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Wie Brasilien den Tod seiner Ureinwohner in Kauf nimmt

Ein Indianer aus dem Stamm der Wayapi im brasilianischen Bundestaat Amapá Ein Indianer aus dem Stamm der Wayapi im brasilianischen Bundestaat Amapá
Ein Indianer aus dem Stamm der Wayapi im brasilianischen Bundestaat Amapá
Quelle: AFP/Getty Images
Massaker, Vertreibungen, Abholzung – und ein Staat, der wegschaut: Die indigenen Stämme im brasilianischen Amazonasgebiet sind vielen Bedrohungen ausgesetzt. Ein neuer Bericht sieht dramatische Veränderungen.

Im brasilianischen Amazonasgebiet leben indigene Stämme abseits der Zivilisation. Doch wo es keine Öffentlichkeit gibt, bietet sich Raum für Verbrechen. In Brasilien wächst die Sorge vor einer ungezügelten Ausbeutung ihres Lebensraums. Aktivisten warnen bereits vor einem schleichenden „Genozid“.

Eigentlich wurden die Gebiete der isoliert lebenden Ureinwohner mit Brasiliens Verfassung von 1988 besser geschützt. Das revolutionäre Ziel lautete: große Reservate, wo keinerlei wirtschaftliche Aktivitäten erlaubt sind. So sollte auch die klimaschädliche Regenwaldabholzung eingedämmt werden.

Doch nun tobt eine Art Konterrevolution. Der neue Bericht des indigenen Missionsrates (Cimi), der vom deutschen Hilfswerk Adveniat unterstützt wird, dokumentiert die dramatischen Veränderungen. Demnach wurden allein im Jahr 2016 mindestens 118 Indígenas getötet. Das sind zwar etwas weniger als im Vorjahr (137), aber doppelt so viele wie zur Jahrtausendwende.

Der Bericht spricht von einer „Anti-Indigenen-Offensive“ durch die Politik und den Agrarsektor. Bei 65 der 112 aufgeführten sogenannten unkontaktierten Völker, die weitgehend in Isolation leben, gibt es dem Bericht zufolge konkrete Bedrohungen: Diese reichen von Invasoren, die illegal Tropenholz in ihren riesigen Gebieten roden, über den Bau von Straßen und Wasserkraftwerken, bis hin zu Drogentransportrouten, illegalem Fischfang und dem Abbau von Gold.

Massaker an zehn Ureinwohnern

Erst im September sorgten Berichte über ein Massaker an einem völlig isoliert lebenden Stamm im Reservat Vale do Javari für Aufsehen. Mindestens zehn Indígenas sollen brutal von Goldgräbern ermordet, ihre Körper zerstückelt und in einen Fluss geworfen worden sein.

Die Täter sollen danach mit der Tat geprahlt und von Selbstverteidigung gegen die sich mit Pfeil und Bogen wehrenden Indianer gesprochen haben. Das Reservat an der Grenze zu Peru ist größer als Österreich, hier leben rund 2000 Indios ohne Kontakt zur Außenwelt in geschätzt 14 Stämmen.

Allein die Größe macht eine Kontrolle schwer. Zum Schutz der Indígenas gibt es in Brasilien seit rund 50 Jahren die Schutzbehörde Funai, die dem Justizministerium zugeordnet ist und die ihre Rechte garantieren soll. Eigentlich sollten alle rund 1200 indigenen Stämme und ihre Lebensräume längst unter Schutz gestellt sein, aber erst bei 453 ist das bisher geschehen.

Agrarminister ist einer der größten Sojaunternehmer

Die Regierung des neuen konservativen Präsidenten Brasiliens, Michel Temer, versucht sogar, bestehende Schutzzonen aufzuweichen – aus wirtschaftlichen Gründen. Dies führte zu massiven Protesten. Agrarminister ist Blairo Maggi, einer der größten Sojaunternehmer des Landes.

Die Temer-Regierung sieht im Amazonasbecken und seinen Ressourcen ein Vehikel, um nach der tiefsten Rezession der Geschichte wieder Wachstum zu generieren. Im Kongress in Brasília gelten die „Ruralistas“ mit rund 120 Abgeordneten und 13 Senatoren als mächtigste Lobbygruppe. „Ruralistas“ sind Politiker, die sich für die verstärkte ökonomische Nutzung bisher unerschlossener Gebiete einsetzen und neue Indígena-Schutzzonen strikt ablehnen.

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Hinzu kommt: Der Schutzbehörde Funai wurden die Mittel massiv gekürzt. 2016 hatte sie mit 534 Millionen Reais (umgerechnet 142 Millionen Euro) rund 11 Prozent weniger zur Verfügung als im Jahr zuvor. 2017 könnten es nach einem Bericht der Zeitung „Folha de S. Paulo“ noch einmal mehr als 30 Prozent weniger werden. Seit Temers Antritt wurde zudem kein Dekret zur Ausweisung neuer Schutzzonen mehr erlassen, obwohl rund 70 Territorien-Vorschläge vorliegen, die er nur noch absegnen müsste.

Die indigenen Stämme drohen, immer weiter dezimiert zu werden. Während dem Zensus zufolge derzeit nur noch 817.000 Indígenas in Brasilien leben, waren es bei Ankunft der portugiesischen Kolonialisten vor mehr als 500 Jahren noch rund drei Millionen.

Sorge vor Ausbeutung des Amazonasgebietes

Unterstützung für die Ureinwohner kommt von Umweltschutzorganisationen: Die Ka’apor-Indianer beispielsweise erhielten mithilfe von Greenpeace Kameras. Diese zeichnen auf, wer in ihr Gebiet eindringt und illegal kostbares Tropenholz schlägt.

Die Videokameras sollen illegale Holzfäller entlarven
Die Videokameras sollen illegale Holzfäller entlarven
Quelle: dpa

Doch auch die Ka’apor („Bewohner des Waldes“) mit ihren noch knapp 2000 Mitgliedern fühlen sich bedroht. Ihr Land ist sechsmal so groß wie Berlin. Das macht es schwer kontrollierbar – und auch sie vermissen die Hilfe der Schutzbehörde Funai.

DieKa'apor trainieren beim morgendlichen Frühsport
Die Ka'apor trainieren beim morgendlichen Frühsport
Quelle: dpa

Der Anthropologe Miguel Aparicio hat viele Feldforschungen zu indigenen Gemeinschaften im Amazonasbecken unternommen. „Die Gebiete der isoliert lebenden Indianer sind das Hauptziel, wegen des Reichtums an Ressourcen“, sagt er. „Der Fokus liegt auf der Ausweitung des Bergbaus und auf der Vieh- und Sojaproduktion.“

Besonders die 40 isolierten Völker ohne eigene Reservate sind in großer Gefahr, heißt es im Cimi-Bericht. „Sie sind besonders bedroht durch die Abholzung“, schreiben die Autoren. Diese sei zwischen August 2015 und Juli 2016 um 30 Prozent gestiegen.

Dabei hatte Temers Vorgängerin Dilma Rousseff noch im August 2015 bei den ersten deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) versichert, dass die illegale Abholzung im Regenwald bis 2030 auf null zurückgefahren werden soll.

Ethnologe fordert mehr Druck auf Temer-Regierung

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Der Amazonasregenwald gilt als „Lunge des Planeten“, als Baustein des Weltklimavertrags von Paris, um die Erderwärmung in den Griff zu bekommen. Der Schutz der Indígenas bedeutete immer auch einen Schutz des Klimas.

Doch Projekte, wie ein gigantisches Wasserkraftwerk am Tapajós-Fluss im Bundesstaat Pará, gehen in eine andere Richtung. Dieses liegt zwar nach Umweltbedenken auf Eis, aber es gibt Versuche für einen Neuanlauf.

Der Ethnologe Wolfgang Kapfhammer von der Ludwig-Maximilians-Universität München, ein Kenner der Region, sieht auch die internationale Gemeinschaft gefordert, um mehr Druck auf die Temer-Regierung auszuüben. Die Kürzungen bei der Schutzbehörde Funai seien verheerend, die staatliche Kontrolle falle zunehmend weg. Er spricht von „anachronistischen Wirtschaftskonzepten“, die zur zunehmenden Erschließung Amazoniens führten – diese werde dem Volk positiv als „Entwicklung“ verkauft.

Bei der Vergabe von Aufträgen verquicke sich eine Korruptionskultur „mit einer tief internalisierten Tradition des Raubbaus an der Natur“. Ihn erinnert diese Gegenrevolution fast schon an die Zeit der portugiesischen Konquistadoren.

dpa/nidi

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