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Ausland Jerusalem

Wie die säkularen Juden die Stadt zurückerobern

Das "Smadar" Kino in Jerusalem, Rückzugsort für säkulare Juden. Das "Smadar" Kino in Jerusalem, Rückzugsort für säkulare Juden.
Das "Smadar" Kino in Jerusalem, Rückzugsort für säkulare Juden.
Quelle: Gil Yaron
Lev Smadar ist das älteste Kino Jerusalems, und eines der letzten Refugien weltlicher Kultur in der Heiligen Stadt. Eine Bürgerinitiative rettete es vor der Schließung – und setzt damit ein Zeichen.

„Eigentlich bin ich Kapitalist, denke nur an mich und meine Familie“, sagt Yoash Ben Jitzchak, schaut von der Terrasse eines Hochhauses in Tel Aviv auf die Strandpromenade und nimmt noch einen Schluck von seinem Bier. Der 38-Jährige trägt Markenjeans und ein glattgebügeltes Hemd, er ist Sprecher des Industrieverbands.

Aber es war nicht nur die Sorge um das eigene Interesse, das ihn vor wenigen Wochen zum Aktivisten machte. Das älteste Kino Jerusalems sollte geschlossen werden, ein Zufluchtsort für die säkularen Juden der Stadt – wie Ben Jitzchak einer ist. Er schritt zur Tat, mobilisierte über Facebook Tausende, die versprachen, für umgerechnet 135 Euro ein Abonnement für 14 Filme zu kaufen. Das wurde die Grundlage für einen Rettungsdeal mit den Eigentümern und der Stadtregierung.

Es geht dabei um viel mehr als ein Kino. „Lev Smadar – das ist das letzte Symbol des „normalen“ Jerusalem – eine extraterritoriale Enklave, in der man den Streit um die Heilige Stadt für ein paar Stunden vergessen kann“, sagt Jitzchak.

Die säkularen Juden sind in Jerusalem eine Minderheit, und sie verlassen die Stadt in Scharen. Im Jahr 2015 zogen rund 18.000 Jerusalemer – mehrheitlich junge, säkulare Juden – in andere Städte. Wer wie Ben Jitzchak bleibt, klagt: „Immer mehr Wohnviertel werden orthodox. Man bekommt das Gefühl, dass die Orthodoxen unseren Lebenswandel bestimmen wollen.“ Einer der wichtigsten Streitpunkte ist der Sabbat, und wer am heiligen Ruhetag Geschäfte machen darf. Lev Smadars Sonderstatus rührt daher, dass es eine der wenigen Kulturstätten ist, die samstags geöffnet sind.

Yoash Ben Jitzchak, Sprecher der Innung israelischer Industrieller.
Yoash Ben Jitzchak, Sprecher der Innung israelischer Industrieller
Quelle: Assaf Shilo/Israel Sun

Das Kino steht nun für noch mehr, als nur der Antidot zum religiösen Eifer zu sein, der Jerusalem zu verschlingen droht. Der erfolgreiche Kampf der säkularen Minderheit „demonstriert, dass ihr Rückzug zu Ende ist“, sagt Ofer Berkowitz, stellvertretender Bürgermeister und Mitstreiter Ben Jitzchaks.

Wohl kein Ort im Heiligen Land hat für Milliarden Gläubige in aller Welt und Millionen Palästinenser und Israelis eine größere Bedeutung als Jerusalem. Israels umstrittene Hauptstadt wechselte vielleicht öfter als jede andere Religionen und Herrscher. In den letzten 2000 Jahren zogen hier 34 Mal Eroberer ein; 22 Mal wurde sie belagert, 18 Mal zerstört und wieder aufgebaut. Elf Mal wechselte der Glaube, der die Stadt beherrschte.

Bis heute bleibt sie Schwachstelle jeder Nahost-Friedenspolitik, an der es keinem Staatsmann gelingt, sein Wunschdenken einer komplexen Realität unterzuordnen. Israels ehemaliger Präsident Schimon Peres formulierte es so: „Jerusalem erleuchtet manche, andere verblendet sie.“

Über 300 heilige Orte in Jerusalem

Je länger der Kampf, desto mehr schaukeln sich religiöse Emotionen auf beiden Seiten hoch. Jerusalem wird dauernd heiliger. Ein Bericht der UN von 1949 sprach von 30 heiligen Stätten in der Altstadt. Die Lapidoth Kommission, die aus einem Juden, einem Christen und einem Muslim bestand, machte dort fünfzig Jahre später 326 heilige Orte aus. Auch die Bevölkerung wird religiöser: Rund 45 Prozent von Jerusalems Erstklässlern waren 2016 ultraorthodoxe Juden, 30 Prozent Araber in überwiegend muslimischen Schulen.

Orthodoxe Juden beten an mannshohen Quadern der Klagemauer, die Herodes vor über 2000 Jahren baute. Christen pilgern zur Grabeskirche, deren Fundamente aus der Zeit Kaiser Konstantins im 4. Jahrhundert stammen. Für Muslime ist der Felsendom, das älteste islamische Sakralbauwerk der Welt, seit 1400 Jahren Wahrzeichen. Das Lev Smadar, Kulturtempel der Atheisten, steht indes in einer kleinen Einbahnstraße. Nur zwei knallrot angestrichene Säulen am Eingang und das Poster auf dem Dach lassen erahnen, dass dies kein Wohnhaus ist. Es sollte geschlossen werden, weil das alte Gebäude strenge neue Sicherheitsauflagen nicht mehr erfüllte. Doch Umsatz und Miete gestatteten es Eigentümern und Pächtern nicht, das Lichtspielhaus zu sanieren.

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Gottlob Bäuerle, Nachkomme pietistischer Einwanderer aus Württemberg, errichtete das „Orient-Kino“ 1928. Nach der Machtergreifung der Nazis blieben die jüdischen Kunden jedoch fern. Bäuerle verpachtete das Gebäude 1936 an Juden – zum Unmut der Ortsgruppe der NSDAP, die ob der Vermietung an „Nicht-Arier“ Bäuerle vor „etwaigen Folgen für Sie und Ihre Familienmitglieder“ warnte. Bäuerle musste den Pachtvertrag beenden. Bei Kriegsausbruch enteigneten ihn die Briten und deportierten ihn nach Australien.

Klassischer Ort für erste Dates

Nach dem zweiten Weltkrieg übernahmen vier Israelis das Kino und nannten es „Smadar“. Es war kein Ort hoher Kultur: „Sein Markenzeichen war, dass man mit einer Karte zwei Filme sehen durfte, meistens schlechte Western“, erinnert sich Ami Rosen, der hier seit Jahrzehnten die Maschinen bedient.

Damals war er noch ein Jugendlicher, der sich durch ein Fenster in den Saal stahl. „Hier gab es damals nur eine Toilette, und so mancher wollte nicht warten bis er an der Reihe war und pinkelte einfach drinnen an die Wand“, erinnert sich der heute 72 Jahre alte Mann. Dennoch fand der kleine Saal mit den 200 Plätzen einen Platz in den Herzen vieler Jerusalemer, als klassischer Ort für erste Dates: „Ich habe dort meine ersten kulturellen Erfahrungen gemacht. Und wie viele Jerusalemer erlebte ich hier meinen ersten Kuss“, sagt Bürgermeister Berkowitz.

Ami Rosen bedient seit Jahrzehnten die Filmmaschinen im "Smadar".
Ami Rosen bedient seit Jahrzehnten die Filmmaschinen im "Smadar".
Quelle: Gil Yaron

Als die Kinokette „Lev“ das Kino in den 90er-Jahren übernahm, begann der qualitative Aufstieg. „Wir verstehen uns als Kunsthaus“, sagt Guy Shani, Generaldirektor von Lev. Inzwischen laufen hinter den roten Samtvorhängen nur noch handverlesene Filme, oft nachdem Dozenten einen Vortrag hielten oder Diskussionen leiteten.

Kino steht für kulturellen Pluralismus

Dem Publikum werden außer amerikanischen und europäischen auch iranische oder arabische Filme gezeigt: „Wir stehen für kulturellen Pluralismus“, sagt Shani. Auch deshalb kamen Tausende zur Notstandssitzung, die Ben Jitzchak einberufen hatte: „Die Menschen standen in der Straße Schlange, um das Lichtspielhaus zu retten“, sagt Shani. So kam es zum Deal: Shani und die Eigentümer werden in die Renovierung investieren, dazu kommen Mittel aus neuen Abonnements und von der Stadtverwaltung, die den Saal fortan öfter anmieten wird.

Jerusalems Vizebürgermeister Ofer Berkovitz erlebte im "Smadar" seinen ersten Kuss.
Jerusalems Vizebürgermeister Ofer Berkovitz erlebte im "Smadar" seinen ersten Kuss
Quelle: Sharon Gabai

Bürgermeister Berkowitz sieht darin „die Krönung einer neuen Entwicklung.“ Die massive Abwanderung säkularer Jerusalemer werde seit 2008 von einer neuen Politik gebremst. „Die Zahl säkularer Schüler ist seit 2009 um 12 Prozent gestiegen. Unser Sektor wird aktiver, agiert geschlossener.“ So erobere man sich die Stadt zurück. Inzwischen haben mehr Restaurants und Bars am Sabbat geöffnet. Shai Elami, Direktor einer säkularen Bürgerinitiative, die sich ebenfalls für Smadar einsetzte, ist deswegen optimistisch: „Diese Stadt gehört denjenigen, die bereit sind, um sie zu kämpfen“, sagt er. Mit Smadar scheint Jerusalems bereits tot geglaubte pluralistische Gesellschaft ihren Kampfgeist neu entdeckt zu haben.

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