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Die Todesrampe im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, gebaut erst im Mai 1944. Die meisten ungarischen Deportierten wurden ohne Registrierung direkt von hier ins Gas geschickt.

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Der deutsche Historiker und Journalist Götz Aly.

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Götz Aly, "Europa gegen die Juden. 1880-1945". 26 Euro / 432 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2017

Cover: S. Fischer Verlag

STANDARD: Welche Rolle spielte die aktive und die passive Unterstützung durch Regierungen, Institutionen und die Bevölkerung vieler europäischer Länder bei der Realisierung des Holocaust?

Götz Aly: Viele Menschen stellen sich den Holocaust heute als eine von Berlin aus gesteuerte Vernichtungswalze vor, die über Europa gerollt ist. Das stimmt so nicht. Länder wie Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Frankreich, Belgien und Griechenland haben auf unterschiedliche Weise zur Vernichtung der Juden beigetragen. Nehmen wir Ungarn: Von dort wurden in zehn Wochen 423.000 Juden nach Auschwitz deportiert, mithilfe von 20.000 ungarischen Gendarmen. Bis zur slowakischen Grenze war da kein einziger Deutscher dabei.

STANDARD: War der Antisemitismus in den europäischen Ländern von Anfang an Bestandteil des deutschen Masterplans?

Aly: Nehmen wir das Ghetto Lódz: Da saßen an die 160.000 Leute. Die Deutschen sagten: Wir bringen erst einmal 100.000 "arbeitsunfähige" Menschen, Alte und Kinder aus dem Ghetto um. Dann sehen wir ja, ob es Widerstand aus der christlichen Bevölkerung gibt. Das stand zu diesem Zeitpunkt keineswegs fest. Oder das Vernichtungslager Belzec im heutigen Ostpolen: Es wurde mit einer Tageskapazität von 500 gebaut. Die hat man nach wenigen Monaten auf 2000 erweitert, weil man gemerkt hat, dass es läuft. Ähnlich in Auschwitz: Wir alle kennen heute die Bilder der berühmten Todesrampe. Sie wurde im Mai 1944 für die Ungarn-Transporte gebaut. Es fing alles ganz provisorisch an, diese "perfekten" Anlagen entstanden erst, als man merkte, dass "es geht".

STANDARD: Der Antisemitismus hat sich in vielen Ländern Europas ja nicht erst zu Kriegsbeginn gezeigt. Wie hat er sich regional unterschiedlich entwickelt?

Aly: In Frankreich bezog sich der Antisemitismus vor allem auf geflohene und spät zugewanderte Juden. Deren Zahl hatte sich seit 1880 verfünffacht. Frankreich hat aber 75 Prozent seiner Juden gerettet. Das ist eigentlich unglaublich, weil es gegen die eigene Regierung und gegen die Besatzungsmacht geschah. Griechenland wiederum hatte bevölkerungspolitische Interessen in seinem Norden, der erst seit 1912 griechisch war. Dort wollte man die Bevölkerung hellenisieren. Die nordgriechischen Behörden haben begeistert kollaboriert, weil sie die Juden schon in der Zwischenkriegszeit loswerden wollten. Und die Slowakei hat lange Zeit 750 Reichsmark für jeden deportierten Juden bezahlt. Erst nach Stalingrad schränkte das Land die antijüdische Kollaboration mit Deutschland ein.

STANDARD: Wie beeinflussten äußere Ereignisse und der Kriegsverlauf generell die Haltung zu den Juden?

Aly: Vor allem die Schlachten von Stalingrad und El Alamein Ende 1942/43 signalisierten, dass nicht sicher war, wer gewinnt. In diesem Moment änderte sich sehr viel, die Kollaboration in Frankreich etwa ging deutlich zurück. Aber schon vor Kriegsbeginn wurde in Ungarn, in Polen und in anderen europäischen Ländern ständig an Plänen und Gesetzen gearbeitet, um die Juden loszuwerden. Später kam die moralische Zerrüttung durch den Krieg dazu. Ohne Krieg ist der Holocaust nicht vorstellbar. In vielen Ländern dachte man schon davor, dass die Juden wegmüssen. Aber weder Frankreich noch Polen hatten gesagt: Dafür müssen wir Gaskammern bauen.

STANDARD: Liegt in der konkreten Planung der spezifisch deutsche Anteil an der Shoah?

Aly: Die Deutschen hatten die Tatherrschaft. Die Planung der Shoah ist deutsch, das Setting ist deutsch, die Gaskammern und die Techniken des Tötens sind es. Ohne die deutsche Organisation, den deutschen Krieg und den Terror der Deutschen ist die Shoah nicht vorstellbar. Aber das reichte nicht. Es brauchte auch die weitverzweigte Arbeitsteilung. Die Deutschen haben sich überall bewusst auf Einheimische gestützt, um sie in den Sog des Bösen und der Mitverantwortung zu ziehen. Ich möchte die deutsche Verantwortung nicht schmälern. Aber man muss die europäische Verantwortung mitdenken, wenn man das ganze Bild sehen will. Der Holocaust ist der Tiefpunkt der deutschen Geschichte – aber auch der europäischen.

STANDARD: Woran entschied sich, ob die lokale Polizei, die Behörden und die Bevölkerung mit den Deutschen etwa bei der Abwicklung von Deportationen kooperierten oder nicht?

Aly: Nehmen wir wieder Ungarn: Bei den Budapester Juden sagte die ungarische Regierung zu den Deutschen: Die kriegt ihr nicht. Also fuhr Adolf Eichmann zurück nach Berlin und berichtete: nichts zu machen. In Ungarn tat außerdem ein großartiger päpstlicher Nuntius alles, um die Juden zu schützen. Der Nationalkatholizismus in Polen war hingegen ungeheuer antisemitisch. Die polnischen Diözesen machen zu diesem Punkt bis heute ihre Archive nicht auf – aus eindeutigen Gründen.

STANDARD: Lässt sich sagen, wie viele Menschen in Europa von den Deportationen und KZs wussten?

Aly: Es durfte nicht gesagt werden, dass jemand ermordet wird. Man musste den Menschen in Europa den Ausweg lassen, dass sie es nicht so genau wissen mussten und wegschauen konnten. Die Botschaft an die Menschen war: Das ist geheime Reichssache, von der ihr nichts wissen dürft, also müsst ihr nichts wissen. Deshalb sagten viele nach 1945 subjektiv überzeugt: Wir haben von nichts gewusst. Dabei war aus der NS-Propaganda herauszuhören, dass grauenhafte Dinge geschahen. Das sollte auch so sein, um die Leute ans Regime zu fesseln und ihnen klarzumachen: Siegt die andere Seite, dann wird man sich an euch rächen, dann gibt es kein Pardon. Das schweißte zusammen – auch in den besetzten Ländern.

STANDARD: In ganz Europa war die Verteilung jüdischen Besitzes zentral für der Verbreitung des Antisemitismus. Was verband den Antisemitismus in den Ländern noch?

Aly: Die Verteilung jüdischen Eigentums im Krieg spielt in der Tat eine riesige Rolle. Der einfache Arbeiter bekam Küchenhandtücher und Seife, die Anspruchsvolleren größere Wohnungen und berufliche Positionen vertriebener oder ermordeter Juden. Das genügte in der Kriegskonstellation schon. Um einen Massenmord zu organisieren, brauchen Sie keine Bevölkerung, wo jeder "Juda verrecke!" brüllt. Sie brauchen Menschen, die wie hier in Wien gern 40.000 Wohnungen nehmen, stillhalten und ansonsten mit der Sache wenig zu tun haben wollen.

STANDARD: Sie schrieben schon in früheren Büchern, dass der Neid auf Juden ein relevantes Moment im Antisemitismus ist. Inwiefern?

Aly: Man kann Antisemitismus ohne das Motiv des Neids nicht verstehen. Das liegt daran, dass die Juden im späten 19. Jahrhundert in ganz Europa die Hürden des sozialen Aufstiegs durchschnittlich viel schneller überwanden als ihre christlichen Mitbürger. Nicht weil sie genetisch schlauer wären – sondern weil sie anders gebildet sind. Das Judentum ist eine diskursive Religion, es ist auf Streit und Abstraktion angelegt, und man muss früh lesen und schreiben können, um es auszuüben. Außerdem lebten Juden verfolgungsbedingt früh in Städten und konnten meist mehrere Sprachen. Selbst Juden aus armen Verhältnissen stiegen bildungsbedingt schneller auf. Juden waren eine winzige Minderheit in der Bevölkerung, machten aber in Deutschland zehnmal so oft Matura wie Christen. In den öffentlichen Dienst durften sie nicht, also gründeten sie Unternehmen und verdienten besser. Das war in vielen Ländern so. An dieser Stelle kam der Neid auf die Juden ins Spiel.

STANDARD: Haben die Nazis Neid und Missgunst gegen Juden aktiv geschürt, weil sie wussten, dass ein sozialer Antisemitismus anschlussfähiger ist als ein religiöser?

Aly: Das ist eher passiert. 1880 wurde der Begriff Antisemitismus in Deutschland erfunden. Antisemitismus unterscheidet sich deutlich vom christlichen Antijudaismus, er argumentiert eher sozial und wirtschaftlich. Das hängt mit den enormen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen zusammen, die Europa zu jener Zeit erlebte. Millionen Menschen kamen vom Land in die Städte und lebten dort quasi in Slums. Die Zersetzung der Familie und das Wegbrechen von Lebensgewissheiten, die über Jahrhunderte in den Dörfern gegolten hatten, machten die christliche Mehrheit unsicher und anfällig für bestimmte Weltanschauungen und für die Suche nach Schuldigen. Das machte den Antisemitismus attraktiv für moderne politische Parteien.

STANDARD: In dieser Gemengelage entsteht auch der Nationalismus. Wie hängt er mit dem Antisemitismus zusammen?

Aly: In den 1920er-Jahren wurde Europa infolge des Krieges und des Zerfalls der transnationalen Reiche nationalistisch durchorganisiert. Seine Bevölkerungen sollten sprachnational, religiös und kulturell "homogenisiert", also vereinheitlicht, werden. In einer Welt, in der sich so viel änderte, sollte die Nation Geborgenheit in einem stabilen Rahmen bieten. Die Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung sollten sozial aufsteigen. Deshalb wurden Gymnasien und Universitäten für sie ausgebaut und für die voranstürmende Minderheit der Juden teilweise oder ganz versperrt. Bald folgten in Rumänien, Ungarn und Polen Berufssperren für Juden. Politische Parteien nahmen solche Programmpunkte in der Zwischenkriegszeit in ihre Programme auf. Das heißt: Die Demokratie förderte den Antisemitismus, sie verschaffte den Antisemiten Bewegungsfreiheit.

STANDARD: Wenn die Mehrheitsbevölkerung sozial aufstieg und die Verhältnisse für sie in vielem besser wurden, warum wuchs dann der Neid auf Juden?

Aly: Weil Neid ein Phänomen der sozialen Nähe ist. Indem der Abstand sinkt, steigt die Spannung. Menschen beneiden nicht einen König um sein Schloss, sondern ihren Nachbarn um die größere Wohnung, für die der aber viel weniger Miete zahlt.

STANDARD: Gilt auch heute noch, dass zivilisatorischer Aufbruch und Antisemitismus oder Rassismus kein Widerspruch sind?

Aly: Wir bilden uns ein, dass der Antisemitismus aus schmutzigen Ecken unserer Geschichte kommt. Das stimmt auch. Aber er wurde ebenso durch gute Politik gefördert. Indem die Mehrheitsbevölkerung dank guter Bildungspolitik aufholte, wuchs die antisemitische Spannung. Das muss man sich als Gefahr klarmachen. Auf gute Bildungspolitik kann man deshalb nicht verzichten. Es gibt ein ähnliches Beispiel: der Völkermord an den Armeniern 1915. Armenier waren, obwohl Christen, seit langem durchalphabetisiert. Um sie herum saßen ungebildete Türken, das ging über Jahrhunderte relativ gut. Doch in dem Moment, in dem die türkische Führung beschloss, einen modernen Staat nach französischem Modell zu erschaffen, die arabische Schrift und das Kopftuch zu verbannen und alle Kinder in die Schule zu schicken – in diesem Moment brach der Hass gegen die wirtschaftlich stärkeren, gebildeteren und schon urbanisierten Armenier aus. (Lisa Mayr, 24.6.2017)