In Indien wird die politische Macht oft vererbt – das schadet der Wirtschaft

Mit Rahul Gandhi tritt die sechste Generation derselben Familie an die Spitze der indischen Kongresspartei. Erneut stellt sich die Frage, weshalb in Indien politische Macht so oft vererbt wird.

Volker Pabst, Delhi
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Mit Rahul Gandhi führt nun zum sechsten Mal ein Mitglied des Nehru-Gandhi-Clans die traditionsreichste indische Kongresspartei. (Bild: Ajit Solanki / Keystone)

Mit Rahul Gandhi führt nun zum sechsten Mal ein Mitglied des Nehru-Gandhi-Clans die traditionsreichste indische Kongresspartei. (Bild: Ajit Solanki / Keystone)

Als Rahul Gandhi Mitte Dezember zum neuen Präsidenten der indischen Kongresspartei aufstieg, geschah dies zwar offiziell durch ein Wahlverfahren. Doch eigentlich war es nichts anderes als eine Inthronisierung. Der jüngste Spross der mächtigsten indischen Politikerfamilie galt schon seit Jahren als zwingender Nachfolger seiner Mutter Sonia. Als er sich endlich zu einer Kandidatur durchgerungen hatte, war die Bestätigung eine reine Formsache. Mitbewerber gab es keine.

Zum sechsten Mal führt nun ein Mitglied des Nehru-Gandhi-Clans die traditionsreichste indische Partei. Drei von ihnen, Jawaharlal Nehru, seine Tochter Indira Gandhi und deren Sohn Rajiv Gandhi, waren auch Premierminister. Rahul, Rajivs Sohn, wird sich bei den nationalen Wahlen 2019 ebenfalls mit grosser Wahrscheinlichkeit um das Amt des Regierungschefs bewerben. Die Nehru-Gandhi-Familie ist der Inbegriff einer politischen Dynastie, der Kongress der Inbegriff einer dynastischen Partei. Allerdings besteht kein familiärer Zusammenhang zum Übervater der Unabhängigkeitsbewegung, Mohandas Karamchand, dem Mahatma.

Weitverbreitetes Phänomen

Das Phänomen der Dynastiebildung erstreckt sich über weite Teile der politischen Landschaft Indiens, ja der indischen Gesellschaft im Allgemeinen. Laut Daten der in New York lehrenden Politologin Kanchan Chandra, die jüngst ein Buch über Indiens politische Dynastien veröffentlicht hat, haben 22 Prozent der 543 Mitglieder des gegenwärtigen indischen Unterhauses einen dynastischen Hintergrund, entstammen also einer Familie, die bereits in der Vergangenheit gewählte Volksvertreter hervorgebracht hat. 2009 waren es sogar über 30 Prozent.

Das Phänomen ist so weit verbreitet, dass man von Indien mitunter als einer dynastischen Demokratie spricht, auch wenn das Land im internationalen Vergleich keineswegs alleine dasteht. In den Philippinen etwa entstammen zwei Drittel aller Parlamentarier politischen Dynastien. Und auch im Westen ist das Phänomen nicht unbekannt. Man denke nur daran, wie stark die Familien Clinton, Bush oder Kennedy die amerikanische Politik geprägt haben.

Kulturelle Erklärungsmuster

Für Indien ist der gängige Erklärungsansatz ein kultureller. Die traditionelle indische Gesellschaft ist von klaren Strukturen und Hierarchien geprägt, in die man hineingeboren wird und aus denen man eigentlich nicht ausbrechen kann. Kastenzugehörigkeit bestimmt die soziale Stellung und oftmals den Beruf. Dass der Sohn dieselbe Tätigkeit ausübt wie der Vater, ist vielerorts immer noch die Regel. Vor diesem Hintergrund, so heisst es, gebe es demnach auch eine grössere Akzeptanz für dynastische Machtverhältnisse, so dass sich diese selbst in einer Demokratie durchsetzten. Es ist gewissermassen normal, den Sohn eines Politikers zu dessen Nachfolger zu wählen.

Manche Politologen gehen sogar so weit, zu behaupten, dass angesichts der jahrhundertelangen Tradition feudaler Machtverhältnisse, die in vielen Teilen des Landes bis zur Unabhängigkeit 1947 Bestand hatten, sogar aus Gewohnheit eine Präferenz für politische Dynastien bestehe. Allerdings müsste dies dann ja auch für ebenfalls bis vor kurzem monarchisch regierte Gesellschaften in Europa gelten.

Schlechte Verwaltung

Unbestritten ist, dass Abkömmlinge mächtiger Familien immer einen leichteren Start haben und deshalb auch grössere Erfolgschancen. In einer Gesellschaft wie der indischen, wo familiäre Bande sehr stark und Netzwerke für jegliches Vorankommen zentral sind, gilt dies umso mehr. Und zwar nicht nur in der Politik, sondern etwa auch in der Unterhaltungsbranche. Auch Bollywood, die hiesige Filmindustrie, ist dynastisch geprägt, obwohl über den Erfolg eines Schauspielers letztlich das Publikum entscheidet.

Zudem gibt es Theorien, wonach besonders in Staaten mit schwachen Strukturen Dynastien eine gewisse Stabilität bringen, weil sie sich langfristig orientierten. Sie seien nicht an der Ausbeutung des Staates interessiert, sondern an fortlaufender Rendite. Dies führe zu einer nachhaltigeren, auch für die Bevölkerung nutzbringenden Politik, was sich im Wahlerfolg niederschlage. Eine kürzlich erschienene Studie aus Harvard widerlegt dies jedoch zumindest für das indische Beispiel. Demnach ist die wirtschaftliche Entwicklung dynastisch regierter Dörfer um 6,5 Prozent verringert, weil weniger Mittel in öffentliche Güter investiert werden.

Eine Frage der Loyalität

Die New Yorker Professorin Chandra hält auch die übrigen Erklärungsansätze für unzureichend. Sie sieht den Hauptgrund für die dynastischen Tendenzen in der Art, wie politische Macht organisiert ist in Indien. Nur die wenigsten Parteien, die Kommunisten am linken und die Hindu-Nationalisten am rechten Rand, werden durch eine gemeinsame ideologische Basis zusammengehalten. In der Regel sind Parteien relativ lose Verbände mit wechselnden Loyalitäten. Entsprechend ist die Gefahr von Seiten- und Parteiwechseln.

Die Loyalität zur Familie ist in Indien aber in der Regel sehr gross. Indem man auf Clans setzt, die bereits in der Vergangenheit für die Partei aktiv waren, verringert man die Gefahr eines Ausscherens. Politische Dynastien sind laut Chandra also letztlich ein Mittel, die Kohäsion der Parteien zu stärken. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass indische Parteien jeder Couleur dynastischen Kandidaten bei der Besetzung ihrer Wahllisten tendenziell den Vorzug geben.

Die Nehru-Gandhi-Familie ist für die Kongresspartei freilich immer mehr als nur ein Bindeglied gewesen. Auch siebzig Jahre nach der Unabhängigkeit ist sie regelrecht identitätsstiftend. In einer Hinsicht haben sich die Zeiten aber geändert. Mit dem Namen Gandhi allein gewinnt man heute in Indien keine Wahlen mehr.

Vielmehr steht dieser heute für die Korruptionsanfälligkeit und Reformunfähigkeit der Kongresspartei, aus Selbstverschulden, aber auch infolge aggressiver Kampagnen seitens der heute regierenden BJP. Will Rahul Gandhi bei den Wahlen 2019 zu einem ernsthaften Herausforderer für Narendra Modi und seine Partei werden, muss er ein konkretes Gegenprogramm entwerfen und kann sich nicht nur auf die Verdienste seiner Vorfahren berufen. Die Dynastie allein kann Modis BJP nicht das Wasser reichen.