Rechtspopulisten wollen die Modernisierung rückabwickeln – und viele Menschen sehen darin eine Bewältigungsstrategie für ihre Verunsicherung: im Bild radikale Abtreibungsgegnerinnen und -gegner in den USA.

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Sozialpsychologe Ernst-Dieter Lantermann spricht am Donnerstag an der Donau-Uni Krems bei der Tagung "Das öffentliche Gespräch in der Demokratie".

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Soeben ist Ernst-Dieter Lantermanns Buch "Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus" erschienen.

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STANDARD: Sie vertreten die These, dass verunsicherte Menschen anfällig sind für Fanatismus. Was verunsichert so viele Menschen?

Lantermann: Wir wissen aus Umfragen, dass etwa 50 Prozent der Menschen besorgt sind über das, was sie mit der Globalisierung verbinden. Das sind vor allem Migrationsströme, der Verlust von ökonomischen und sozialen Privilegien und die Gefahr der Prekarisierung. Bei Anhängerinnen und Anhängern rechtspopulistischer Parteien ist der Anteil der Verunsicherten noch deutlich heuer.

Die Entwicklung moderner Gesellschaften besteht darin, dass es keine Verbindlichkeiten mehr gibt, keine selbstverständlichen sozialen Regeln. Man weiß nicht mehr so richtig, was man tun kann und darf, um seine Ziele zu erreichen, weil alles im Fluss und neu ist. Man ist unsicher, ob die beruflichen Kompetenzen von heute morgen noch gelten. Das bringt einen Sicherheitsverlust, denn Verbindlichkeiten und Regeln stiften Verlässlichkeit. Früher wusste man gewissermaßen, was man zu tun hatte. Das schaffte Vertrauen, dass einen im Falle des Falles Menschen, Institutionen und Vereine auffangen. Viele Menschen zweifeln heute an sich selbst, ihrer Identität und an ihren Fähigkeiten, ihr Leben selbst zu gestalten. Das ist für sie unerträglich. Gesellschaftliche Grundlage dafür ist nicht zuletzt eine Individualisierung, die Gewissheiten erodieren lässt.

STANDARD: Weil diese Individualisierung uns befürchten lässt, dass wir am Ende alleine dastehen?

Lantermann: Es ist längst zum Programm geworden, dass man sich nur mehr auf sich selbst verlassen sollte. In Deutschland gibt es seit gut fünfzehn Jahren die Diskussion um die Agenda 2010, geplant und durchgeführt von einer rot-grünen Regierung. Dieses Programm leitete die Entwicklung ein vom sozial fürsorgenden zum sozial fordernden Staat. Gefordert und gefördert werden sollten nur mehr jene Menschen, die selbst für sich sorgen wollen und können. Diejenigen, die dafür weder Kraft noch Gelegenheit und Kompetenzen haben, die hatten und haben es schwer. In diese Logik sind die Menschen mit ihren Gefühlen eingebettet. In dieser Sozialpolitik spiegelt sich der Neoliberalismus wider, wahrscheinlich die schlimmste Bewegung gegen jede wertbezogene und sozial verantwortliche Politik.

STANDARD: Was genau passiert in der Psyche der Menschen, die auf das Wegbrechen von Verbindlichkeiten und auf Verunsicherung mit einer Hinwendung zu Fanatismus reagieren?

Lantermann: Die stärkste Kraft, die hinter all unserem Tun, Denken und Wollen als Menschen steht, ist die Sicherung eines stabilen und positiven Selbstwertgefühls. Wir wollen wissen, wer wir sind, was uns im Kern ausmacht, dass unser Handeln und unser Bemühen Wirkung zeigen und dass wir von anderen Menschen wertgeschätzt werden. Wenn dieses Selbstwertgefühl erschüttert ist, tun wir alles, um diese fundamentale Selbstsicherheit wieder zu bekommen – auch die irrsinnigsten Handlungen.

STANDARD: Wie äußert sich diese Fanatisierung?

Lantermann: Einerseits in einen massiven Culture Backlash – einen Kulturaufstand gegenüber der Liberalisierung der Gesellschaft, die immer mehr Menschen nicht mitvollziehen. Blicken Sie in die USA oder nach Polen: Menschen klagen ihr Recht ein, gegen Homosexualität zu sein, gegen Feminismus, endlich wieder für die christliche Familie. Oder die wachsende Gruppe der Wertnostalgiker: Meist ältere Männer mit mittlerem bis höherem sozialem Status, in Deutschland mit großer Nähe zur AfD.

Das sind Leute, die das aus ihrer Sicht "libertinäre, feministische 68er-Gedöns" weghaben und am liebsten zurück zu den 50ern wollen. Der Kulturaufstand ist Programm bei der AfD, bei Le Pen, bei Orban, Hofer und Strache. Sie alle bieten eine Rückabwicklung von Modernisierung und Liberalität an – und viele Menschen sehen darin eine Bewältigungsstrategie für ihre Verunsicherung. Auch Fremdenhass schafft extrem hohe Sicherheit: Man weiß wieder, wer man ist, zu welcher Gruppe man gehört, wer die Feinde sind und was zu tun ist.

STANDARD: Sie nennen auch extremen Veganismus und die radikale Selbstoptimierung durch Fitness als Beispiele für eine Fanatisierung, die Menschen Halt gibt. Lässt sich das wirklich vergleichen?

Lantermann: Meine These ist, dass Fanatisierung in den unterschiedlichsten Bereichen den Menschen dazu dient, in einer Welt erhöhter Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Selbstverunsicherung das für sie notwendige Maß an innerer Sicherheit und Klarheit zurückzugewinnen.

STANDARD: Aber ist nicht das Menschenbild, das diese Formen von Fanatisierung leitet, ein völlig anderes? Der Neonazi schadet anderen, der radikale Selbstoptimierer vielleicht sich selbst, der Extremveganer will andere Lebewesen sogar schonen.

Lantermann: Bei aller Unterschiedlichkeit in den Zielen und Werten dieser Gruppen halte ich die dahinterliegenden psychischen Prozesse für vergleichbar. Und die Art und Weise, wie diese Menschen mit Informationen und anderen Meinungen umgehen, wie sie vereinfachen. Für den Fremdenhasser ist die Welt in Ordnung, wenn alle Fremden hinausgeschmissen werden und er im homogenen "Volk" unter seinesgleichen leben kann. Beim extremen Veganer ist die Leitidee, dass das gesamte Elend der Welt, von der Umweltvernichtung bis zum sozialen Leid, verursacht wird durch den qualvollen Umgang mit Tieren. Der Umgang mit jedem einzelnen Tier ist die Leitlinie, aus der er jedes andere moralische Verhalten ableitet. Mit einer solchen Fixierung auf nur einziges höchstes Prinzip gelingt den Fanatikern eine Komplexitätsreduktion der Wirklichkeit, die ihnen eine unfassbare innere Sicherheit und Selbstgewissheit zurückgibt, die sie so lange schmerzlich vermissten.

STANDARD: Sie haben den Umgang mit Informationen angesprochen. Wie beeinflussen sich Echoräume, Filterblasen und Fanatisierung gegenseitig?

Lantermann: In den USA beziehen 65 Prozent der Menschen heute ihre Informationen über die Welt ausschließlich aus Sozialen Medien. Über 60 Prozent glauben nicht an die Evolutionstheorie, sondern an eine göttliche Schöpfung der Welt. Das geht nur, wenn die sich ausschließlich unter ihresgleichen verständigen. Zum Fanatismus gehört eine systematische Abwehr aller Informationen, die nicht ins eigene Weltbild passen. Es kommt nicht darauf an, ob es sich um Lüge oder Wahrheit handelt – was der "Feind" sagt, ist für diese Menschen immer Lüge. Filterblasen und Echoräume in Sozialen Medien führen zur rasanten Zuspitzung: Einer fragt was, der andere antwortet selektiv – innerhalb kürzester Zeit werden aus Fragen schreiende Antworten.

STANDARD: Also begründet sich der große Erfolg von Populisten wie Trump oder Putin auch darauf, dass sie den Menschen Übersichtlichkeit zurückgeben?

Lantermann: So ist es. Objektiv betrachtet hat der Milliardär Trump wenig zu tun mit seinen Wählern. Aber er schafft es, ihnen das Gefühl eines "Wir gegen die anderen" und damit eine grandiose Vereinfachung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu vermitteln. Die Abwertung anderer ist für viele die einzige Lösung, sich wieder aufrichten zu können.

STANDARD: Warum reagieren Menschen trotzdem so unterschiedlich auf Verunsicherung?

Lantermann: Für Fanatisierung anfälligen Menschen gehen sogenannte Resilienzen ab, also Widerstandskräfte gegen den Ansturm der Unsicherheit. Wir wissen auch, dass Menschen, die zum Selbsthass neigen und mit ihrem eigenen Leben schlecht fertigwerden, eher zu Fremdenhassern werden. Sie verschieben diesen Hass von der eigenen Person auf andere. Diese Menschen greifen, anstatt ihre eigenen Probleme eigenständig oder mit Hilfe anderer zu lösen, zu einem simplen Muster der Rückgewinnung von Sicherheit.

STANDARD: Welche Persönlichkeits- und andere Faktoren schützen Menschen vor Fanatisierung? Bildung scheint es nicht zwingend zu tun …

Lantermann: In Deutschland gibt es derzeit eine breite Zivilgesellschaft, die um die Demokratie kämpft. Das sind Leute, die ticken anders. Die sehen in Veränderungen und Ungewissheiten auch eine Chance dafür, etwas Neues zu wagen. Bildung spielt dabei tatsächlich eine geringere Rolle, als man vielleicht meint. Ganz wesentlich ist dagegen der Faktor Vertrauen: Viele dieser Menschen haben ein nicht leicht zu erschütterndes Vertrauen in die eigenen Kompetenzen; es lässt sie darauf bauen, dass sie schwierige und unübersichtlichen Situationen meistern werden. Auch soziales Vertrauen spielt eine riesige Rolle als Schutz vor Fanatisierung – dass Menschen etwa in Gewerkschaften oder Ehrenämter eingebunden sind – nicht auf dem Papier, sondern aktiv. Diese Menschen neigen viel weniger zu Fanatisierung, weil sie die konkrete Erfahrung gemacht haben, dass sie anderen vertrauen können.

STANDARD: Sie schreiben auch, dass Menschen mit einem hohen sogenannten Kohärenzsinn eher mit Unsicherheiten fertig werden. Was hat es damit auf sich?

Lantermann: Menschen mit hohem Kohärenzsinn erkennen in dem, was sie umgibt und was sie wahrnehmen, einen Sinn und eine Bedeutung für sich selbst. Diese Menschen glauben, dass das eigene Handeln eine Bedeutung für sich selbst *und andere hat und dass man mit dem eigenen Tun Sinnvolles erreichen kann. Die Gesundheitsforschung hat gezeigt, dass diese Menschen in der Regel Ungewissheiten besser aushalten können, weniger stressanfällig sind, besser auf Therapien ansprechen und schneller genesen.

STANDARD: Was schützt noch? Was können Eltern oder das Bildungssystem tun, um Kinder für den Umgang mit Unsicherheit zu wappnen?

Lantermann: Unsicherheiten sind dann produktiv, wenn man auf einem sicheren Grund steht und sich geborgen fühlt in der Welt. Eine riesige Rolle spielen daher unsere Bindungen zu den ersten Bezugspersonen. Hat ein Kind mit seinen Eltern, Geschwistern und im frühen sozialen Nahumfeld die Erfahrung gemacht, bedingungslos geliebt zu werden? Oder musste es willkürlich mit Zurückweisung rechnen und sich immer fragen: Mögen mich Mama und Papa noch? Diese frühkindlichen Bindungserfahrungen in den ersten Jahren haben nachweislich Einfluss darauf, wie gut ein Mensch Vertrauen aufbauen kann. Man muss Kinder und Jugendliche aber auch dazu anregen, die Perspektive zu wechseln – sich also in die Rolle des Gegenübers hineinzuversetzen. Das trägt zum Abbau von Vorurteilen bei. Direkte Kommunikation und Vertrauensbildung stärken Kinder nachhaltig.

STANDARD: Viele Eltern reagieren auf eigene Unsicherheitsgefühle mit dem Wunsch, ihren Kindern absoluten Schutz zu bieten. Eine sinnvolle Strategie?

Lantermann: Dieses Neobiedermeier, das sich Einigeln in eine kleine heile Welt, das kann nicht gutgehen. Weil die Kommunikation mit anderen entfällt. Bei bestem Wollen schaffen Menschen, die fliehen wollen aus dieser "bösen Welt", die in eine abgeschottete Heimeligkeit eintauchen mit ihren Kindern, die Demokratie ab – ob sie wollen oder nicht. (Lisa Mayr, 8.3.2017)