Gastkommentar

Die Geschlechterillusion

Gender-Studies haben Sukkurs an den Universitäten in Deutschland und der Schweiz. Sie vertreten die These, dass Menschen ihr Geschlecht frei wählen können. Stimmt das wirklich? Ein Diskussionsbeitrag.

Axel Meyer
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Besondere Exemplare der binominalen Nomenklatur: zwei männliche Zwillingsblumen an einem Karneval in Belgien im Jahre 1979. (Bild:Richard Kalvar / Magnum)

Besondere Exemplare der binominalen Nomenklatur: zwei männliche Zwillingsblumen an einem Karneval in Belgien im Jahre 1979. (Bild:Richard Kalvar / Magnum)

Die erste Ausgabe des amerikanischen Magazins «National Geographic» Anno Domini 2017 handelt nicht von exotischen Tieren, Ländern oder Völkern, wie es der naturverbundene Leser dieses Magazins erwarten würde. Nein, diesmal geht es nicht um Natur, sondern um die Verabschiedung aus derselben, um – so wird von den Vertreterinnen der Gender-Studies behauptet – lupenreine Kultur: nämlich Gender.

Das US-Cover zeigt ein neunjähriges Transgender-Mädchen, das die «Gender-Revolution» symbolisieren soll. Im «National Geographic»? Die Chefredaktorin Susan Goldberg schreibt, sie wolle zeigen, «wie Menschen sich auf dem inzwischen breiten Gender-Spektrum einordnen». Ein Kontinuum von Geschlechtlichkeit? Wirklich?

Die Ansichten über das Geschlecht, also das kulturelle, eben Gender genannt (und zu unterscheiden vom biologischen Geschlecht, Sex genannt), verschieben sich schnell und radikal. Es gibt gemäss den Gender-Studies nicht nur zwei Geschlechter, es gibt viele. Sie werden mittlerweile in über fünfzig verschiedene Kategorien eingeteilt – so viele bietet Facebook zumindest seinen Usern zur Selbstbeschreibung an.

Das Thema ist genau darum so heiss, weil es eben um Selbstwahrnehmung, also ums Selbstverständnis, also um Identität geht, nicht um objektive naturwissenschaftliche Kriterien. Die Gender-Lehre stützt sich auf die Selbstzuschreibung von Menschen: Wirklich ist das, was der Einzelne für wirklich erklärt. Darüber hinaus verfügt sie – so die Meinung vieler Biologen – kaum über eine wissenschaftliche Evidenz.

Von einer Ideologie zu sprechen, scheint daher legitim. Wer ihre Prämissen infrage stellt, muss sich jedoch vorwerfen lassen, er nehme die Selbstzuschreibung der Menschen und also die Menschen selbst nicht ernst. Er wird wahlweise des Sexismus, des Chauvinismus, des Rassismus oder der Ignoranz bezichtigt.

Normativer Anspruch

Der Genderismus wird seit zwanzig Jahren immer extensiver an westlichen Universitäten gelehrt, dem vermeintlichen Zentrum freien Denkens und Forschens. Der Anspruch ist ein offen normativer, sprich: Die Gebildeten sollen den Genderdiskurs verinnerlichen und so andere durch ihren Sprachgebrauch bekehren. Spätestens wenn alle Menschen genderlike reden, hat sich die Triftigkeit der Gender-Studies erwiesen: M2F, Polygender, T*man, T*woman, Two*person, Two-Split Person.

Das sind viele neue Bezeichnungen. Seit Aristoteles' Scala naturae wird die Welt eingeteilt, um sie besser zu verstehen. Noch heute gelten die Prinzipien Carl von Linnés, der vor 250 Jahren die biologische Disziplin der Taxonomie begründete (Gattung Homo, Art sapiens), als anerkanntes Schema der modernen binominalen Nomenklatur. Nun kommen also neue Begriffe zum Zug. Nur – verstehen wir den Menschen durch ihren Gebrauch wirklich besser?

Die Naturwissenschaften haben den Genderismus lange Zeit als evidenzfreies Gerede belächelt, doch langsam regt sich Widerstand. Dabei ist die Kritik nicht durch Phobien oder Intoleranz motiviert, wie von den Kritisierten gerne unterstellt wird. Vielmehr speist sie sich aus einer erkenntnistheoretischen Sicht, die sich mit dem konstruktivistischen Zugang der Gender-Forscherinnen und ihrer politischen Unterstützerinnen nicht deckt. Naturwissenschafter wollen die Welt primär nicht bekehren, sondern verstehen. Sie suchen nach Antworten, die sich an einer objektiven Wahrheit orientieren, nicht an subjektiven Selbstbeschreibungen oder Dekonstruktionen von diesem oder jenem.

Alles wird durch eine kulturelle «Post-dies»-, «Modern-das»-Brille gesehen.

Ein Begriff wie Wahrheit wird in jener Gedankenwelt, in der sich die Gender-Wissenschafterinnen bewegen (rund 90 Prozent aller mehr als 200 Professoren Deutschlands, die das Wort Gender im Titel haben, sind weiblichen Geschlechts), nicht akzeptiert, nicht einmal im Sinne einer regulativen Idee. Alles wird durch eine kulturelle Post-dies-, Modern-das-Brille gesehen. Evolutionsbiologische Erklärungen, abgestützt durch zahlreiche Befunde, Experimente, Studien und Erkenntnisse, werden von Gender-Forscherinnen als «Biologismus» abgetan.

Doch nein, mit Verlaub, so gut die Absicht der Leugnung auch sein mag: Biologie ist kein«-ismus». Sie ist eine objektive experimentelle Wissenschaft wie die Physik. Ihre Erkenntnisse haben auch für die kulturellste aller Arten, den Homo sapiens, Gültigkeit.

Es ist eine sehr kleine Minderheit, die sich nicht dem einen oder dem anderen Geschlecht zugehörig fühlt oder sich nicht zweifelsfrei physisch zuordnen lässt. Rund 95 Prozent der Menschen der meisten Populationen der Welt sind heterosexuelle Frauen oder Männer – repräsentieren also die bei Gender-Forscherinnen negativ besetzte «heterosexuelle Norm». Aus evolutionsbiologischer Sicht sind zwei Geschlechter selbstverständlich zu erwarten.

Seit mehr als 2,5 Milliarden Jahren sind männliche und weibliche Geschlechter in fast allen zig Millionen von Arten Teil des Lebens und damit auch unserer evolutionären Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So ist die Natur; der Mensch ist ein Naturwesen, ja, er ist – auch wenn einige sich dadurch in ihrem Selbstwertgefühl herabgesetzt fühlen – zumindest seiner Herkunft nach ein Tier.

Biologische Erklärungen

Sicher, wir sind die kulturellste aller Arten, und fast kein Merkmal hat ausschliesslich genetische oder kulturelle Grundlagen. So sind üblicherweise drei bis fünf Prozent von Homo sapiens homosexuell, ein weitaus geringerer Teil ist bisexuell, und noch viel weniger von uns sind trans- oder intersexuell. Dabei geht es nicht um Moden oder frei gewählte Selbstzuschreibungen, sondern um nach heutigem Erkenntnisstand zum grösseren Teil natürliche, d. h. genetisch veranlagte sexuelle Orientierungen.

Homosexualität hält sich auf den ersten Blick überraschend lange in der menschlichen Population, obwohl sie eine evolutionäre Sackgasse zu sein scheint, denn Schwule und Lesben haben keine oder zumindest weniger Kinder. Ein Teil der evolutionsbiologischen (im Fachjargon: ultimaten) Erklärung dafür ist die sogenannte inklusive Fitness (die Anzahl der selbst gezeugten oder nahe verwandten Nachfahren), die Homosexualität in der Population erhält, weil weibliche Verwandte schwuler Männer oft eine höhere Fitness (also überdurchschnittlich viele Kinder) haben und damit auch die Genvarianten ihrer Brüder (mit denen sie zu 50 Prozent genetisch identisch sind) mit in die nächste Generation bringen.

Direkte (im Jargon: proximate) Erklärungen für Homosexualität gibt es auch: Genetische Komponenten für Homosexualität wurden auf dem X-Chromosom gefunden, und epigenetische Umwelteinflüsse wie frühere Schwangerschaften mit Brüdern sind dokumentiert. Ältere Brüder scheinen das Immunsystem der Mütter zu «strapazieren», denn sie hinterlassen DNS und andere Spuren im Körper der Mütter. Schwangerschaften verändern den mütterlichen Körper, denn sie schliessen einen Kampf zwischen Mutter und dem genetisch anderen Fremdkörper, dem Fötus, mit ein.

Neben den beiden biologischen Geschlechtern, die in den allermeisten Fällen durch Unterschiede in den Geschlechtschromosomen zu erklären sind, gibt es eine kleine Minderheit von Menschen, die nach äusserlichen Kriterien der Geschlechtsmerkmale nicht einfach in die männliche oder die weibliche Kategorie fallen. Der häufigste Grund für Intersexualität sind pränatale hormonelle Unterschiede, die beim Embryo zu hormonellen Signalen führen, die nicht zum Geschlechtschromosomensatz passen.

Es geht nach dem Williams Institute an der UCLA um höchstens 0,3 Prozent, also um 3 von 1000 Personen, die so geboren werden. Je nach Definition und Studie ist die Häufigkeit dieser Menschen, die sich im falschen Körper fühlen oder mit intersexuellen Körpern geboren werden, noch geringer (1/4000 bis 1/20 000). In der Bedeutung, die diesen Ausnahmen gegeben wird, unterscheiden sich die Sichtweisen von Biologie und Gender-Studies fundamental.

Die Gender-Studies spielen die Bedeutung von Biologie und Genen stark herunter und behaupten, dass uns erst Kultur und Sozialisation zu Mann und Frau machten. Sie tun so, als ob wir geschlechtslos, also Gender-neutral, geboren würden. Jeder Vater und jede Mutter weiss, dass dem nicht so ist.

Aber es klingt zunächst einmal modern, positiv und antiautoritär, wenn unsere Kinder «Gender-neutral» erzogen werden. Oder wenn gesellschaftliche Erwartungen bezüglich der Kleidung oder «Gender-konformen» Verhaltens bewusst ausgeklammert werden. Aber die biologische Realität ist eine andere.

Bezüglich der Wahl der Spielzeuge bei Kindern verhält es sich schlicht so, dass Jungen häufig dazu neigen – und zwar ohne sozialen Druck oder Erziehung –, mit technisch-mechanischen Spielzeugen wie Autos zu hantieren, während Mädchen sich eher zu Puppen oder anderen sozialen oder verbal-fördernden Spielen hingezogen fühlen. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede tauchen schon im ersten Lebensjahr auf – lange bevor die kleinen Menschen überhaupt wissen, dass es Buben und Mädchen gibt.

Wir werden nicht als unbeschriebene Schreibtafeln geboren, sosehr wir uns dies auch vielleicht wünschen mögen

Selbst bei Experimenten mit Affen zeigten sich diese Unterschiede schon im Verhalten von Affenbuben und Affenmädchen. Dabei spielt der vorgeburtliche Testosteronspiegel eine ausschlaggebende Rolle. Und es zeigt sich: Mädchen, die vorgeburtlich einem hohen Testosteronspiegel ausgesetzt sind, spielen eher mit Knabenspielzeugen, egal, wie sehr die Eltern auch versuchen mögen, sie zu beeinflussen.

Wir werden nicht als unbeschriebene Schreibtafeln geboren, sosehr wir uns dies auch vielleicht wünschen mögen. Dies wiederum heisst im Umkehrschluss: Die «Gender-neutrale» Erziehung ist gar nicht neutral, sondern höchst normativ. Sie versucht Buben und Mädchen einem vermeintlich modernen Werteideal anzugleichen, sie also zu indoktrinieren in einer Zeit, in der sie noch nicht wissen, was Indoktrination überhaupt ist.

Ob wir es wollen oder nicht: Wir sind weder alle gleich, noch sind wir nach Belieben frei, uns durch Erziehung über unsere biologischen Anlagen hinwegzusetzen. Biologie ist wichtig, aber sie ist – selbstverständlich – auch nicht alles. Der Mensch hat einigen Spielraum, sich so oder anders zu seinem biologischen Erbe zu verhalten.

Gleiche Würde

Wir teilen eine lange evolutionäre Vorgeschichte mit unseren Primatenverwandten, die uns schliesslich auch mit allen anderen Lebewesen verbindet. Carl von Linné erkannte als Erster, dass auch Pflanzen, genau wie Tiere, unterschiedliche weibliche oder männliche Blütenteile haben. In der Universitätsstadt Freiburg wurde unlängst auf Anraten der Verantwortlichen der Gender-Studies dem Strassenschild der Carl-von-Linné-Strasse ein Schild hinzugefügt: «Schwedischer Naturforscher und Begründer der biologischen Systematik, Vordenker einer biologistisch begründeten Geschlechterhierarchie und Rassenlehre».

Hier soll ein eminenter Begründer der modernen Biologie, der vor mehr als 300 Jahren geboren wurde, diffamiert werden – als liesse sich durch Neusprech über einen wissenschaftlichen Genius das evolutionäre Erbe des Menschen umprogrammieren. In solchen Versuchen zeigt sich die ganze Hybris der Gender-Studies, die den Menschen nicht beschreiben oder besser verstehen, sondern ideologisch umerziehen wollen.

Vernunft und Wissenschaft sind Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt, genauso wie unsere westliche Toleranz. Jeder soll auf seine Fasson glücklich werden, innerhalb oder ausserhalb irgendwelcher Normen. Aber es sollte klar sein, dass sich der Mensch das Geschlecht nicht einfach selbst gewählt hat. Seine Würde kommt ihm nicht qua Geschlecht zu, sondern weil er ein Mensch ist. Wir sollten dafür sorgen, dass dies so bleibt, statt einen unsinnigen Kampf um Gender-Zuschreibungen zu führen.

Axel Meyer ist Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz und Autor u.a. von «Adams Apfel und Evas Erbe: Wie die Gene unser Leben bestimmen und warum Frauen anders sind als Männer» (Bertelsmann, 2015).