Neue Weltführung : China zuerst!
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Vertreter des Militärs treffen vor der Halle des Volkes zum Kongress ein Bild: EPA
Die Volksrepublik gibt sich als Führerin der freien Welt. Doch hinter den Fassaden sieht es ganz anders aus. Nirgends wird das so deutlich wie auf dem Volkskongress.
Schlag neun an diesem Sonntagmorgen sind dreiundzwanzig Männer und zwei Frauen auf die Bühne der Großen Halle des Volkes in Peking geschritten. Zu Trompetenstößen eines Militärmarsches, komponiert noch zu Lebzeiten Maos, reihen sie sich auf unter rhythmischem Klatschen von dreitausend Abgeordneten.
Westlich vom Platz des Himmlischen Friedens beginnt Chinas Volkskongress. Es ist ein Treffen der Superlative. Kein anderes Parlament hat so viele Mitglieder. Unter dem Saalhimmel, an dem in zweiunddreißig Meter Höhe der kommunistische Stern im Blutrot der Revolution erstrahlt, versammelt sich auf viereinhalbtausend Quadratmetern die Führung eines Landes, das ein Fünftel der Menschheit stellt. Aus Tibet in Chinas Westen sind die Kader angereist und aus dem Osten an der Grenze zu Nordkorea. Generäle sitzen neben Ministern und Managern einer Wirtschaft, die in nur dreißig Jahren einhundert der fünfhundert größten Konzerne der Welt geschaffen hat.
Auf der Bühne thront das Politbüro. Der mittlere der fünfundzwanzig Sessel ist für einen Mann reserviert, von dem nicht wenige sagen, er entreiße Amerika gerade die Rolle als Ordnungsmacht der Welt. Von einer Empore herab werden seine sparsamen Regungen beobachtet von dreitausend Reportern aus Hunderten Ländern. Schon lange nicht mehr war das Interesse an Pekings Folkloreschau so groß wie in diesem Jahr, das von Drohungen aus Amerika mit einem Handelskrieg geprägt ist. Die Unruhe von Japan bis Deutschland ist immens.
Hoffnung der Menschheit
Der künftige Anführer der Weltgemeinschaft sitze nicht mehr im Weißen Haus, rumort es unter Staatenlenkern, Klimaschützern, Automanagern. Stattdessen gilt als Hoffnung der Menschheit so manchem der 63 Jahre alte Funktionär auf der Bühne, eingerahmt von zehn roten Fahnen.
Xi Jinping will diese Rolle. Sechs Wochen ist es her, da erklärte Chinas Präsident im schweizerischen Davos sein Land zum Lordsiegelbewahrer einer liberalen Wirtschaftsordnung. Seitdem scheint das Klagen über China nur noch Smog-Schnee von gestern und Peking der sonnigste Platz unter dem Himmel. China sage „nein zum Protektionismus“, tönte Xi vor über eintausend Zuhörern auf dem Weltwirtschaftsforum. Ein Handelskrieg kenne „keine Gewinner“. China sage ja zur „wirtschaftlichen Globalisierung“.
Diese Sätze waren wie in den Grabstein gemeißelt, unter dem Chinas Führung gerne das amerikanische Zeitalter beerdigen würde. Normalerweise sind Xis Reden auf seinen Ausflügen in die Welt das Werk zuständiger Fachreferenten im Außenministerium und zäh wie sechs Stunden Peking-Oper.
An Chinas Manifest zur Rettung der Globalisierung hingegen hatte offensichtlich Liu He Hand angelegt, Xis weltgewandter Wirtschaftsberater, der in den neunziger Jahren an der Harvard-Universität die wachsenden Abstiegsängste des Westens studieren konnte. In einer von „Unsicherheit geprägten Welt“ blicke alles mit „Zuversicht“ auf China, lobte prompt Davos-Forums-Gründer Klaus Schwab. „Wir hatten das Gefühl, Xi hält unsere Rede“, staunte Deutschlands Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen.
Einheitspartei zündet rhetorische Nebelkerzen
Was in Davos niemand sagte: Kaum etwas hat Chinas Partei mit ihrer Gründung vor fast einhundert Jahren so früh eingeübt wie das Zünden rhetorischer Nebelkerzen. Seit Amerikas Präsidentenwahl zeichnet Pekings Propaganda Xi als Anti-Trump. Während der Amerikaner ein Bild der Düsternis malt, verbreite Chinas Präsident „Sonnenschein“, jubeln die Staatsmedien. Wo Trump Verlustängste schürt, ist Xi der neureiche Onkel aus China, der zum Besuch aus Übersee Geschenke mitbringt. Xi sei wie ein Arzt, der „der Weltwirtschaft den Puls fühlt und ihr chinesische Medizin verschreibt“, jubelte die amtliche Nachrichtenagentur „Xinhua“.
Über einhundert Milliardäre schreiten am Sonntag über den roten Teppich des Volkskongresses. Seitdem Xi Jinping Präsident ist, haben sie ihr Vermögen um 200 Milliarden Dollar vermehrt. So wie das chinesische Volk im Volkskongress mangels Wahlfreiheit kaum vertreten ist, könnte sich auch Chinas neu propagierte Weltoffenheit als Zerrbild der Realität erweisen.
Man darf nicht vergessen, es ist erst ein Dritteljahr her, da schlug der nach Peking gereiste Wirtschaftsminister Deutschlands seine Zeit in Museen und Teestuben tot, weil Präsidentenberater Liu He Sigmar Gabriel hatte abblitzen lassen. Selbst der Handelsminister ließ einen Auftritt mit dem deutschen Amtskollegen platzen. Während sich chinesische Käufer einen deutschen Technologiekonzern nach dem anderen sicherten, versperre China Ausländern weiter in großen Teilen seinen Markt, hatte die Bundesregierung zuvor kritisiert. Zur Strafe ließ Ministerpräsident Li Keqiang dem Vernehmen nach den Vizekanzler über eine Audienz so lange im Unklaren, dass Gabriels Maschine in Berlin-Tegel fast am Boden geblieben wäre.
Kein Freund der freien Marktwirtschaft
Als Chinas Regierungschef dann doch in Peking empfing, warf Gabriel dem Land ein Verhalten vor, mit dem Amerikas Präsident bis heute meist nur in der Theorie gedroht hat: eine Politik, die nationalistischen Motiven unterliegt und sich um die Idee des Freihandels nicht schert, nach der von allseits offenen Märkten am Ende alle profitierten. Die Geduld mit China habe ein Ende, berichteten Lobbyisten aus dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Seit Jahren preise sich Xi Jinping als Marktfreund und stärke in Wahrheit Chinas Staatswirtschaft.
Trump droht, internationales Recht zu missachten? Es sei illegal, urteilte der Schiedshof in Den Haag vergangenes Jahr, wenn China im Südchinesischen Meer heimlich Militärbasen baue. Daraufhin erklärte Xi Jinping den angereisten Vertretern der Europäischen Union, Jean-Claude Juncker und Donald Tusk: Pekings Ansprüche seien durch das Urteil „unter keinen Umständen betroffen“. In dem Konflikt geht es um sehr viel. Die Güter, die Containerschiffe aus Hamburg und Bremerhaven durch die Gewässer fahren, stellen je nach Schätzung bis zur Hälfte des Welthandels.
Im November eröffnete ein Grußwort Xi Jinpings eine „Weltinternetkonferenz“ in Wuzhen. Chinas Präsident forderte „Cybersouveränität“ für sein Land. Damit ist nicht nur gemeint, dass Peking mit Hunderttausenden Zensoren das Netz von unliebsamen aus- und inländischen Inhalten und Anbietern säubert. Die „New York Times“, die Donald Trump gerne „sterben“ sähe, ist nur eines der Medien, die in China seit der Machtübernahme Xi Jinpings gesperrt wurden. Nach einem neuen Gesetz müssen ausländische Unternehmen zudem ihre Daten im Land speichern, was Angst vor Spionage schafft.
Europa sucht nach einer neuen Partnerschaft
Nun aber sucht Europa in einer von Trump irritierten Welt „neue Partner“. Wenn sich heute alles jederzeit ändern kann, warum nicht auch China? Wird nicht gerade den Kommunisten in Peking zugutegehalten, sie hätten sich flexibel gezeigt und mit der Marktwirtschaft 700 Millionen Menschen aus der Armut geholt?
Europa, lange Zeit von China nicht mehr ernst genommen, wittert Morgenluft. Dass das Land einen jährlichen Gipfel mit der EU vorziehen und ein Signal an Trump senden will, stößt in Berlin auf offene Ohren. Schon im Mai könnte Kanzlerin Merkel zu Xis „Seidenstraßen“-Gipfel fliegen, bei dem Deutschlands neuer Freihandelsfreund Hof halten will.
Noch nie sei es so einfach gewesen, mit den Chinesen zu verhandeln, freut sich ein Diplomat in Peking. Eben noch hatte sich die deutsche Industrie gesorgt, unter die Räder zu geraten, wenn China seine Pläne wahr mache und alle Schlüsseltechnologien selbst herstelle und exportiere. Nun ertönen Jubelmeldungen, nach denen die Kanzlerin China Zugeständnisse abgerungen habe. Größter Handelspartner der Bundesrepublik ist das Land bereits. „Gemeinsam“ müssten beide nun „das multilaterale System in der Welt verteidigen“, ruft der deutsche Botschafter in Peking, Michael Clauss, dem Volkskongress zu.
Riskante Hoffnung auf China
Deutschlands Manager aber werden zählen, wie oft in der Großen Halle am Sonntag der „Stabilität“ das Wort geredet wird. Im Vorfeld des Volkskongresses fiel es an fast jedem Tag. Keine Experimente, hat Xi Jinping als Parole ausgegeben und Reformen damit eine Absage erteilt. Nach dem Abbau von Handelsschranken und dem Willen, dem Bekenntnis zur Globalisierung auch Taten folgen zu lassen, klingt das nicht.
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Auf China zu hoffen ist riskant. Weder militärisch noch technologisch und diplomatisch sei das Land in der Lage, in die Rolle der Ordnungsmacht Amerika zu schlüpfen, sagt der New Yorker Politikwissenschaftler Ian Bremmer, der Schwellenländer wie China dahingehend definiert, dass ihre Märkte von Politik mindestens ebenso stark bestimmt würden wie von Wirtschaft. Dass Peking fortan an vorderster Front für offene Märkte und das Weltklima kämpft, daran gibt es Zweifel angesichts dessen, was Xi Jinping daheim vorfindet: eine Währung, die an Wert verliert; eine Blase auf dem Häusermarkt; eine Wirtschaft, die ohne staatliche Billionen einbräche und Schulden aufgebaut hat, von denen der Internationale Währungsfonds fürchtet, sie könnten eine neue Finanzkrise auslösen. Zwei Billionen Euro will die Volksrepublik dennoch in Infrastruktur investieren, hat sie vor dem Volkskongress verkündet. Das dürfte neben Sinnvollem auch noch mehr Flughäfen schaffen, von denen viele im Land schon heute halb leer stehen.
Wenn Ministerpräsident Li Keqiang am Sonntag als Zielmarke ausgeben wird, dass die chinesische Wirtschaft im laufenden Jahr nicht viel langsamer wachsen soll als im vergangenen, werden auf der Bühne weibliche Diener zum exakt gleichen Zeitpunkt hinter die aufgereihten Kader treten. Zwischen siebzehn und einundzwanzig Jahre sind sie alt und messen maximal 167 Zentimeter. Sie wurden überprüft, haben ein Jahr lang militärisches Training durchlaufen und nahezu keinen Kontakt mit der Außenwelt.
Ein Zeichen, und die Mädchen servieren Tee in einer mit Orchideen verzierten Porzellantasse. Entworfen wurde das Modell kurz vor der Kulturrevolution. Es trägt den Namen „Sieg“. Am Ende, wollten die Namensgeber damit ausdrücken, soll es heißen: China zuerst.