Die Wurzeln der Ungleichheit

Soziale Ungleichheit hat eine lange Geschichte. Begonnen hat sie, als unsere Vorfahren sesshaft wurden. Wie die Welt vor Jahrtausenden immer ungerechter wurde, zeigt eine neue Studie – mit großen Unterschieden zwischen Europa und Amerika.

Heute kann die Ungleichheit einer Gesellschaft mit verschiedenen Modellen gemessen werden, etwa mit dem Gini-Koeffizienten. Er liegt zwischen null und eins. Wobei null bedeutet, dass der Reichtum einer Gesellschaft auf alle komplett gleich verteilt ist, und eins, dass eine einzige Person den gesamten Reichtum besitzt.

Laut OECD ist der Wert seit den 1980er Jahren deutlich gestiegen, die Welt also ungerechter geworden. 2015 lag der Gini-Koeffizient bei Einkommen im OECD-Schnitt bei 0,31. Österreich zählt mit 0,24 zu den „gleicheren“ Ländern, die USA mit 0,39 zu den „ungleicheren“.

Größe von Häusern als Maßstab für Reichtum

Der Messmethode liegen Statistiken zugrunde, etwa zu Einkommen und Vermögen, die es für Jahrtausende alte Gesellschaften nicht gibt. Um diese historische Verteilung von Reichtum einzuschätzen, haben Forscher bisher vor allem Größe und Inhalt von Gräbern sowie Überbleibsel aus Ruinen untersucht. Anthropologen um Tim Kohler von der Washington State University haben nun einen anderen Ansatz gewählt: Sie haben die unterschiedlichen Größen von Häusern verglichen, die aus 64 historischen Fundstätten in Europa, Asien, Nord- und Mittelamerika sowie Afrika stammen, und daraus Gini-Werte berechnet.

Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, die vor 10.000 Jahren vorherrschten, kommen der Studie zufolge auf einen Wert von 0,17: Ihre Häuser waren also tendenziell gleich groß – für die Forscher ein Hinweis für eine große soziale Gleichheit. Die nomadenartige Lebensweise der Jäger und Sammler erschwerte es, Reichtum anzuhäufen und an die nächste Generation weiterzugeben.

Maya-Tempel in Tikal, im heutigen Guatemala, eine der untersuchten Fundstätten

AFP

Maya-Tempel in Tikal, im heutigen Guatemala, eine der untersuchten Fundstätten

Mit dem Einsetzen der Landwirtschaft – in Europa ungefähr vor 7.500 Jahren – wurden die Menschen sesshaft, und damit stieg die Ungleichheit. Agrargesellschaften der Übergangszeit mit kleinen Ackerflächen haben laut den Forschern einen Gini-Koeffizienten von 0,27, jene mit Großbauern später einen Wert von 0,35 – der Reichtum war also bereits ähnlich ungleich verteilt wie die Einkommen in der Gegenwart. Je mehr Mitglieder eine Gesellschaft hatte, je komplexer das politische System und je autoritärer das Regime war, desto größer war die Ungleichheit, betonen die Forscher.

Domestizierte Tiere machen den Unterschied

Und noch etwas ist ihnen zufolge auffällig: In Europa hat sich die Ungleichheit schneller und stärker entwickelt als in Nordamerika. Als sich in der Alten Welt erste Städte bildeten, waren die Häuser bereits sehr unterschiedlich groß, Vermögen also schon sehr verschieden verteilt. Dass das in Nordamerika nicht der Fall war, liegt laut den Forschern an den Nutztieren: Große domestizierte Tiere wie Kühe, Pferde und Schweine habe es zwar in Eurasien gegeben, nicht aber in der Neuen Welt.

Mit ihrer Hilfe sei es viel leichter gewesen, Äcker zu pflügen und Waren zu transportieren. Die Wirtschaft habe sich dadurch ebenso schneller entwickelt wie die Kriegstechnik, für die Lasttiere eine wichtige Rolle spielten. Beides führte in Europa und Asien tendenziell dazu, dass sich die Gesellschaften ausbreiteten und ihre innere Ungleichheit wuchs.

Sorge um aktuelle Entwicklung

Ein Begleitkommentar in „Nature“ zeigt sich von der aktuellen Studie angetan, betont aber, dass in Zukunft noch mehr Daten untersucht werden müssen. Die Alte Welt sei auch vor Jahrtausenden ein Ort mit sehr diversen Gesellschaften und Ökonomien gewesen, in der Studie aber „nur“ mit 25 Fundstätten vertreten.

Für Studienautor Kohler ist das Thema nicht nur ein historisches. Bezugnehmend auf die aktuell wachsende Ungleichheit in den USA sagt er: „Die Menschen müssen verstehen, dass sich Ungleichheit sehr schädlich auswirken kann – auf die Gesundheit, auf das Vertrauen, auf die Solidarität und anderes. Wir tun uns nichts Gutes, wenn wir so ungleich sind.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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