Alles auf eine Karte

Von TIMO STEPPAT

12.06.2017 Die einen wollen Macron unbedingt, sie erhoffen sich einen historischen Wandel. Die anderen haben das politische System längst aufgegeben. Die Wahlanalyse.

Französische Meinungsforscher haben Wähler nach der spontanen Begründung für ihre Entscheidung befragt. Die Menschen, die für die Partei von Präsident Emmanuel Macron gestimmt haben, gaben Begriffe an wie: Präsident, Mehrheit, unterstützen, helfen, reformieren oder Macron selbst.

1. Wahlgang 11.06.2017

Das spiegelt wohl am besten wider, wie eine Partei, die gerade mal etwas älter als ein Jahr ist, in der ersten Runde der Parlamentswahl ein so überwältigendes Ergebnis erzielen konnte. Wie sie nach dem überraschend deutlichen Sieg des Gründers und Kopf der Bewegung En Marche bei der Präsidentschaftswahl tatsächlich auch das Parteiensystem umkrempeln kann. Die Franzosen geben einer Partei ohne jede Erfahrung und einem Präsidenten, der auch manches noch im Unklaren lässt, ein großes Mandat. Für Macron ist das die Chance durchzuregieren.

Es gibt einige Gründe für den Durchmarsch von Macrons Partei. Der entscheidende ist wohl: Die Menschen, die ihn gewählt haben, wollen, dass Macron eine absolute Mehrheit in der französischen Nationalversammlung bekommt (76 Prozent der EM-Wähler geben das an) – und damit die Chance, das Land so zu reformieren, wie er es vor der Präsidentschaftswahl versprochen hat. Das zeigt auch, wie entschlossen und überzeugt seine Anhänger sind, dass sich etwas in Frankreich ändern muss.

Wer sind die Anhänger von „En Marche“? Die Partei erzielt in nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen ein konstant hohes Ergebnis. Besonders stark ist sie bei Menschen mit einem hohen Haushaltseinkommen, das über 3000 Euro liegt (43 Prozent), die einen höheren Studienabschluss haben (38 Prozent) und denen es wirtschaftlich besser geht. Das geht aus einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos hervor. Diese Gruppe der Bessergestellten trägt „En Marche“ zu einem entscheidenden Teil, man kann sie als gesellschaftliche Elite bezeichnen.

Besonders erfolgreich in kleinen Städten In Regionen, die vorher klar in der Hand der Sozialisten waren oder auf der Seite der konservativen Republikaner, haben Kandidaten von „En Marche“ gewonnen oder zumindest sehr gute Chancen, im zweiten Durchgang am kommenden Sonntag zu gewinnen. Hier zeigt sich ein spannender Aspekt von Macrons Erfolg: Besonders erfolgreich ist die Partei in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern. Es sind die kleinen Städte, in denen sich die Menschen kennen und in denen häufig noch ein stärkerer Zusammenhalt herrscht als in größeren Kommunen. In diesem Punkt könnte sich auszahlen, dass Macron für die Suche nach Kandidaten für die Nationalversammlung auf ein Bewerbungsverfahren aus der Bevölkerung gesetzt hat.

Mehrere tausend Männer und Frauen haben sich darum beworben, für die Partei Macrons antreten zu dürfen, eine Kommission hat sie ausgewählt. Es sind Menschen, die auf nationaler Bühne unbekannt sind, aber in ihrer Region angesehen, sie stehen im Leben und müssen sich durch das ungewöhnliche Verfahren nicht erst in einer Partei hochdienen. Sie verkörpern die versprochene Erneuerung und gleichzeitig etwas Vertrautes. Dazu passt, dass etwa im Großraum Paris und generell in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern der Erfolg von EM eher durchschnittlich ist. Der andere ungewöhnliche Aspekt ist, dass es 40 Prozent der praktizierenden Katholiken waren, die für die Partei gestimmt haben. Wo es eine Gemeinschaft gibt, scheint „En Marche“ besonders erfolgreich zu sein.

Dürftiges Ergebnis für den Front National Schlecht schneidet „En Marche“ bei jenen ab, die sozial schwach sind. Das sind die Menschen, die über ein Haushaltseinkommen unter 1250 Euro verfügen (17 Prozent) und einen einfachen Schulabschluss haben (28 Prozent). In diesen Gruppen punktet ansonsten vor allem der Front National. Ein Viertel der Geringverdiener und ein Fünftel der Bürger mit geringerer Bildung haben die Partei von Marine Le Pen gewählt.

Aus dem Erfolg Macrons hat sich zum Teil eine Art Gegenbewegung entwickelt. 62 Prozent der Wähler des Front National wollten dessen absolute Mehrheit verhindern. Insgesamt fiel das Ergebnis der rechtsextremen Partei aber dürftig aus – sie scheiterte an der eigenen Zerstrittenheit und dem Mehrheitswahlrecht. Es reicht nicht, in vielen Orten das Potential rechter Wähler auszuschöpfen, selbst wenn es auf das ganze Land gerechnet Millionen Stimmen sind; wer als Abgeordneter in das Parlament in Paris einziehen will braucht die Mehrheit in einem der 577 Wahlkreise. Wie Marine Le Pen anmerkte, benachteiligt dieses System kleinere Parteien wie ihre. Eigentlich war es ihr Ziel, 60 Mandate zu erringen. Laut der Hochrechnungen gibt es momentan in 16 Wahlkreisen eine Chance auf ein FN-Mandat. Bislang ist keiner im ersten Durchgang gewonnen. Selbst in Pas de Calais, wo die Le Pens leben und das als wirtschaftlich schwache Stammregion des FN gilt, reichte es nicht für die notwendige absolute Mehrheit. Als Ziel gab die Partei jetzt aus, 15 Wahlkreise gewinnen zu wollen – so viele sind notwendig, um eine Fraktion bilden zu können

Abgeschlagene Volksparteien Die Volksparteien, besonders die Sozialisten, scheinen den Durchmarsch Macrons nur noch von den Zuschauerplätzen aus zu beobachten. Sie erreichen nicht mal mehr zehn Prozent in den Hochrechnungen. Auch für die Republikaner stimmte nur ein gutes Fünftel. Unter ihnen ist auch eine Gegenbewegung zu „En Marche“ zu erkennen: Sie wollen, dass der eigene Kandidat in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen kommt (56 Prozent) – und ebenfalls so Macrons Mehrheit verhindert (44 Prozent).

Wie schon bei den zwei Durchgängen der Präsidentschaftswahlen zeigen sich auch bei den Parlamentswahlen die Unterschiede zwischen Macrons Partei, den Republikanern oder dem FN, was die Gewichtung von Themen in den Wählergruppen betrifft. Arbeit, Europa und Wirtschaft sind für Macrons Anhänger entscheidend, Themen wie Terror, Sicherheit und Einwanderung für die konservativen oder rechtsextremen Wähler.

Besorgniserregend ist, dass ein Fünftel der Franzosen glaubt, dass sich nichts ändert, egal, wer regiert. Ein weiteres Drittel gibt an, von der Politik enttäuscht zu sein. Befragt wurden nur all jene, die auch wählen gehen. Hinzu kommt, dass nach dem historischen Tiefststand bei der Wahlbeteiligung 2012 (42,8 Prozent Nichtwähler) dieses Mal nicht einmal jeder Zweite abgestimmt hat (51,2 Prozent).

Viele Jungen haben sich verweigert Die Motive der Nichtwähler sind nur schwer zu erklären. Der Erfolg Macrons war wohl absehbar und der FN schien aufgrund seiner Streitereien bewegungsunfähig. Manche sind wohl aus Resignation zuhause geblieben, andere, weil sie einfach keine Lust hatten oder ihnen die Wahl nicht wichtig genug erschien.

Wieder waren es vor allem die Jungen, die nicht wählen gegangen sind. Sie lassen sich scheinbar nur mobilisieren, wenn es ein Schreckensszenario gibt. Mit einer ähnlichen Haltung standen viele in Großbritannien dem Brexit gegenüber – er kann nicht kommen – und er kam. Diese Event-Wähler, bei denen erst eine Schwelle überschritten sein muss, bevor sie sich zur Wahl aufraffen, sind eine Gefahr.

Eine Frage ist jetzt auch, was mit En Marche geschieht. Ein wichtiger Grund für den Sieg von Macrons Bewegung war, dass offenbar viele Menschen an seinen Reformwillen glauben und damit die rechten Kräfte mehr oder weniger verstummt sind. Ähnlich war das bei seinem sozialistischen Vorgänger Hollande. Was wohl passiert, wenn der neue politische Messias scheitert? Man möchte es sich gar nicht ausmalen.

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