Armuts- und Reichtumsbericht : Kaufen die Reichen die Politiker?
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Wie entscheiden sie? Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags. Bild: dpa
Der Armuts- und Reichtumsbericht ist beschlossen – und ein unliebsamer Satz fehlt. Hat die Politik den Bericht verfälscht? So sieht es nicht aus.
Heute hat die Bundesregierung ihren neuen Armuts- und Reichtumsbericht formal beschlossen. Monatelanges Gezerre war dem Bericht vorausgegangen – mit einem bemerkenswerten Ergebnis: am bekanntesten ist ein Satz, der gar nicht mehr im Bericht steht.
„Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird“, hieß es in dem Entwurf, den SPD-Ministerin Andrea Nahles an den Rest der Bundesregierung gab. Nachdem das Kanzleramt von Angela Merkel mit dem Bericht fertig war, fehlte der Satz. Auch Hinweise auf den „Einfluss von Interessenvertretungen und Lobbyarbeit“ fielen heraus. Zudem fehlt der Satz: „Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“
Im jetzt veröffentlichten Bericht heißt es nur noch, eine Studie habe ergeben, dass „eine Politikänderung wahrscheinlicher ist, wenn diese den Einstellungen der Befragten mit höherem Einkommen mehrheitlich entsprach“. Es gebe aber „keine belastbaren Erkenntnisse über Wirkmechanismen“.
Fehlen die Sätze zurecht?
Die Umformulierung wurde an die Medien durchgestochen. Jetzt heißt es in praktisch jeder Meldung zum Reichtumsbericht, welcher Satz fehlt. Was wirklich drin steht, wird seltener zur Kenntnis genommen. Der Ärger ist groß. „Die Bundesregierung zensiert die unliebsamen Ergebnisse ihrer eigens beauftragten wissenschaftlichen Studie“, kritisiert zum Beispiel die Organisation Lobbycontrol.
Hat das Bundeskanzleramt wirklich missliebige Hinweise auf die Käuflichkeit von Politik gestrichen? Oder gibt es gute Gründe dafür, dass die Sätze nicht mehr darin stehen?
Die Antwort liefert ein Blick in die Studie, die den umstrittenen Sätzen zugrunde lag. Sie stammt von dem Politikwissenschaftler Armin Schäfer an der Universität Osnabrück, der schon seit Jahren erforscht, dass Arme seltener zur Wahl gehen als Reiche. Für den Armuts- und Reichtumsbericht untersuchte er mit zwei Mitarbeiterinnen in einem Auftragsgutachten, ob sich politische Entscheidungen eher an den Präferenzen von Reichen oder von Armen orientieren.
Tatsächlich kommt er zu dem Schluss: Wenn es in einer politischen Frage Unterschiede zwischen den Meinungen von Einkommensstarken und Einkommensschwachen gibt, dann setzen sich die Einkommensstarken meistens durch. „Wir haben gezeigt, dass politische Entscheidungen die Vorstellungen der Reichen, nicht aber die der Armen widerspiegeln“, sagt Schäfer. So ungefähr steht es auch heute noch im Armutsbericht.
Woran liegt das? Liegt es wirklich am Lobbyismus? Kaufen sich die Reichen die Politik, die sie wollen? Die Liste der möglichen Erklärungen ist lang, Lobbyismus ist nur eine davon – und nicht unbedingt die wahrscheinlichste.
Geld und Lobbyismus
Alles begann mit Amerika: In den Vereinigten Staaten stellte eine Studie fest, dass Reiche ihre Meinung eher durchsetzen können, vielleicht auch deshalb, weil sie hohe Wahlkampfspenden leisten. Ist das in Deutschland ähnlich? „In Europa, wo (...) die Parteifinanzierung vornehmlich öffentlich ist und Wahlkampfspenden viel geringer ausfallen, erscheint dieser Mechanismus weniger plausibel“ – so heißt es in der Studie des Politikwissenschaftlers, die dem Armutsbericht zugrunde liegt.
Und der Lobbyismus? Können sich die Reichen Lobbyisten kaufen, die ihre Interessen vertreten? Das schließt die Studie nicht aus, sagt aber: „Hier fehlt allerdings eine umfassende Untersuchung für den deutschen Fall.“ Tatsächlich hat eine Liste der angemeldeten Lobbyisten im Bundestag gezeigt: Ganz oben stehen nicht die privaten Unternehmen, sondern halbstaatliche Organisationen und Gewerkschaften. Die Staatsbank KfW, die gesetzlichen Krankenkassen, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die kassenärztliche Bundesvereinigung. Selbst das Technische Hilfswerk ist unter den ersten fünf Plätzen vertreten.
Beamte im Bundestag
Arbeiter und Arbeitslose werden selten Politiker, im Bundestag sind sie selten vertreten. Stattdessen sind dort Beamte überrepräsentiert, auch Selbständige und Freiberufler sind relativ häufig vertreten; genau die Berufsgruppen, die relativ gut verdienen und ihre Vorstellungen oft durchsetzen können. „Selbst die wohlmeinendsten Repräsentanten können sich nicht immer in Lebenslagen versetzen, die von ihren eigenen Erfahrungen weit entfernt sind“, heißt es in der Studie. Das könnte einen Teil des Effekts erklären.
Bildung
Wann immer ein Politiker über Arme und Reiche spricht, spricht er gleichzeitig auch über Gebildete und Ungebildete. Denn wer gut ausgebildet ist, verdient meist auch mehr Geld. Vielleicht können sich Reiche nicht wegen ihres Geldes durchsetzen, sondern wegen ihrer Bildung. Soll das heißen, dass Arme weniger Ahnung haben? Darum muss es gar nicht gehen. Sondern: Gebildete sind eher in der Lage, ihre Interessen zu artikulieren. Sie haben während ihres Studiums oft bei Professoren und Experten gelernt, die jetzt auch im Gesetzgebungsprozess zu Rate gezogen werden. All das kann dazu führen, dass Gebildete ihre Positionen eher durchsetzen – also die tendenziell Reichen.
Ob die Bildung oder das Geld wichtiger ist, ist schwer zu sagen. Die Armutsberichts-Studie gibt darauf jedenfalls keine Antwort. „Ob der Einfluss des Einkommens oder der Bildung stärker ist, war nicht Gegenstand der Untersuchung“, sagt Studienautor Armin Schäfer. „Es war nicht Teil des Auftrags, das zu untersuchen.“ Arbeitsministerin Nahles hatte die Studie von vornherein aufs Geld verengt.
Teilnahme an der Politik
Liegt es am Geld, an der Bildung oder an etwas anderem? Sicher ist: Wer in der Gesellschaft oben steht, engagiert sich häufiger politisch. Schon ein Gutachten für den vorigen Armutsbericht hat gezeigt: Arme treten seltener in Parteien ein, sie gehen seltener demonstrieren – selbst den einfachsten politischen Weg beschreiten sie seltener: die Unterschrift. Leute mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss beteiligen sich nur halb so oft an Unterschriftensammlungen wie Leute mit Fachhochschulreife oder Abitur. Auch zur Wahl gehen die Armen seltener.
„Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert“, so hatte Andrea Nahles' Ministerium die Studie ursprünglich zusammengefasst. Tatsächlich steht das so aber nicht drin. Stattdessen steht dort: „Bleiben Einkommensarme der Politik aufgrund deren mangelnder Responsivität ihnen gegenüber fern, oder orientiert sich die Politik weniger an den Präferenzen dieser Menschen, weil sie von ihnen ohnehin kaum noch Wählerstimmen zu erwarten hat?“ Die Studie nennt beide Möglichkeiten – und gibt auf die Frage keine Antwort.
Fazit
Als Fazit ergibt sich daraus: Die jetzt beschlossene Fassung des Armuts- und Reichtumsberichts liegt näher an den Forschungsergebnissen der Wissenschaftler als die ersten Sätze von Andrea Nahles.
Wahr ist: Die politischen Wünsche von Reichen werden eher berücksichtigt. Das gilt ebenso für Hochgebildete und für Beamte. Die Ursache ist vollkommen offen. Vielleicht liegt es einfach daran, dass Arme selten zur Wahl gehen. Forscher Armin Schäfer sagt selbst: „Wir diskutieren noch, woran das liegt.“ Und der Wissenschaftler findet: „An der Qualität unserer Forschung liegt es nicht, dass die Ergebnisse nicht berichtet werden.“
Übrigens hat erst kürzlich hat eine Studie am Hamburgischen Weltwirtschaftsinistitut gezeigt: Die Deutschen halten sich selbst für ärmer, als sie sind. Würden sie ihre Position in der Einkommensverteilung realistischer einschätzen, wären sie vermutlich für ein geringeres Maß an Umverteilung. Die deutlichsten Unterschiede zwischen den politischen Wünschen von Arm und Reich zeigt die Schäfer-Studie allerdings in der Außenpolitik – einem Politikfeld, in dem wenig Raum für unterschiedliche Interessen bleibt.