"Zu viele Vertreter der Elite wollen ihren Reichtum in politische Macht umwandeln. Trump ist nur ein Beispiel unter vielen", sagt Peter Turchin. Der Evolutionsbiologe beschäftigt sich seit langem mit den Zyklen, die Gesellschaften durchlaufen. Derzeit sieht er viele Anzeichen für einen Kollaps.

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STANDARD: Es gibt dieses diffuse Gefühl, dass Terrorismus zunimmt – sei es in Form von organisierten Terrorattacken oder Massenschießereien. Kann es sein, dass das kein Zufall ist und diese Entwicklungen einem vorhersagbaren Trend entsprechen?

Turchin: Es gibt internen Terrorismus, der getrieben ist von Veränderungen innerhalb der Gesellschaft, und externen Terrorismus, der meist eine Fortführung von externen Kriegen ist. In meiner Forschung konzentriere ich mich hauptsächlich auf die Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft, und wie diese zu Perioden politischer Instabilität und Gewalt führen, die manchmal im Kollaps einer Gesellschaft münden, also Revolutionen und Bürgerkriege hervorbringen. Die Analysen zeigen, dass gute Zeiten schlechte Zeiten ausbrüten und schon die Saat für kommende Probleme in sich tragen. Ich erforsche, warum Gesellschaften, die eine funktionierende Wirtschaft haben, die den Wohlstand der Menschen steigert, an einem bestimmten Punkt zu politischer Instabilität neigen.

STANDARD: Welche Gründe sind gibt es dafür?

Turchin: Als ich vor zehn Jahren begann, antike und mittelalterliche Gesellschaften zu analysieren, stellte sich heraus, dass sie etwa hundertjährige Zyklen durchlaufen, in denen sich friedliche mit kriegerischen Phasen abwechseln. Meine Kollegen und ich versuchten, Modelle zu erstellen, um die Faktoren festzumachen, die zu diesem Kippen führen. Zusammengefasst: Während guter Zeiten, in denen der Wohlstand der Bevölkerung steigt, und die Bevölkerung wächst, führt das zu einem Mangel an Arbeitsplätzen, was sinkende Löhne zur Folge hat. Das führt zu einer Reihe unvermeidlicher Entwicklungen: Der Wohlstand sinkt, es kommt zu Verelendung. Diese Phase ist das goldene Zeitalter der Eliten, sie profitieren von billiger Arbeit. Die Eliten wachsen und auch ihr Appetit auf mehr Macht. Das Resultat ist, dass es zu viele Menschen gibt, die nun Teil der Eliten sein wollen, es aber nicht genug Positionen für sie gibt. Für den Staat bedeutet das kurz gesagt, dass die finanzielle Gesundheit beschädigt wird. Das ist ein langsamer Prozess, der typischerweise mehrere Generationen lang dauert.

STANDARD: Wie kommt es dann zu gewaltsamen Konflikten?

Turchin: An einem bestimmten Punkt sind die Leute sehr unzufrieden, auch die Eliten. Das ist gefährlich, aber keine entscheidende Gefahr. So lange die Eliten zusammenarbeiten, können sie die Bevölkerung unterdrücken – wenn man etwa an Ritter und Bauern denkt. Es wird dann gefährlich, wenn die Überproduktion der Eliten, wie ich es nenne, dazu führt, dass sich innerhalb der Eliten rivalisierende Fraktionen bilden. Diese Konflikte resultieren dann schnell in bewaffneten Konflikte. Wenn der Staat korrodiert und die Kontrolle verliert, beginnen die Eliten es auszukämpfen und mobilisieren die Bevölkerung, um für sie zu kämpfen. Das ist ein typisches Szenario, wie das ganze System kollabiert.

Peter Turchin erstellt anhand von großen Datenmengen mathematische Modelle, welche gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen sollen. In dieser Grafik illustriert er den zyklischen Verlauf bei der Häufung von Gewalttaten seit 1780.
Foto: Turchin/Journal of Peace Research

STANDARD: Und Gewalttaten wie Massenschießereien sind ein Symptom davon?

Turchin: Seit den späten 1970er-Jahren hat sich die Zahl der Massenschießereien in den USA mehr als verzehnfacht. Diese Angriffe richten sich nicht an bestimmte Menschen, sondern an bestimmte Gruppen – sei es die Schule, die Uni oder Vertreter des Staates. Es gibt Dutzende Fälle, wie die Schießerei auf weiße Polizisten in Dallas vor einem Jahr oder den Fall eines Selbstmörders, der einem Flugzeug in ein Gebäude der amerikanischen Steuerbehörde raste. Solche Attacken sind eine Manifestation des sinkenden Wohlstands. Ich sehe das als Warnsignal. Es zeigt, dass der Druck steigt.

STANDARD: Sie gehen davon aus, dass soziale Instabilität und politische Gewalt in den 2020er-Jahren ihren Höhepunkt errreichen werden. Markiert das das Ende eines Zyklus?

Turchin: Ich spreche vor allem von den USA, mit denen ich mich intensiv beschäftigt habe. Im frühen 20. Jahrhundert gab es eine Art Sozialvertrag zwischen den Eliten und Arbeiten, der mit dem New Deal finalisiert wurde. Etwa 50 Jahre lang war man sich einig, dass die Früchte des ökonomischen Wachstums fair und gleich verteilt werden. Während der 70er-Jahre begann sich der Vertrag aufzulösen. Die Einwanderung stieg, die Babyboomer überschwemmten den Arbeitsmarkt. Die Einkommen stagnierten oder sanken. Heute haben wir zu viele Milliardäre in den USA. Die Zahl der Millionäre hat sich verdrei- und vervierfacht in den letzten 20 bis 30 Jahren. Zu viele elitäre Menschen wollen ihren Reichtum in politische Macht umwandeln. Trump ist nur ein Beispiel unter vielen.

STANDARD: Was erwarten Sie, wird 2020 passieren?

Turchin: Es ist schwer zu sagen, was genau passieren wird, aber wenn man historische Analogien zieht, ist es wahrscheinlich, dass bei der nächsten Wahl der Verlierer das Ergebnis nicht akzeptieren wird und möglicherweise gewaltsame Mittel einsetzt, um sich durchzusetzen. Stellen Sie sich vor: Trump verliert, und seine Anhänger marschieren auf Washington. Viele von ihnen sind bewaffnet, das ist ein Spezifikum der USA. Das wäre sehr gefährlich. Das ist freilich nur ein mögliches Szenario.

STANDARD: Inwieweit kann man das auf Europa umlegen, wo separatistische Bewegungen und Rechtspopulismus zunehmen?

Turchin: Es gibt eine ganze Reihe von Indikatoren, die darauf hinweisen, dass auch hier der Druck steigt. Die Prozesse sind aber nicht so weit fortgeschritten wie in den USA, auch wenn die neueste Einwanderungskrise offensichtlich die Lage verschärft hat. Wir müssten genaue Analyse für die einzelnen europäischen Länder machen, ähnlich wie für die USA.

STANDARD: Haben Sie den österreichischen Wahlkampf verfolgt, der auch an einen schmutzig ausgetragenen Konflikt zwischen Eliten erinnerte?

Turchin: Ich kenne das österreichische System nicht. In den USA ist es von jeher so, dass in guten Zeiten die verschiedenen Parteien während der Wahlkämpfe gewisse Grenzen einhalten. In schlechten Zeiten brechen die sozialen Normen, die den politischen Wettbewerb unter Kontrolle halten, ein – das war so in den 1850ern, vor dem Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges, und ist jetzt nicht anders. Trump bricht Normen, er bedroht politische Opponenten mit Gewalt. Das ist ein sehr typisches Beispiel für die zukünftigen Probleme.

STANDARD: Was bedeuten diese zyklischen Entwicklungen? Gibt es ein Entkommen?

Turchin: Wenn wir verstehen, warum Gesellschaften zu Gewalt neigen, können wir etwas dagegen tun. Dazu braucht es ein kollektives Vorgehen und professionelle Anführer, um die Eliten dazu zu zwingen, die Gesellschaft miteinzubeziehen. Das wird schmerzhaft sein – wenn es zu viele reiche Leute gibt, werden manche von ihnen etwas verzichten müssen. So können es Gesellschaften schaffen, Krisen ohne große Bürgerkrieg und Revolutionen zu überstehen. (Karin Krichmayr, 21.10.2017)