Analyse: Wie ein Ja erst möglich wurde

Die Türkei und ihre Idole. Ein Straßenverkäufer mit einer türkischen Flagge, die Staatsgründer Atatürk zeigt.
Die Türkei und ihre Idole. Ein Straßenverkäufer mit einer türkischen Flagge, die Staatsgründer Atatürk zeigt.(c) REUTERS (ALKIS KONSTANTINIDIS)
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Die Türkei war seit ihrer Gründung keine gefestigte Demokratie, und die tiefe Spaltung der Gesellschaft besteht schon seit Atatürk. Eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit fehlt.

Die Kommentare reichen von „Auf Wiedersehen Türkei“ bis „Die Türkei schafft die Demokratie ab“. Zwischen Lissabon und Wien herrscht Unverständnis darüber, dass die Mehrheit der türkischen Wähler für eine Verfassungsänderung und somit für ein autoritär ausgeprägtes Präsidialsystem gestimmt hat. Unabhängig davon, ob es zu Manipulationen bei der Abstimmung gekommen ist, und wohl wissend, dass die Bedingungen im Wahlkampf für die Opposition außerordentlich unfair waren, kann sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf seine Anhänger verlassen. Man fragt sich also: Wie können sich die Anhänger freiwillig für ein autoritäres Regime samt Aussichten für die Wiedereinführung der Todesstrafe entscheiden und dafür die parlamentarische Republik beerdigen?

Das ist eine Frage aus europäischer Sicht. Die Türkei war seit ihrer Gründung keine gefestigte Demokratie, vielmehr musste sie sich mit einem überstarken Militär auseinandersetzen, mit Islamisten und Nationalisten, mit Verschwörungen und Parallelstrukturen, mit ständigen Parteiverboten und der ewigen Gefahr eines Putsches, mit wirtschaftlich enorm schwierigen Zeiten. Eine funktionierende Demokratie lässt sich insbesondere an einer unabhängigen Justiz ausmachen, und in der Türkei waren die großen und wegweisenden Prozesse immer politisch motiviert.

Schauprozess gegen Studenten

Das trifft etwa auf die Massenverfahren gegen die 1968er-Bewegung zu, die mit der Hinrichtung von drei linken Studentenführern 1972 einen politisch-symbolischen Höhepunkt fanden. In derartigen Prozessen wurden alle möglichen Nebenaspekte, ganz gleich, ob sie relevant waren oder nicht, zu Schauprozessen zusammengefasst.

Die jüngsten Beispiele betreffen die Gerichtsverfahren gegen mutmaßliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen sowie die Prozesse gegen Journalisten, die für kurdische Medien tätig waren (die sogenannten KCK-Prozesse). Die ältesten Beispiele gehen in die 1920er-Jahre zurück, als in den „Unabhängigkeitsgerichten“ Deserteuren der Prozess gemacht wurde. In diesen Gerichten wurde in der noch im Entstehen begriffenen Republik jegliche Art von Revolte abgestraft.

In einer gut geölten Demokratie hat jede noch so kleine Minderheit, ethnisch oder religiös, seinen Platz und genießt dieselben Rechte wie alle anderen. Kurden, Aleviten, Griechen, Armenier oder Juden haben in der türkischen Republiksgeschichte keine rühmlichen Stunden erlebt. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat man den Blick auf die eigenen Minderheiten geschärft, im positiven Sinn, aber der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen – das zeigt der wiederaufgeflammte Konflikt im Südosten des Landes. Zwar gilt jetzt nicht mehr jeder Kurde a priori als Terrorist, aber Kurden sind gesellschaftlich auch nicht gleichgestellt.

Islamisten waren immer eine Gefahr in der modernen Türkei, mehrere Parteien hat die damals laizistisch-kemalistisch ausgerichtete Justiz schon verboten. Auch Erdoğans AKP musste sich 2008 einem Verbotsprozess stellen, aber zu diesem Zeitpunkt war die Partei schon fest genug in den staatlichen Strukturen verankert, sodass das Verfahren eingestellt wurde.

Schon immer gespalten

Die Türkei ist nicht erst seit dem Referendum ein tief gespaltenes Land, sie war es immer schon, das hat die Gründungsgeschichte vorgegeben. So wie Atatürk mit der laizistischen Staatsordnung die Realität vieler Teile der Bevölkerung ignoriert hat, passiert nun dasselbe mit umgekehrten Vorzeichen. Die Gralshüter des Kemalismus, die Armee, hat nicht zugelassen, dass sich die progressive Zivilgesellschaft oder Gewerkschaften organisieren und stärken, dafür bezahlen sie nun die Rechnung. Das Militär war brutal, und im kollektiven Gedächtnis steht das Militär für die Republik Atatürks.

Die Republik der Kemalisten hat der Türkei also keine nachhaltige demokratische Stabilität gebracht – dieses verzerrte, aber auch nicht ganz falsche Argument hat die Anhänger Erdoğans schließlich überzeugt. Auch deswegen war die Hemmschwelle nicht hoch, für die Abschaffung der Atatürk'schen Republik zu stimmen.

Was in der Türkei schmerzlich gefehlt hat, war die Aufarbeitung und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Atatürk hat abrupt mit dem Osmanischen Reich abgeschlossen und in Windeseile eine Republik errichtet. Die kollektive Vergangenheit ist dem Volk gewissermaßen entrissen worden, und die neue Staatsordnung durfte man nicht in Frage stellen. Dieser Zustand ist immer gleich geblieben, während Länder wie Deutschland den Holocaust verantwortet, und später aufgearbeitet haben. Das Fehlen der kritischen Aufarbeitung lässt in der Türkei nicht zuletzt eine ernst gemeinte osmanische Nostalgie zu – und die Unantastbarkeit Atatürks.

Freilich, trotz der turbulenten Jahrzehnte hat die Türkei demokratische Erfahrung gesammelt. Das ist der Grund, warum so viele Menschen trotz unfairer Vorbedingungen das System Erdoğan verstanden und dagegen gestimmt haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2017)

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