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Russlands neues „kriegerisches Christentum“

Alexander Kalinin auf dem Weg in ein Gericht in Moskau Alexander Kalinin auf dem Weg in ein Gericht in Moskau
Alexander Kalinin auf dem Weg in ein Gericht in Moskau
Quelle: AP
Unter Wladimir Putin erlebt das Land eine Renaissance der Religion – und des Fundamentalismus. Christen greifen zur Gewalt. Ein Phänomen, das seine Wurzeln schon in der Sowjetunion hat.

„Einen wie Iwan den Schrecklichen könnten wir gut gebrauchen“, sagt Alexander Kalinin, 33, grimmiger Blick, stattlicher Vollbart. Dieben sollen Hände abgehackt, Fluchen in der Öffentlichkeit soll verboten werden. Nicht am Westen, sondern am Iran soll sich Russland ein Beispiel nehmen, sagte er vor drei Wochen in einem Interview des russischen Nachrichtenportals Meduza.io.

Kalinins bislang unbekannte Organisation heißt „Christlicher Staat“. Hunderte Gläubige will er im Internet vernetzt haben, Männer und Frauen, die das heutige Russland für gottlos halten. Seine Sympathisanten, prahlte Kalinin, steckten hinter der Welle von Bombendrohungen, die im September durch Russland rollte.

Seit zwei Wochen sitzt Kalinin, bereits wegen Mordes vorbestraft, in Untersuchungshaft. Ihm wird Nötigung vorgeworfen: Seit Anfang des Jahres sollen er und seine Mitstreiter Hunderte Drohungen an Kinobetreiber verschickt haben – wenn sie Alexej Utschitels Film „Matilda“ zeigen, würden sie brennen.

Für Zaren-Verehrer grenzt der Film an Blasphemie

Christliche Fundamentalisten wie Kalinin protestieren seit mehr als einem Jahr gegen die Aufführung der Romanze, die Ende des Monats in den russischen Kinos anläuft. Sie handelt vom späteren russischen Zaren Nikolaus II. und seiner Affäre mit einer Primaballerina. Russlands letzter Monarch wird in der russisch-orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt. Für die orthodoxen Hardliner grenzt ein Film über seine Jugendliebe an Blasphemie.

Christlicher Fundamentalismus ist keine neue Entwicklung in Russland. Schon in der Sowjetunion der 80er-Jahre bildeten sich erste nationalistisch-religiöse Bewegungen wie Pamjat, die den Glauben an eine „zionistische Weltverschwörung“ mit aggressivem Christentum und Monarchismus verbanden.

In den 90ern protestierten solche Fundamentalisten gegen Martin Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“, aber auch gegen staatliche Pläne für eine einheitliche Steuernummer – diese sei des Teufels. Bereits vor 15 Jahren warnten gemäßigte christliche Stimmen wie der Priester und ehemalige Sowjetdissident Gleb Jakunin vor den Radikalen. Damals sprach er von den „orthodoxen Taliban“.

Den Radikalen gilt der Staat als gottlos

Freilich waren orthodoxes Christentum und „traditionelle Werte“ Anfang der 2000er noch nicht Russlands inoffizielle Staatsideologie. Das änderte sich spätestens im Jahr 2012 mit den drakonischen Strafen für die Künstlerinnen von Pussy Riot und den Gesetzesnovellen zum „Schutz der Gefühle Gläubiger“ und gegen „homosexuelle Propaganda“, welche die Kirche forciert hatte. Plötzlich fühlten sich die Fundamentalisten vom Staat und der Kirche verstanden.

Allerdings machte der Staat Halt vor weiteren Forderungen der Fundamentalisten: Homosexualität bleibt in Russland weiterhin erlaubt, ebenso Abtreibungen. Den Radikalen gilt der Staat als gottlos. Russland tritt in eine neue Phase des „kriegerischen Christentums“ ein, sagt der Extremismusforscher Alexander Werchowski.

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Die Proteste werden immer radikaler: Unbekannte versuchten, das Büro des Regisseurs von „Matilda“ mit einem Molotowcocktail in Brand zu setzen, vor der Kanzlei von Utschitels Anwalt wurden zwei Autos angezündet – mutmaßlich von Alexander Kalinins Mitstreitern. In Jekaterinburg verübte ein offenbar geistig verwirrter Mann einen Brandanschlag auf ein Kino, niemand wurde verletzt. Russlands größte Kinokette hat aus Angst vor Anschlägen bereits angekündigt, „Matilda“ nicht zu zeigen.

Mächtige Sympathisanten in der Kirche

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Der Film ist nur ein Vorwand, glaubt Werchowski, tatsächlich gehe es um das Verhältnis von Kirche und Staat: „Diese Entwicklung ist eine Nebenfolge der Ideologisierung des Christentums, die der Kreml betreibt“, sagt der Extremismusforscher. Was jetzt passiere, komme für den Staat völlig unerwartet. Die Re-Christianisierung Russlands, vom Kreml als Machtinstrument gedacht, läuft nun aus dem Ruder. „Der Staat hat keine Gegenstrategie. Bei Ermittlungen würde man schnell ins Umfeld der Kirchenoberen vorstoßen“, sagt Werchowski.

Einen Mufti als Zeugen in einem Islamisten-Prozess vorladen, das geht. Aber einen Bischof, der möglicherweise Kontakte zu gewaltbereiten Fundamentalisten pflegt? Davon kann in Russland keine Rede sein, meint Werchowski. Die Sonderrolle der orthodoxen Kirche wirft Fragen auf, mit denen sich so schnell kein Staatsanwalt befassen will. Von Terrorismus wollen die Behörden jedenfalls nicht sprechen.

Vielleicht liegt es daran, dass orthodoxe Fundamentalisten in der Kirche mächtige Sympathisanten haben. Zu ihnen gehören etwa Bischof Tichon oder Erzpriester Dmitri Smirnow. Smirnow zeigt Verständnis für islamistische Selbstmordattentäter, schließlich kämpften sie dafür, „nicht von Päderasten regiert zu werden“.

Manche sprechen sogar von „Staatsterrorismus“

Bischof Tichon, der als Wladimir Putins Beichtvater gilt, spekuliert offen darüber, die Ermordung der Zarenfamilie durch Kommunisten könnte ein „Ritualmord“ gewesen sein – eine alte antisemitische Legende, die viele jener Aktivisten für wahr halten, die gegen „Matilda“ protestieren. „Wo die Grenze zwischen Radikalen und großen Kirchenpersönlichkeiten verläuft, ist oft nicht ganz klar“, sagt Werchowski. Da hilft es wenig, dass die Kirche christliche Gewalttäter offiziell als „pseudoreligiöse Radikale“ ablehnt.

Die Religionswissenschaftlerin Elena Wolkowa geht sogar so weit, von „Staatsterrorismus“ zu sprechen. Sie ist überzeugt: „Ohne Duldung staatlicherseits gäbe es keinen gewalttätigen orthodoxen Fundamentalismus.“ Fundamentalisten innerhalb der Kirche säßen wie früher in ihren Klöstern, ohne das große Publikum zu erreichen und Laien zu radikalisieren – anders als der Erzpriester Smirnow, der mehrere Sendungen bei christlichen Fernsehkanälen hat und einen eigenen YouTube-Kanal betreibt.

Doch jetzt wird es dem Kreml offenbar zu viel: Der russische Staat schweigt zwar zu den Hardlinern im Kirchenamt, aber nicht zu den radikalen Laien. Russlands konservativer Kulturminister Wladimir Medinski sprach angesichts von Drohungen gegen Kinobetreiber von „Gesetzlosigkeit und Zensur“.

Duma-Abgeordnete, die „Matilda“ in einer geschlossenen Vorstellung gesehen haben, nannten den Film „vorzüglich“ und bekräftigten: Gründe für ein Aufführungsverbot gebe es nicht. Selbst Präsident Wladimir Putin lobte den Regisseur Alexej Utschitel als „patriotisch“ und „talentiert“, er habe Respekt vor ihm. Klare Botschaft an die Eiferer: Jetzt ist es genug.

Falls sie diese Botschaft nicht ernst nehmen, könnten sie eine Gefahr für Russland werden, sagt Werchowski. Dann droht eine Repressionswelle gegen christliche Eiferer. Sollten die Behörden aber tatsächlich massiv gegen sie vorgehen, braucht es viel politisches Fingerspitzengefühl, sagt der Extremismusforscher: „Heiligtümer, traditionelle Werte – christliche Fundamentalisten sagen im Kern nichts anderes als unsere Politiker, nur in radikaler Form.“

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