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Johannes Thumfart

Radikalisierung als Krankheit Ist Islamismus heilbar?

Seit Sigmund Freud wird extreme Religiosität als eine Form von Geisteskrankheit gesehen. Nur den Islam schließen wir aus dieser Sichtweise aus. Dabei gehören Islamisten doch meistens auf die Couch, oder?
Muslime beim Gebet

Muslime beim Gebet

Foto: Daniel Naupold/ dpa

Bei der medialen Wahrnehmung spektakulärer Gewalttaten kommt es häufig zu so etwas wie psychologischem Rassismus. Westlich geprägte Täter gelten in erster Linie als psychisch kranke Amokläufer. Muslimisch geprägte Täter gelten - zum Leidwesen muslimischer Gemeinden - in erster Linie als religiös motiviert. Aber glaubt wirklich jemand, ein kleinkrimineller Drogendealer wie Anis Amri wäre zu so was wie einer ernst zu nehmenden religiösen Motivation fähig? Und war das, was in London passierte, wirklich mehr als ein Amoklauf?

Von einer zu einseitigen Beantwortung dieser Frage profitiert zuallererst der Islamismus. Vor allem für junge Männer ist es ungleich attraktiver, als verfemte Outlaws auf heiliger Mission dazustehen denn als am Leben gescheiterte Geisteskranke. Aus diesem Zerrbild ziehen Regierungen die falschen Schlüsse. Statt in die großangelegte Prävention und Behandlung psychotischer Radikalisierung fließen Steuergelder in rechtsstaatlich problematische Überwachung. Einstweilen wächst die Zahl gewaltbereiter Islamisten ebenso stetig wie die Schamlosigkeit rechter Pöbler.

Dabei ist es eigentlich längst Teil des gesunden Menschenverstands, Äußerungen extremer Religiosität als Ausdruck psychischer Krankheit zu sehen. Lustfeindliche Protestanten, homophobe Katholiken und ich-schwache Buddhisten erkennen wir sofort als Therapiefälle. Man mag Freud nicht zustimmen, dass "Religion eine universelle Zwangsneurose" ist, seine Kritik prägt unsere Alltagseinschätzung dennoch.

Außer eben bei Islamisten und strengen, jedoch nicht gewalttätigen Muslimen. Auch den Verfechtern unterlassener Handschläge und obligatorischer Verschleierung erweisen wir die zweifelhafte, im Grunde rassistische Gunst, sie von psychoanalytischer Kritik auszunehmen. Dabei läge es doch eigentlich näher, hier die schwer absehbaren Folgen dämonisierter Sexualität zu diskutieren als die fraglos wünschenswerte Gleichbehandlung der Religionen durch staatliche Institutionen. Die Furcht vor der vitalen Kraft des weiblichen Körpers ist ja nicht strafbar und - Hand aufs Herz - zumindest in Jugendjahren auch nicht ganz unverständlich. Sie ist aber bei Erwachsenen psychisch problematisch.

Geht ein Islamist zum Psychoanalytiker

Interessanterweise entspricht die psychologische Diskriminierung von Muslimen wiederum dem schwierigen Stand der Psychologie im Nahen Osten und im Maghreb . In der islamischen Welt ist sie viel weniger verbreitet als in der westlichen. Psychologie gilt wegen ihrer Gründungsväter als wahlweise jüdisch, atheistisch oder sexuell anstößig. Was manch ein Reaktionär im Westen als tiefe Religiosität der islamischen Welt bewundert, könnte nur ein Mangel an Selbstreflexion sein.

Es ist also höchste Zeit, dass sich jemand mit der Aufhebung der beiderseitigen Blindheit zwischen Psychologie und Islam beschäftigt. Die nun auf Deutsch erscheinenden Bücher "Der Übermuslim" und "Psychoanalyse des Islam" des französischen Psychoanalytikers Fethi Benslama  bringen den Islam gleichberechtigt neben den anderen Buchreligionen auf die Couch.

Sie zehren von seinem reichen Erfahrungsschatz als Praktiker in der Pariser Banlieue, sind keine Islamkritik, sondern Resultat der Arbeit an und mit muslimischen Patienten. Er habe, schreibt Benslama, mit dem Erstarken des Islamismus in den letzten Dekaden eine Zunahme muslimischer Patienten mit religiös bedingten Zwangssymptomen beobachtet. Aus dieser praktischen Notwendigkeit entwickelt er eine genuin islamisch geprägte Psychoanalyse, die konkrete, aber auch hochspekulative Züge trägt, wie sie für die in Deutschland verpönte Analyseschule des Lacanismus typisch sind.

Zunächst also - aus naheliegenden Gründen - zu den konkreten Grundzügen seiner Überlegungen, dargelegt vor allem im kurzen, sich mit Islamismus beschäftigenden Manifest "Der Übermuslim". Benslama geht hier von mehr oder weniger bereits bekannten Statistiken aus: Mehr als die Hälfte der Islamisten in Frankreich stammen aus der Mittelschicht, zwei Drittel von ihnen sind zwischen 15 und 25 Jahre alt und 40 Prozent davon Konvertiten.

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Benslama, Fethi

Der Übermuslim: Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt

Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Seitenzahl: 141
Für 18,00 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

23.04.2024 21.51 Uhr

Keine Gewähr

Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier

Wie wird man zum Islamisten?

Beim Islamismus handele es sich also nicht um ein soziales Problem, das vor allem die Unterschichten betrifft, sondern auch um ein psychisches - und zwar meistens teilweise um eine Postadoleszenzkrise. Die Jahre zwischen 15 und 25 sind eine Phase der Orientierungslosigkeit: Die Ablösung vom Elternhaus muss geübt werden, aber es gibt häufig noch keine autonome Struktur wie fester Job, Partner oder Familie. In dieser Situation wird der Orientierungspunkt der Islam - oder das, was die Betroffenen dafür halten. Viele Konvertiten sind darunter, Islamisten also nicht unbedingt Islamkenner. Einige haben sich kurz vor ihrer Abreise nach Syrien das Buch "Islam für Dummies" auf Amazon bestellt .

Attraktiv sei die Radikalisierung, weil sie es den Betroffenen erlaube, die eigene, in dieser Lebensphase häufig als defizitär erlebte Persönlichkeit gegen eine Reihe stereotyper Äußerungen wie "Allahu Akbar" und einen urgroßväterlichen, also ultra-erwachsenen Habitus einzutauschen. Die Betroffenen beschreiben sich häufig bereits vor der Tat als "schon tot". "Das Subjekt tritt hinter dem Automaten zurück." Die Selbstauslöschung findet im Märtyrertod ihre grausige Konsequenz: "Im traditionellen Islam ist der Märtyrer ein Kämpfer, der den Tod in Kauf nimmt. Für den Märtyrer des Islamismus ist der Tod kein kontingentes Ereignis des Kampfes, sondern sein Zweck."

Das alles klingt sehr schlüssig. Allerdings wird Benslama - selbst ein älterer Jahrgang - gelegentlich Opfer der vornehmlichen Jugendkultur, die er beschreibt. Er versteigt sich zum Beispiel zu absurden Superlativen wie: "Der radikale Islamismus ist heute das weitverbreitetste, aufregendste und ins sich vollständigste Produkt auf dem Internetmarkt." Dabei gibt es für den Großteil muslimischer und nicht-muslimischer Jugendlicher in der arabischen und restlichen Welt naturgemäß Aufregenderes als Fundamentalismus. Facebook, Snapchat, WhatsApp, Tindr, Grindr und ja, Porno regieren - übrigens alles auch bei Islamisten . Dieser - Freudsche? - Lapsus des Psychoanalytikers Benslama ist angesichts seiner grundsätzlich Bullshit-verdächtigen Zunft nicht gerade vertrauenserweckend.

Allah ist kein Vater

In "Psychoanalyse des Islam" macht er sich daran, die potentiell pathogenen Strukturen des Islams herauszustellen - wie unzählige seiner Kollegen für die anderen Buchreligionen. Die Islamische Theologie begreife Gott nicht etwa als Vaterfigur, was für Sigmund Freuds kritische Deutung des Judentums und Christentums grundlegend ist. In den Islamischen Schriften werde Allah niemals als "Vater" bezeichnet, da dies anthropomorph und theologisch inkonsequent wäre. In der höchst asymmetrischen Konfrontation des realen menschlichen Subjekts mit diesem rein abstrakten Gott tue sich ein Abgrund auf. Aus diesem Abgrund erwachse ein erbarmungsloses Über-Ich, ein "innerer Feind".

Verschärft wird diese strukturelle Problematik durch Kolonialismus und den Import abendländischer Kultur in die arabische Welt. Den Beginn des Islamismus macht Benslama an drei Jahreszahlen fest:

  • 1923: Ägyptische Feministinnen legen den Schleier ab
  • 1924: Das Osmanische Reich geht unter
  • 1928: Die Muslimbrüder werden als antikolonialistische Proto-Islamisten gegründet

Der theologisch bedingte Abgrund im muslimischen Subjekt wird seit dieser Epoche gleichbedeutend mit dem Bruch zwischen der als mütterlich und unbefleckt vorgestellten, vor-kolonialen Gemeinschaft der muslimischen umma - von oum, "Mutter" - und den modernen, als promisk vorgestellten Gesellschaften. Aus dieser Konstellation erkläre sich die obsessive Sorge der Islamisten um die "Rein"-Haltung der Frau, deren absurde Blüten Benslama anhand tragikomischer Fatwas illustriert sowie anhand der engen etymologischen Verwandtschaft von harim - "Frau" - und mahrim - "Tabu".

Islamist zu sein ist keine Krankheit

Benslama entwirrt so den islamistischen Nexus von Misogynie, Prüderie und zu Selbstgerechtigkeit verführendem Antikolonialismus. Aber seine theoretischen Arbeiten sind, wie gesagt, nicht ohne offenkundige Schwächen. Man kann sich kaum vorstellen, dass seine bisweilen blumig geschriebene, bürgerlich geprägte lacanistische Theorie der Psychoanalyse tatsächlich Islamisten heilen kann.

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Benslama, Fethi

Psychoanalyse des Islam

Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Seitenzahl: 352
Für 30,00 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

23.04.2024 21.51 Uhr

Keine Gewähr

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Das auf freiwilliger Anmeldung basierende Deradikalisierungs-Zentrum , an dem Benslama beteiligt war, ist beispielsweise mittlerweile leer, was eine heftige Debatte in Frankreich bewirkte. Gegen die Idee einer Heilung von Islamisten wehrt sich Benslama auf Anfrage hin grundsätzlich: "Islamist zu sein ist keine Krankheit, sondern eine ideologische Wahl. Sie kann nur behandelt werden, wenn der Betroffene Leid dabei erlebt, mit dieser Wahl zu leben. Man kann jemandem nicht helfen, einen Glauben abzulegen, wenn er dazu kein Bedürfnis hat und wenn es keine andere Form von Glauben gibt, die sein Leben verbessert." Die Behandlung von Islamisten müsse daher verschiedene Aspekte beinhalten: Das Aufbauen kritischer Distanz, die Ermöglichung bürgerlicher Teilhabe, die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und natürlich auch Psychotherapie.

Jedoch setzt all dies voraus, dass sich die Betroffenen helfen lassen wollen, was nicht der Fall zu sein scheint. In der Fachliteratur finden sich bislang noch keine substantiellen Untersuchungen zum Thema. Sicher ist: Wenn schon religiöser Fundamentalismus aus der ideengeschichtlichen Mottenkiste geholt wird, sollte man nicht vergessen, Freud gleich mit hervorzukramen.