Vom guten Leben erzählen und von einer besseren Zukunft träumen
Die Überlegungen des Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer haben mich darauf gestoßen, wie wichtig es ist, sich eine bessere Zukunft zu erträumen. Denn große gesellschaftliche Veränderungen müssen zunächst einmal entworfen werden. Das allgemeine Wahlrecht, gleiche Rechte für Frauen, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – all das waren vor nicht allzu langer Zeit utopische Ideen. In den letzten Jahrzehnten fehlten aber derartig positive Zukunftsbilder. „There is no alternative“ – das Handeln nach scheinbaren wirtschaftlichen Sachzwängen wurde zum Leitmotiv politischer Akteur*innen. Argumente wie Wettbewerb, Anforderungen der Globalisierung und die „Sicherung des Wirtschaftsstandorts“ standen an erster Stelle. Viele Menschen, die an einer besseren, gerechteren und zukunftsfähigen Gesellschaft interessiert sind, waren damit beschäftigt, Angriffe auf die Demokratie und den Sozialstaat abzuwehren. Utopien hatten wenig Platz in der politischen Auseinandersetzung.
Wo wollen wir hin?
Die aktuellen Krisen können hier als Chance genommen werden, umzudenken. Corona hat uns aus der scheinbar sicheren Normalität hinausgeworfen, die Klimakrise macht immer deutlicher, dass etwas Neues kommen muss. In dieser Situation sehe ich viel Sinn darin, sich näher damit zu befassen, wo wir denn nun hinwollen: Wie kann eine gute Zukunft aussehen? Als Erwachsenenbildnerin heißt das für mich, das Interesse an Zukunftsvisionen zu wecken und gemeinsam über das „gute Leben für alle“ nachzudenken. Wobei: nachdenken ist eigentlich der falsche Begriff. Denn hier ist nicht nur der Kopf involviert (wiewohl das kritische Denken immer eine wesentliche Rolle spielt)! Um neue Welten zu erträumen und um wirksam zu werden, braucht es mehr als rationale Überlegungen. Es braucht den ganzen Menschen.
Erfahrungen mit dem „guten Leben“
Im November veranstaltete die KAB der Erzdiözese Wien im Wiener Neustädter Bildungszentrum St. Bernhard einen Workshop, bei dem die Teilnehmenden der Frage nach dem guten Leben nachgingen. Dabei wurden zwei Methoden verwendet, die Emotionen und Aktivitäten verbinden: Biografiearbeit und Soziodrama. Wo haben wir, dieses gute Leben bereits erfahren - ein gutes Leben, das nicht auf der Ausbeutung von Natur und anderen Menschen (im globalen Süden und sonstwo) beruht? Es kam zu einer Fülle von Geschichten. Sehr oft beinhalteten sie Naturerfahrungen –Berge, Meer, Arbeit im Garten, selbst die Mitarbeit am Feld. (Offensichtlich wird dabei, wie eigenartig der vorherrschende Zugang unserer Wirtschaftsweise ist, Natur rein als Ressource zu verbrauchen – von der Zerstörung der Meere bis zur Flächenversiegelung.)
Insbesondere stand häufig das Gemeinschaftliche Tun im Vordergrund. Meine eigene Geschichte taucht hier auf: Wie wir als Jugendliche und junge Erwachsene von der Pfarre ein Haus in Niederösterreich zur Verfügung gestellt bekamen, wo wir ein Jungscharlager organisierten. Verantwortung tragen, (halbe) Nächte durchmachen, kreative Spiele entwickeln und am Holzherd 20 Kinder bekochen. Unvergesslich die letzte Nacht, in der ich mit einer Freundin bis zum Morgengrauen Abschiedsgeschenke fabrizierte, um dann noch ein paar Stunden unterm Apfelbaum zu schlafen. Solche Geschichten, wo Freude und Engagement zusammenfließen, wo etwas für andere tun gleichzeitig große Lebendigkeit mit sich bringt, teilen viele. Und vielfach wird Freude über stressfreie und unverplante Zeit sichtbar - stellvertretend etwa das abendliche Sitzen am „Sonnenbankerl“ vor dem Haus. Was uns wichtig ist: Nicht um einen nostalgischen Rückblick in die gute alte Zeit geht es dabei, sondern um das Erspüren und Heben von Erfahrungsschätzen – und um die Frage, wie und wo mehr davon in die Gegenwart übersetzt werden kann.
Im Soziodrama, werden Haltungen und Handeln in Dynamik gebracht: Wie ist das mit dem „Zeitwohlstand“, mit dem „Es selbst in die Hand nehmen“, dem „Gemeinschaftlichen Tun“ oder den „Neuen Routinen“? Im szenischen Spiel wird spürbar, was sie mit sich bringen (können), was es braucht, um gut (gemeinsam) ins Handeln zu kommen, was hemmt und was stärkt. Harald Welzer und andere haben darauf hingewiesen, dass das Wissen um die Klimakatastrophe noch nicht zur Veränderung führt: Wir können offensichtlich allzu gut Wissen und Handeln von einander abkoppeln.
Bilder vom guten Leben zu entwickeln, es im Herzen, im Bauch, in der Brust zu spüren- und dadurch Ideen und Ermutigungen für individuelles und kollektives Handeln zu schöpfen: das tut gut. Besonders gut tut es, das in der Begegnung mit anderen zu tun! Das ist eine solide Basis, sich gemeinsam zu engagieren und Druck auf Politik auszuüben. Denn dass ein „gutes Leben für alle“, auch für die nachfolgenden Generationen, grundsätzliche Entscheidungen der Politik braucht, steht außer Frage.
Den Workshop habe ich gemeinsam mit Gert Dressel geleitet. Ermöglicht wurde er durch die Förderung durch die Österreichischen Gesellschaft für politische Bildung.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.