Die ÖVP war nie Partei des politischen Katholizismus.

Cartoon: Michael Murschetz

Seit einem halben Jahr schon wird im STANDARD eine Ideologiediskussion geführt. Edelfedern, Professoren, mehr oder weniger enttäuschte Altpolitiker, aktive Politiker, interessierte und besorgte Bürger, sie alle stellen eine spannende Frage: Ist die ÖVP unter Sebastian Kurz noch eine christlich-soziale Partei, verfolgt er noch eine christliche Politik? Die Grundsatzfrage betrifft die Vereinbarkeit der Einwanderungs- und Sozialpolitik der türkis-blauen Regierung mit der katholischen Soziallehre.

Diese Diskussion ist nicht auf Österreich beschränkt. In Italien führt der Vorsitzende der Bischofskonferenz einen heftigen Streit mit Lega-Chef Matteo Salvini über die Einwanderungspolitik. In der "FAZ" vom 21. 12. 2018 untersucht Manfred Spieker, emeritierter Professor für christliche Sozialwissenschaften, die Pflichten und Grenzen der Solidarität. Er meint im Untertitel: "Der Heilige Stuhl und Papst Franziskus kennen das Thema Grenzen in ihren Stellungnahmen noch weniger. Mit der katholischen Soziallehre hat das nichts mehr zu tun."

Irrtümer und Unklarheit

Was ist nun christlich-soziale oder christliche Politik? Hier gibt es viele Irrtümer, viel Unklarheit. Eine Art Katechismus der Kirche zur Politik gibt es nicht. Die Kirche kann und will heute gar nicht mehr konkrete politische Fragen umfassend beantworten. Und in einer christlichen Politik den Politikern Regeln vorschreiben, wie einstens im Zeichen der Einheit von Thron und Altar! Wollte sie es immer noch, so wäre dies der inzwischen berüchtigte politische Katholizismus mit all seinen historischen Irrtümern und Fehlern (Demokratiefeindlichkeit, Parteienfeindlichkeit, Ständestaat!): Nicht die Wähler, ob Christen oder nicht, würden politische Fragen beurteilen und entscheiden, sondern die – ungewählten – Vertreter einer oder mehrerer dominierender Religionsgesellschaften, also zum Beispiel die katholischen Bischöfe.

Die praktische Politik wird in der Demokratie nicht vom Glaubensgut der Religion erfasst und bestimmt. Die Soziallehre der katholischen Kirche ist in diesem Sinne Philosophie – darauf hat am vergangenen Wochenende Gernot Blümel im STANDARD hingewiesen – und nicht Teil der Weltanschauung. So wie auch die Scharia für Moslems sein sollte. Es gibt daher keine von irgendwem verordnete oder festgelegte christliche oder christlich-soziale Politik.

Drei tragende Grundsätze

Was bedeutet dann aber die katholische Soziallehre, die von den Päpsten seit dem 19. Jahrhundert in zahlreichen Rundschreiben erläutert wurde? Eine nicht verbindliche Auslegung von drei tragenden Grundsätzen: Personalität, Solidarität, Subsidiarität. Politiker, die sich an der Soziallehre orientieren, oder die Parteien angehören, die sich diesen Grundwerten verpflichtet fühlen, machen dann Politik aus christlicher Verantwortung. Und sie können zu einander widersprechenden Ergebnissen kommen, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen können. Daher gibt es Christen in verschiedenen Parteien. Die unselige Verbindung einer Partei mit den Bischöfen wurde von den Bischöfen erst im Mariazeller Manifest 1953 gelöst: "Eine freie Kirche in einem freien Staat" war ab dann die Leitschnur.

Die ÖVP gründete sich als Volkspartei 1945 neu. Das "hohe C", also das Christliche, fehlte im Namen und im Programm. Erst 1952 wurden der Solidarismus und die katholisch-konservativen Traditionen in einem Vorwort erwähnt. Im Salzburger Programm 1972 definierte sich die Volkspartei als offen für Christen und alle anderen, die sich aus welchen Gründen immer zu solchen Werten bekennen. Erst unter Wolfgang Schüssel erklärte sich die ÖVP zur christlich-demokratischen Partei. Das maßgeblich von Blümel gestaltete geltende Programm der ÖVP 2015 bekennt sich ausdrücklich zu christlichen Werten, betont aber die Offenheit für andere und die Unabhängigkeit der Partei. Die ÖVP war daher nie eine christliche Partei im Sinne des politischen Katholizismus, sondern eine Partei für Christen und andere. Ihre Überzeugungen legt sie im Parteiprogramm fest und orientiert sich an christlichen, aber auch liberalen und konservativen Grundwerten. Dies übersah auch Hans Rauscher in seiner Analyse.

Unterschiedliche Interpretationen

Im STANDARD vom 11. 8. 2018 habe ich unter dem Titel "Eine freie Kirche in einem freien Staat" die Tragweite der katholischen Soziallehre für die praktische Politik untersucht. Maßgebend für mich ist dabei Kardinal Joseph Ratzinger 2002 in seiner lehrmäßigen Note an alle Politiker, die Politik aus christlicher Verantwortung machen: "Es ist nicht Aufgabe der Kirche, konkrete Lösungen – oder gar ausschließliche Lösungen – für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat ..." Daraus folgert er, dass die Grundprinzipien der Soziallehre auf verschiedene Weise interpretiert werden und Christen in unterschiedlichsten Parteien mitwirken können und sollen. Welche Lösung dann umgesetzt wird, entscheiden in der Demokratie die Wähler!

In Österreich sagen beispielsweise die Kritiker, die Regierungspolitik verletze die Solidaritätspflicht. Ihre Verteidiger verweisen auf die Subsidiarität als weiteren Grundsatz der Soziallehre. Danach müsse das Ziel der Hilfe für Schwache Hilfe zur Selbsthilfe sein. In der Diskussion über die Neuregelung der Mindestsicherung verweisen Kritiker auf die Kürzung von Kinderzuschlägen ab dem dritten Kind. Hier werde unabhängig von der Gesamtleistung für die Familie in jedem Fall die Solidaritätspflicht für Ärmere verletzt. Die Vertreter der Kürzung weisen darauf hin, dass mit der Gesamtheit der Familienleistungen bei beispielsweise drei Kindern für jedes Kind an die 320 Euro pro Monat geleistet werden und dies mit allen anderen Familienbeihilfen ausreichend sei. Sie verweisen auf die Gerechtigkeit im Verhältnis zu Arbeitenden, und auf die Subsidiarität: Es müsse Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden, nicht mehr. Beide Standpunkte sind im Rahmen der Soziallehre vertretbar.

Solidarität und Subsidiarität

Ähnliche Auslegungsunterschiede gibt es naturgemäß bei der Einwanderungspolitik: Wo sind ihre Grenzen? Verschiedenste Solidaritätsverpflichtungen stehen nebeneinander und sind zu beachten: die Solidarität mit den Armen in den armutsgefährdeten Ländern, die Solidarität mit den Armen, die sich auf den Weg gemacht haben und an den Grenzen des reichen Europas stehen, die Solidarität mit den aufgenommenen Einwanderern und schließlich die Solidarität mit der österreichischen Bevölkerung, welche die Lasten der Integration zu tragen hat. Vom Standpunkt der katholischen Soziallehre sind auch hier verschiedene Lösungen denkbar; alle sind vertretbar, solange sie von Solidarität und Subsidiarität getragen sind.

In einer sachlichen Diskussion können daher Politiker, die Politik aus christlicher Verantwortung machen wollen und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, einander nicht wechselseitig unchristliche Politik vorhalten! Die Politik der Regierung Kurz steht daher nicht im Gegensatz zur christlichen Soziallehre.

Abrechnung mit Gegnern

Die heftigsten Vorwürfe unchristlicher Politik kommen interessanterweise allerdings von jenen, die selbst aus anderen Überzeugungen und nicht aus christlicher Verantwortung Politik machen. Im Grunde ordnen sie die Regierungspolitik der FPÖ zu, die von ihnen grundsätzlich abgelehnt wird. Ihr erstrangiges Ziel ist nicht eine Politik der Soziallehre, sondern die Abrechnung mit einem Gegner! Kritik ist in der Demokratie immer legitim, denn alles kann und darf hinterfragt werden, wenn sie redlich ist und die Fakten stimmen.

Wenn allerdings der Präsident der katholischen Caritas im Zuge der Diskussion um die Regierungspläne zur Mindestsicherung behauptet, dass dann eine Mutter etwa ab dem dritten Kind nurmehr mit 1,43 Euro pro Tag dieses Kind ernähren, kleiden und ihm Wohnraum bieten solle, so ist das nicht nur unrichtig, sondern auch für jeden Christen, ob in der Politik oder nicht, ein enttäuschender Diskussionsbeitrag! (Andreas Khol, 11.1.2019)