NR-Wahl: "Es gibt viele Arbeiter, die wütend sind"

Soziologen Flecker und Altreiter im Gespräch über die Politik für den "kleinen Mann".
Im Wahlkampf wenden sich Politiker gerne den "kleinen Leuten" zu. Bei Betriebsbesuchen schütteln sie zahlreiche Hände, auf Volksfesten dozieren sie ihre Pläne für das arbeitende Volk. Der Duktus ist klar: Wir für euch! Aber welche Partei vertritt wirklich die Interessen der Arbeiter?

Didier Eribon erinnert sich noch gut an seine Kindheit. Aufgewachsen in einer typischen Arbeiterfamilie im nordfranzösischen Reims. Die Mutter ist Putzfrau, der Vater Fabrikarbeiter. Seine Familie wählt die Kommunistische Partei. Viele aus der Nachbarschaft tun das, sie sind Arbeiter.

Heute, so schreibt er in seinem Buch "Rückkehr nach Reims", sei es aber anders. Das Arbeitermilieu wählt nicht mehr links, sondern rechts, den Front National, Donald Trump oder den Brexit.


Aufruf: Der KURIER möchte mit Arbeiterinnen und Arbeitern über ihre Sorgen und Wünsche sprechen. Falls Sie Interesse haben, schicken Sie bitte eine E-Mail an juergen.klatzer@kurier.at. Vielen Dank. Hier geht's zur Straßen-Umfrage.

Der französische Soziologe Eribon hat damit nicht unrecht. Auch in Österreich ist es inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr, dass Arbeiter die SPÖ wählen. Die Sozialdemokratie, so scheint es, hat die einst so stolze Klasse an die FPÖ verloren. Doch wieso? Was sind die Gründe für die Abkehr?

Im KURIER-Gespräch erklären die Soziologen Jörg Flecker und Carina Altreiter, was es mit der Arbeiterklasse auf sich hat, wer ihre Interessen vertritt und warum es bei der Wahl großteils um den Protest geht.


KURIER: Herr Flecker, gibt es noch eine Partei, die die Interessen der Arbeiter vertritt?

Jörg Flecker: Es ist schwierig von den Arbeitern zu sprechen, weil die Berufsgruppe an den Rändern ausfranst. Meinen wir den in der Gehaltsstufe Techniker eingestuften Industriearbeiter, der eine HTL-Ausbildung hat und viel verdient? Oder sprechen wir von den Benachteiligten in der Gesellschaft? Die mit niedrigem Einkommen, unsicherer Beschäftigung und härteren Arbeitsbedingungen?

Politiker sprechen vom "kleinen Mann" bzw. von der "kleinen Frau".

Carina Altreiter: So klein sind diese Männer und Frauen gar nicht. In Österreich ist gut eine Million Beschäftigte als Arbeiter angestellt.

Aber können wir heute von einem sozialen Kollektiv "Arbeiter" noch sprechen?

Altreiter: Es ist kein Geheimnis, dass das Klassenbewusstsein in Österreich nie so stark ausgeprägt war wie etwa in Großbritannien. Aber es gibt sehr viele Arbeiter, die marginalisiert und wütend sind, weil es für sie immer schwieriger wird, über die Runden zu kommen. Sie können sich ein Öffi-Ticket nicht leisten und wenn die Waschmaschine kaputt geht, kann die finanzielle Existenz bedroht sein. Das Problem ist, dass sich die Politik zunehmend von diesen Menschen entfernt hat und viel stärker die Interessen der gut qualifizierten Personen des urbanen Raums vertritt. Der britische Soziologe Tariq Ali spricht von der "extremen Mitte", ein Bündnis zwischen oberen Schichten und Teilen der Mittelschicht. Politiker gehen davon aus, dass alles, was den gut ausgebildeten Menschen nützt, automatisch gut für alle ist.

NR-Wahl: "Es gibt viele Arbeiter, die wütend sind"
Uni Wien, Wahl, Politik, Jörg FLECKER, Carina ALTREITER, Interview, Politik für Arbeiter

Fühlen sich Arbeiter, die sich nicht zu der "extremen Mitte" zählen, überhaupt von einer Partei vertreten?

Flecker: Wir müssen uns zwei Fragen stellen: Fühlt sich eine Personengruppe von einer Partei angesprochen? Und: Vertritt diese Partei die Interessen dieser Personengruppe? Nehmen wir als Beispiel die FPÖ. Viele Arbeiter, das haben die vergangenen Wahlen gezeigt, fühlen sich von den Freiheitlichen angesprochen. Aber vom Abstimmungsverhalten im Parlament wissen wir, dass die FPÖ eher gegen die Interessen der Arbeiter votiert. Was natürlich völlig dem widerspricht, was sich ein Wähler von einer Partei erhofft, die er gewählt hat. Aber andere Parteien, die die Interessen vielleicht besser vertreten, schaffen es nicht, die Gruppe der Marginalisierten anzusprechen.

Der französische Soziologe Didier Eribon ("Rückkehr nach Reims") bezeichnet die Wahl von Rechtspopulisten als eine "politische Notwehr der unteren Schichten". Kann eine Protestwahl wirklich die Lösung sein?

Flecker: Nein, aber Protestwähler verfolgen auch ein anderes Ziel: Sie wollen gehört und gesehen werden. In den USA haben plötzlich alle darüber geredet, wer denn diese Leute sind, die Donald Trump gewählt haben, und was sie wohl wollen könnten. Journalisten pilgerten in den "Rust Belt" (die größte Industrieregion der USA, Anm.), vor Trump noch eine Hochburg der Demokraten, um mit Industriearbeitern und Arbeitslosen über ihre Sorgen zu sprechen. Sonst ist es ihnen ja kaum möglich, sich Gehör zu verschaffen. Menschen, die keine Jobs haben, können nicht streiken, und alle, die einen haben, würden ihre befristeten Verträge riskieren. Was bleibt ihnen also anderes übrig, als in der Wahlkabine zu protestieren?

Altreiter: Was man auch sagen muss: Rechtspopulisten ist es in den vergangenen Jahren gelungen, die Grundlage vieler Sorgen der unteren Schichten komplett umzudeuten.

Wie meinen Sie das genau?

Altreiter: Die Ausbeutung der Arbeitskraft oder die Angst vor Arbeitslosigkeit sind zu Konflikten geworden, die nicht mehr sozial, sondern ethnisch fundiert werden. Es wird suggeriert, dass Ausländer und Migranten schuld daran sind, wenn wir in unseren Lebenslagen nicht vorwärts kommen. Sprich: Wenn die nicht wären, hätten wir keine Probleme in Österreich.

Flecker: In der Literatur ist von "Problemverschiebung" die Rede. Wenn uns die Chance fehlt, die tatsächlichen Ursachen und Verursacher von Problemen anzusprechen, begründen wir unsere diffuse Unzufriedenheit mit völlig anderen Positionen. Die sind zwar gesellschaftlich geduldet, aber mit dem Problem haben sie vielleicht gar nichts zu tun. Aber es erscheint uns einfacher, den Frust gegen jene zu richten, die leicht zu Sündenböcken gemacht werden können, wie etwa Flüchtlinge.

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Viele Menschen fühlen sich aber tatsächlich von Arbeitskräften, etwa aus Osteuropa, verdrängt. Ich denke an die Gastronomie, Reinigungsunternehmen und Baubranche.

Flecker: Ja, aber dass sich Unternehmen Arbeitskräfte aus dem Ausland holen, ist eine ökonomische Strategie, um höhere Gewinne zu erzielen. Wie wir aus einer Studie von Institutskollegen wissen, verdienen Slowaken in Österreich zwar das Doppelte von dem, was sie zuhause verdienen, aber trotzdem nur die Hälfte des österreichischen Normallohns. Das Unternehmen profitiert davon, wenn es heimische Arbeiter durch Migranten ersetzt. Trotzdem prangern Menschen nicht die Geldgier der Unternehmen an, sondern den Arbeiter, der sich in derselben Klassenlage befindet, aber von anderer ethnischer Herkunft ist.

Woran liegt es?

Flecker: Provokation. Solche Ressentiments richten sich aber selten gegen "Fremde", sondern gegen jene Gruppen, die in ihrer Wahrnehmung bevorzugt behandelt werden. Viele Menschen fühlen sich provoziert, wenn sie etwas nicht bekommen, worauf sie subjektiv gesehen einen Anspruch haben. Es geht einerseits um materielle Dinge, andererseits auch um Anerkennung und Wertschätzung.

Frau Altreiter, Sie haben für Ihre Dissertation mit jungen Industriearbeiterinnen und -arbeitern gesprochen. Mangelt es ihnen an Anerkennung?

Altreiter: Könnte man zum Teil so interpretieren, ja. Was aber ganz klar zum Ausdruck kam, ist die Sorge, dass es immer schwieriger wird, über die Runden zu kommen, weil der Wert der Arbeit, die sie ausüben, zu gering ist. Viele sind deshalb von der Facharbeit in kleinen Handwerksbetrieben in die ungelernte Industriearbeit gewechselt. Dort verdienen sie einige Hundert Euro mehr. Obwohl das Risiko besteht, dass sie zehn Jahre lang in der Leiharbeit beschäftigt sein werden, wie es heute in vielen Industriebranche üblich ist. Existenzängste sind immanent. Was ist, wenn man nicht übernommen wird? Zurück in den alten Beruf, wo ich weniger verdiene? Muss ich weg aus meiner Heimat, weil es im Ort keine Arbeit gibt?

Schätzen wir die Arbeit der Menschen zu wenig?

Altreiter: Menschen wollen etwas leisten, weil sie an der Gesellschaft teilhaben und sich ihre Träume erfüllen wollen. Aber der Leistungsbegriff hat sich verändert. Wenn jemand viel Geld am Konto hat, dann muss er etwas geleistet haben. Gleichzeitig wird die Leistung vieler Beschäftigter nicht angemessen anerkannt und wertgeschätzt, weder gesellschaftlich noch finanziell: eine Reinigungskraft, die ihren Körper täglich schindet, macht für uns nur ihre Arbeit. Auf der symbolischen Ebene haben wir ein massives Problem der Anerkennung. Politik und Wirtschaft setzen auf wirtschaftliche Standortverbesserung und vergessen oft auf die Menschen, die das Unternehmen ausmachen.

Ohne Unternehmen würde es aber auch keine Arbeitsplätze geben.

Flecker: Aber die Frage ist, ob man die Belange der Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt und alles andere nachrangig ist, oder ob man versucht, ein Gleichgewicht zu halten. Man könnte zum Beispiel sagen, dass Betriebe gute Rahmenbedingungen vorfinden müssen, aber zugleich muss es Sicherheiten für Beschäftigte geben.

In Frankreich gründete Emmanuel Macron eine "Bewegung", in Österreich tut das nun die ÖVP. Glauben Sie, dass solche "Bewegungen" den "kleinen Mann" besser vertreten können als Parteien?

Flecker: Das sind Taschenspielertricks. Das ist völlig absurd. Es ist ein riesiges Problem für die Demokratie, wenn sich die Politik selbst abwertet. Wir brauchen Politiker, die ihren Job machen.

Altreiter: Was durch diesen Bewegungsgedanken und die Beteuerung "Wir sind weder links noch rechts" passiert ist: Es wird so getan als ob es unterschiedlichen Interessenlagen in einer Gesellschaft nicht mehr geben würde, obwohl diese ganz klar bestehen. Die Leute spüren doch, dass Unternehmer ein anderes Begehr haben als Beschäftigte.

Bei der Hofburg-Wahl im vergangenen Jahr stimmten 85 Prozent der Arbeiter für den Freiheitlichen Norbert Hofer, bei der Wien-Wahl wählte jeder zweite Arbeiter die FPÖ. Wird es bei der Nationalratswahl anders sein?

Flecker: Das glaube ich nicht. So lange Arbeiter abseits vom Wahlkampf im politischen Diskurs nicht vorkommen, werden sie Rechtspopulisten wählen. Vielleicht nicht gerade Sebastian Kurz, aber dafür Heinz-Christian Strache.

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Uni Wien, Wahl, Politik, Jörg FLECKER, Carina ALTREITER, Interview, Politik für Arbeiter


Zur Person: Jörg Flecker ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Veränderung der Beschäftigungsverhältnisse und die Qualität der Arbeit. Er ist zudem Obmann der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA).

Zur Person: Carina Altreiter ist Universitätsassistentin am Institut für Soziologie an der Universität Wien. Ihre Dissertation über die Arbeits- und Lebensbedingungen von jungen Industriearbeitern und Industriearbeiterinnen wurde 2017 mit dem Theodor-Körner-Preis ausgezeichnet.

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