Seit 60 Jahren betreiben Dona Ramana und ihr Mann einen kleinen Laden in São Paulo. Früher konnte die ganze Familie davon leben, heute kann die 90-Jährige damit kaum ihre Mindestpension aufbessern.

Foto: Susann Kreutzmann

Dona Ramana sitzt mit ihrem Ehemann vor ihrem winzigen Geschäft in Brasilândia, einem Viertel in der grauen Peripherie von São Paulo. Der Laden, in dem sie seit 60 Jahren Spielzeug, Bettwäsche und Kurzwaren verkaufen, hat einmal floriert und konnte die Familie ernähren. Heute nicht mehr. "Wir haben auf den Advent gesetzt, aber fast gar nichts verkauft", sagt die 90-Jährige, die von der Rente allein nicht überleben könnte.

So wie Dona Ramana geht es vielen Menschen in Brasilândia. Hier leben die Hausmeister und Putzfrauen, die in den schicken Vierteln arbeiten. Sie fielen in der Krise als Erste in die Misere zurück. Der Traum des Aufstiegs ist für Millionen Brasilianer ausgeträumt. Nach Jahren des Wirtschaftsaufschwungs ist Lateinamerikas größte Volkswirtschaft in die schwerste Krise seit langem gerutscht. Viele Ökonomen sprechen sogar von einem verlorenen Jahrzehnt. Erst für 2020 erwarten sie wieder einen Aufschwung.

Minus-Wachstum

2015 fuhr Brasiliens Volkswirtschaft ein Minus von rund 3,6 Prozent ein, und für 2016 erwartet man minus 2,0 Prozent. Gleichzeitig steigen Inflation und Arbeitslosigkeit über zehn Prozent. Allein 2015 verlor der Real 34 Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar.

Am härtesten trifft es die Armen und die "neue Mittelklasse": Rund 40 Millionen Menschen waren seit 2003 aufgestiegen. Mithilfe von Sozialprogrammen, der Heraufsetzung des Mindestlohnes und staatlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen konnten viele Familien erstmals auf ein sicheres Einkommen setzen. "Absolut sichtbar ist, dass Brasilien nach einer ökonomischen in eine tiefe soziale Krise rutscht, die hochgradig gefährlich ist", warnt Humberto Dantas, Politologe an der Universität São Paulo USP.

90 Millionen armutsgefährdet

Die Armut steigt wieder, dabei hatte Dilma Rousseff deren "Ausrottung" zum Ziel ihrer Präsidentschaft erkoren. Rund 90 Millionen Brasilianer gelten als arm oder sind an der Grenze zur Armut – weit mehr als in den 1970er-Jahren. "Es stehen viele Errungenschaften auf dem Spiel: im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen und im Funktionieren des gesamten Staates", sagt Dantas.

Die Regierung Rousseff tat alle Warnungen gern als Propaganda der konservativen Opposition ab. Lange machte sie die Weltwirtschaft für das eigene Versagen verantwortlich: Die Preise für Soja und Eisenerz sind im Keller; China, größter Exportpartner, lahmt.

Vor der UN-Vollversammlung überraschte Rousseff im September mit der Aussage: "Wir haben keine großen strukturellen Probleme: Unsere Probleme sind konjunkturell." Doch die marode Infrastruktur ist sehr wohl Brasiliens Wachstumsbremse. Vor dem größten Hafen in Santos sind die Lkw-Kolonnen oft 30 Kilometer lang, fünf Tage beträgt die Wartezeit. Noch schlimmer die Schifffahrt: Reeder warten bis zu 15 Tage auf das Löschen ihrer Ladung.

Brasilianer sind Krisen gewohnt, doch wirklich beunruhigend sind diesmal deren Dauer und der politische Stillstand. "Es gibt keine Instrumente der Regierung, weder politisch noch ökonomisch, die auf eine schnelle Bewältigung der Krise hindeuten", sagt Paulo Picchetti, Ökonom an der Wirtschaftsuniversität Getúlio Vargas in São Paulo. Mit wirksamen Sparprogrammen könnte der Verschwendungspolitik des Staates Einhalt geboten werden. Doch mit ihren Reformvorschlägen scheiterte Rousseff gerade am Widerstand des Kongresses.

Korruption als Alltag

Auch Korruption gehört zum Alltag: Der "jeitinho", der "kleine Trick", gilt als Teil der Kultur; doch jetzt spürt jeder deren Ausmaß im eigenen Portemonnaie.

Der Mineralölgigant Petrobras war der ganze Stolz der Brasilianer und jahrzehntelanger Garant für Wohlstand. Doch seit eineinhalb Jahren kommen fast täglich Enthüllungen im Petrolão-Korruptionsskandal ans Licht. Auch Ex-Präsident und Volkstribun Luiz Inácio Lula da Silva ist ins längst ins Visier der Ermittler geraten. Er schanzte Bauunternehmen Geschäfte zu. Unternehmer wie Marcelo Odebrecht sitzen bereits in Haft. Viele Brasilianer fragen sich, wie lange es noch dauern wird, bis offiziell ein Verfahren gegen Lula da Silva eröffnet wird.

Rousseff – politisch schwach, aber integer – verspricht Aufklärung; doch sie hat so gut wie keine Verbündeten mehr. Die 68-Jährige kämpft selbst ums Überleben. Auf Druck der Opposition hat der Prozess für ein Amtsenthebungsverfahren begonnen. Der Vorwurf: Rousseff soll mit Bilanzierungstricks das wahre Haushaltsdefizit verschleiert haben. "Das Verfahren ist völlig offen", sagt Dantas. "Auch wenn die Präsidentin ihr Mandat beenden kann, wird das die politische Krise nicht lösen."

100 Milliarden Euro Schulden

Petrobras sitzt inzwischen auf einem Schuldenberg von 100 Milliarden Euro, Investitionen müssen um 40 Prozent zurückgefahren werden – so auch in Itaboraí, einer Stadt bei Rio de Janeiro. Dort sollte ein riesiger Chemiepark entstehen, ein Prestigeprojekt. Das Versprechen von 250.000 neuen Arbeitsplätzen lockte Menschen aus dem ganzen Land an.

Anfang 2015 zog Petrobras die Reißleine und stoppte den Bau der Raffinerien, 28.000 Menschen wurden entlassen. "Wir sitzen in einem Gefängnis. Alles hing von der Raffinerie ab", sagt Bürgermeister Helil Cardozo. Die Kirche richtete Suppenküchen ein, vor denen sich lange Schlangen bilden. Die Hoffnungslosigkeit schlug in Wut und gewaltsame Ausschreitungen um. Regelmäßig versucht Cardozo, Petrobras zur Fertigstellung zumindest einer Raffinerie zu überreden, präsentierte sogar ausländische Interessenten – bisher ohne Erfolg. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 4.1.2016)