mich auch, als im ORF ukrainische Männer gezeigt wurden, die Molotow-Cocktails bastelten. Einer von ihnen sagte, sie nennen diese Flaschen nicht nach Molotow, sondern nach einem Kämpfer gegen die Sowjetunion. Das kann also nur jemand sein, der auf Seiten der Nazis gekämpft hat. Der Reporter ging auf diese Aussage leider nicht ein. Der ukrainischen Führung ist vorzuwerfen, dass sie sich nie von diesen rückwärtsgewandten und ihren eigenen Mythos bastelnden Gruppierungen distanziert hat. Auch wenn diese nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen, so spielen sie doch Putin mit seinem Nazi-Vorwurf in die Hände. Denn es zeigt, dass nicht nur dieser, sondern auch viele Menschen in der Ukraine einem irrationalen nationalen Mythos anhängen.
Dennoch, man kann Geschichte auch anders lehren und lernen – und ich denke bei uns hat sich da mittlerweile vieles zum Besseren gewendet. Erika Weinzierl und Michael Mitterauer waren in Zeit- und Sozialgeschichte Pionieren für diesen differenzierten Blick auf die Vergangenheit. Außerdem hatten wir das „Glück“ nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg und dem barbarischen Regime, das ihn geführt hatte, um diesen Krieg keinen „Heldenmythos“ aufbauen zu können.
Umso erschütternder ist es, wenn der Österreichische Parlamentspräsident in einer einzigen Fernsehdiskussion atemberaubende historische Vergleiche zieht. Noch dazu ist dieser Mann studierter Historiker und hat sein Geschichtsbild als Lehrer verbreiten können. Wolfgang Sobotka legte der ukrainischen Bevölkerung nahe, nicht zu flüchten, sondern ihr Land zu verteidigen, so wie wir 1945 auch nicht geflüchtet seien. Was meint er damit? Dass wir damals unser Land gegen die Alliierten verteidigt haben und dass diese nicht Befreier sondern Eroberer waren?
Da hilft keine Entschuldigung, das rutscht einem nicht so heraus, dahinter steckt ein unreflektiert falsches Geschichtsbild. Um noch eins draufzulegen, behauptete er dann, er könne den Vorsitz im Untersuchungsausschuss nicht zurücklegen, denn das könnten dann auch die 2. Nationalratspräsidentin und auch der Dritte tun und dann wären wir wieder wie im Jahr 1933 bei der Ausschaltung des Parlaments angekommen. He?? Soll das heißen, die Errichtung der austrofaschistischen Diktatur durch Dollfuß war zwangsläufig eine Folge des Rücktritts der Parlamentspräsidenten? Da wundert einem nichts mehr, auch nicht, dass im Heimatort des neuen Innenministers ein geschichtsrevanchistisches Dollfußmuseum besteht und eine Engelbert Dollfußkapelle auf der Hohen Wand.
All diese Beispiele stimmen nicht sehr hoffnungsvoll bezüglich des Lernens aus der Geschichte. Aber dennoch ist es für die psychische Hygiene unerlässlich, sich mit Vergangenem auseinanderzusetzen, denn ohne Selbstreflexion und Selbstkritik tappen wir immer wieder in die gleiche manipulative Falle jener, die die Geschichte für ihre Zwecke missbrauchen.
Beginnen können wir damit, kriegerische Heldenfiguren zu entzaubern und jene Frauen und Männer im historischen Gedächtnis zu verankern, die für Völkerversöhnung, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung eingesetzt haben. Es wäre Aufgabe der Geschichtswissenschaft, aber auch der Politik, ihnen jenen öffentlichen Platz einzuräumen, den sie verdienen. Rosa Mayreder und Bertha von Suttner haben es immerhin auf die Schilling-Noten geschafft – aber das ist lange her.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.