Eigenverantwortlicher Eigennutz
Unser Kanzler hat uns bezüglich Corona in die Eigenverantwortung entlassen. Was meint er damit? Dass ich nur für mich selbst verantwortlich bin und keine Verantwortung für die Auswirkungen meiner Handlungen auf mein Umfeld und die Gesellschaft habe? Das offenbart ein ziemlich schräges Menschen- und Weltbild und macht deutlich, wie unser Kanzler seine Aufgabe als Regierungschef sieht. Wir Bürgerinnen und Bürger sind in seinen Augen nicht Teilhabende eines Gemeinwesens, sondern nur für sich selbst verantwortliche Individuen, die von Autoritäten im Notfall in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt werden können. Den Notfall bestimmen diese Autoritäten. Ich halte das für eine ziemlich undemokratische Sichtweise. Der Kanzler kann uns nicht behandeln wie Minderjährige, denen er je nach Gutdünken Freiräume gewährt, oder sie an die Kandare nimmt. Er hat Verantwortung zu übernehmen, indem er auf Grund der ihn beratenden Fachleuten und beschlossen von den demokratisch gewählten Organen für die Durchsetzung der beschlossenen Regeln sorgt und Kraft seines Amtes für ein vernünftiges Verhalten der Bürgerinnen und Bürger wirbt. Sein Geschwafel vom „Sommer wie damals“ motiviert hingegen zum Überschreiten von Regeln und dient nur dem Lobbying für die Tourismus-Industrie.
Das mag seiner mangelnden Lebenserfahrung, aber auch seiner Ideologie geschuldet sein. Die vom Eigennutz und der Sicht des Menschen als unabhängiges Individuum getriebene Weltanschauung kollabiert spätestens mit der Erfahrung, wie sehr wir alle aufeinander angewiesen sind. Mag sein, dass dies Menschen mit einer unsicheren Existenzgrundlage früher erleben, als gut etablierte und abgesicherte Männer in der Blüte ihrer Leistungsfähigkeit, aber irgendwann wird fast jeder alt, krank und auf die Hilfe anderer und der Gesellschaft angewiesen.
Natürlich fühle ich mich immer für mein Verhalten verantwortlich und habe diese Verantwortung auch nie dem Kanzler übertragen, aber dieser hat schon die Aufgabe, ein gutes Zusammenleben zu ermöglichen, für ein möglichst gerechtes Sozial- und Gesundheitssystem zu sorgen und auch dafür, dass gesetzliche Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Miteinander eingehalten werden.
Er kann also nicht von sich aus die Pandemie für beendet erklären und den Umgang damit auf das individuelle Verhalten reduzieren. Sozial erwünschtes Verhalten muss auch klar definiert werden und Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften müssen sanktioniert werden.
Meine Erfahrungen in den letzten Wochen waren da wenig erfreulich. Die Äußerungen des Kanzlers wurden offensichtlich als Freibrief gewertet. In Lokalen wurden Impfpässe nicht mehr kontrolliert, der Mund-Nasenschutz wird in öffentlichen Verkehrsmitteln von manchen Personen, wenn überhaupt vorhanden, dann oft lässig als Kinnschmuck getragen. Ja, diese Menschen handeln „eigenverantwortlich“, sie fürchten für sich keine Erkrankung und die anderen sind ihnen egal. Mich erinnern diese Menschen an jene Halter von aggressiven Hunden, die nicht verstehen wollen, dass andere sich fürchten, wenn diese ohne „Mundschutz“ in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf Spazierwegen unterwegs sind. Sie sind teilweise überzeugt davon „er tut ja nichts“, andererseits provozieren sie bewusst die Angst der anderen, um sich stark zu fühlen. Das sind keine guten Voraussetzungen für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft und das Gerede von der „Eigenverantwortung“ unterstützt solche Denkweisen. Wo ist der am Beginn der Pandemie kreierte Slogan „miteinander – füreinander“ geblieben? Ein Kanzler mit Niveau und Lebenserfahrung würde darauf aufbauend, in Zeiten der hoffentlich abflauenden Pandemie vor allem diese soziale Seite der Verantwortung ansprechen.
Dabei muss auch der Freiheitsbegriff, den manche Menschen haben, kritisch hinterfragt werden. Die Freiheit mit dem Auto schnell überall hinzukommen, wohin ich möchte, in Deutschland sogar ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, die Freiheit mein Autohaus oder Industrieanlage als Ruine im Stadtgebiet stehen zu lassen und auf der Grünen Wiese, was Neues und Größeres hinzustellen und dafür immer mehr Grünland zu versiegeln, hat sich die Auswirkungen der Klimakrise geschuldeten katastrophalen Unwetter verschärft. Menschen wurden wegen zweifelhafter individueller Freiheiten ihrer Grundfreiheit auf Wohnen und Arbeiten beraubt – viele mussten ob der ungebremsten Wassermassen ihr Leben lassen. Die von der Infrastruktur-Ministerin angeregte Evaluierung von geplanten Straßenbauprojekten wird als Freiheitsberaubung und Ruin des Wirtschaftsstandorts lobbyiert, der Rückzug aus der fossilen Energie als unzumutbar gehandelt. Aber die Zerstörung ganzer Städte durch klimabedingte Katastrophen wird als Naturereignis abgetan. Zynisch könnte man sagen, stimmt schon, die Instandsetzungsarbeiten heben das Bruttonationalprodukt, und das ist für viele noch immer die entscheidende Kennzahl.
Aber gerade solche Katastrophen, wie die Unwetter der letzten Tage, zeigen, dass Menschen ganz anders handeln können als „eigenverantwortlich“ und für den Eigennutz. Die Hilfsbereitschaft ist überall grenzenlos. Menschen haben ihr eigenes Leben riskiert, um anderen zu helfen. Die Aufräumungsarbeiten, die durch Nachbarschaftshilfe geleistet werden, könnte am „Markt“ niemand bezahlen. Wieder einmal verschiebt sich der Blick darauf, was wirklich wichtig und notwendig für ein gutes Zusammenleben ist. Werden wir es endlich schaffen, die individualisierte, auf kurzfristigen Erfolg abgestellte selbstbezogene Eigenverantwortungs- und Eigennutz- Ökonomie durch eine Ökonomie des guten Lebens für alle, abzulösen?
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.