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Wie Italiens Arbeiter ihre Pleite-Fabriken retten

Silvano Carletto in der Werkshalle der Papierfabrik Silvano Carletto in der Werkshalle der Papierfabrik
Silvano Carletto in der Werkshalle der Papierfabrik
Quelle: Tobias Bayer
In der Rezession gingen viele italienische Betriebe bankrott. Kaum ein Unternehmer will sie neu aufbauen – deshalb machen die Arbeiter das selbst. Besuch in einer Fabrik, in der sie jetzt Chefs sind.

Als Putzgehilfe fing Silvano Carletto in der Fabrik an, 1988. „Ich kam direkt von der Oberschule. Sie drückten mit Besen und Kehrichtschaufel in die Hand. Ich war das fünfte Rad am Wagen“, erinnert er sich. Später lud er Kartonballen aufs Band, bediente das 3,80 Meter breite Maschinenungetüm mit seinen riesigen Zylindern, schnitt das Papier in Form und steuerte einen Gabelstapler über den Hof. „Ich kenne jeden Winkel hier.“

Heute läuft Carletto, 50, nicht mehr im Blaumann durch die Halle, sondern empfängt in einem Büro mit Aktenregal, Ledersessel, Flipchart und einem gläsernen Kronleuchter an der Decke. Er reicht seine Visitenkarte über den Tisch. „Silvano Carletto. Presidente.“ Der Nachname ist gefettet, das Wort Presidente steht klein und kursiv darunter. Nur nicht angeben.

Der frühere Putzgehilfe Carletto ist heute Miteigentümer der Cartiera Pirinoli. Zusammen mit 70 Arbeitern hat er eine Genossenschaft gegründet und die Papierfabrik in der Nähe von Cuneo im Piemont aus der Pleite geholt. Nachdem die Walzen drei Jahre lang stillstanden, drehen sie sich seit August 2015 wieder und produzieren täglich bis zu 350 Tonnen Recyclingkarton. Packungen für Kekse, Nudeln, Reis und Panettone-Kuchen. Erwarteter Umsatz: 28 Millionen Euro. „Es ist hart. Aber wir schreiben schwarze Zahlen“, sagt Carletto.

Arbeiter an die Spitze, so lautet die Devise in Italien. Die schwerste Krise seit Jahrzehnten hat in der drittgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Laut dem Datendienstleister Cerved schlitterten in den Jahren 2008 bis 2015 mehr als 97.000 Betriebe in die Insolvenz, mehr als 682.000 wurden aufgelöst.

Legacoop finanziert 48 Arbeitergenossenschaften

Weil die Unternehmer Reißaus nehmen, springt die Belegschaft in die Bresche. Die Arbeiter schließen sich immer öfter zu Genossenschaften zusammen und führen die Firma in Eigenregie weiter. Sie investieren ihre Abfindungen, das Arbeitslosengeld und die Ersparnisse.

Silvano Carletto im Altpapierlager: Arbeiter führen die Fabrik weiter
Silvano Carletto im Altpapierlager: Arbeiter führen die Fabrik weiter
Quelle: Tobias Bayer

Weil das Geld meistens nicht ausreicht, werden die Arbeiterunternehmer von Fördertöpfen wie dem Coopfond flankiert. Der Fonds des Genossenschaftsverbands Legacoop hat seit 2008 für 48 „Worker Buyouts“ 13,8 Millionen Euro an Kapital und Darlehen beigesteuert. „Dieses Jahr werden weitere Betriebe folgen“, sagt Coopfond-Geschäftsführer Aldo Soldi. „Das ist ein Trend.“

Damit eine solche Rettungsaktion gelingt, müssen in einem komplizierten, bürokratischen und gerne zerstrittenen Land wie Italien alle gemeinsam für das Anliegen kämpfen. Nicht nur die Arbeiter haben geschlossen aufzutreten, sondern auch die Politik. Über alle föderalen Ebenen hinweg. Gemeinde, Provinz, Region.

Das lehrt der Fall der Cartiera Pirinoli. Roccavione heißt der Ort. 2800 Einwohner. In den Bergen, ganz weit links auf der Karte. Gerade noch Italien, fast schon in Frankreich. Vor der Bahnstation ist eine Holztafel aufgestellt. „Anschlüsse öffentlicher Nahverkehr“. Sie ist komplett leer. Auf dem Hauptplatz ein paar Männer, die grimmig schauen und sich anschweigen. Heruntergelassene Rollläden. Kein Restaurant findet sich zur Mittagszeit. Nur eine Bar, die Tiefgekühltes auftischt.

Nach 140 Jahren schließt die Cartiera Pirinoli

Die Cartiera Pirinoli ist nicht eine Fabrik. Sie ist die Fabrik in Roccavione. Mit eigener Straße, die nach ihr benannt ist. 1872 wurde sie eröffnet. Zuerst stellte sie Papier für die Seidenraupen-Zucht her. Dann Verpackungskartons für Marken wie Barilla und Riso Scotti. Die Lichter gingen nie aus. Nicht im Ersten Weltkrieg. Nicht im Zweiten Weltkrieg.

Quelle: Infografik Die Welt
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Und auch nicht 2005, als die Fabrik in finanzielle Schieflage geriet und ein Gericht den Gläubigerschutz verhängte. Der neue Eigentümer investierte wieder kräftig. Nur leider zu viel und zu schnell. Am 22. Juni 2012 mussten schließlich die Bänder abgeschaltet werden. Zum ersten Mal seit 140 Jahren.

Insolvenzverwalter übernahmen die Kontrolle. Anzugträger aus dem fernen Mailand, die den Weg nach Roccavione scheuten und sich am Telefon rar machten. „Einer von denen ging einfach nicht ran“, sagt Carletto, damals schon Leiter der Produktion. Anstatt einen Käufer zu suchen, der den Betrieb weiterführte, liebäugelten die Herren damit, den Maschinenpark zu versilbern. Kaufinteressenten reisten an: Amerikaner, Araber, Inder, Polen, Russen und Türken.

Carletto schloss in ihnen das Tor auf, führte sie herum, auf Englisch radebrechend. „Das war kein Vergnügen. Jemanden die Fabrik zeigen, der nur die Maschinen und sonst nichts will? Die Fabrik, in der meine Kollegen und ich 30 Jahre lang gearbeitet haben? Dank der ich meine Familie ernähren konnte?“, sagt Carletto und seine Lippe verzieht sich zu einem Strich. „Ich tat meine Pflicht.“ Eine Hoffnung gab es noch. Eine Investorengruppe malte die Zukunft rosa. Doch im letzten Moment, als der Kaufvertrag schon unterschriftsreif beim Notar lag, machte sie einen Rückzieher.

70 Arbeiter stehen hinter der Genossenschaft

In diesem Moment, im Oktober, November 2013, reifte die Idee heran. „Warum machen wir es nicht selbst? Keiner kennt die Fabrik schließlich so gut wie wir.“ Carletto schloss sich mit seinem Kollegen Ferdinando Tavella, damals Leiter der Verwaltung, im Büro ein. Tagelang brüteten sie über dem Business-Plan. Ertrag, Kosten. Zahlenkolonnen, Excel-Tabellen. Woher das Kapital nehmen? Um die Genossenschaft aufzusetzen, die Maschinen zu kaufen und die Produktion zu starten.

Am Ende baldowerten Carletto und Tavella einen präzisen Plan aus. Er sah 1,2 Millionen Euro Kapital von den Arbeitern vor, also rund 17.000 Euro pro Kopf, der Großteil finanziert durch eine Vorauszahlung der Arbeitslosenhilfe. Weitere 1,2 Millionen Euro kamen aus genossenschaftlichen Fördertöpfen wie dem Coopfond. Und knapp drei Millionen Euro von der Region Piemont.

Auf einer Versammlung präsentierten sie ihren Kollegen ihr Zahlenwerk. „Macht ihr mit?“, fragte Carletto mit großer Zuversicht in die Runde. „Ich bin mit allen per du. Wir sind wie Brüder.“ 70 Arbeiter hoben die Hand. Um das Geld der Willigen, darunter viele Familienväter, nicht sofort aufs Spiel zu setzen, beließ es Carletto bei einer Absichtserklärung. „Ein Ehrenwort, kein bindender Vertrag. Damit ich mich nach einem Jahr nicht umdrehe, und keiner steht mehr hinter mir.“

Doch für den Antrag auf Förderhilfen bedurfte es einer Genossenschaft. Und eines kleinen Kreises an Wagemutigen. Dazu zählte auch die Bürgermeisterin. Seit 2004 ist Germana Avena im Amt. Die pensionierte Lehrerin ist ein typisches Kind ihrer rauen Heimat. Herzlich, aber auch misstrauisch und stur. Eine, die kein Nein hinnimmt. „Wir tun alles, um die Papierfabrik zu retten“, versprach sie. Täglich wurde sie daran erinnert. „Beim Bäcker fragten mich die Leute: ‚Was ist mit der Cartiera?’“

Region Piemont und EU sorgen für Geld

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Neun Personen benötigte Carletto für seine Mini-Genossenschaft. Er trommelte mehrere Rentner zusammen, die früher einmal in der Fabrik gearbeitet hatten. Dann klopfte er bei Avena an. Die Bürgermeisterin sagte Ja und wurde zur Genossin. „Das war schon ein Risiko“, sagt sie. „Aber ich musste etwas für meine Leute tun. Das empfand ich als meine moralische Pflicht.“

Quelle: Infografik Die Welt

Ein Wettlauf mit der Zeit begann. Nachdem die Papierfabrik im Januar 2014 offiziell für pleite erklärt wurde, kam der Maschinenpark unter den Hammer. Der Versteigerungstermin rückte immer näher. Carletto und seine Mitstreiter brauchten dringend das Geld von der Region Piemont. Ein langwieriges Verfahren, weil die EU-Kommission zustimmen musste.

Doch sie hatten Glück. Mit Giovanna Pentenero übernahm eine Schnellrednerin und Schnelldenkerin das eilige Dossier. „Für mich war es der erste Fall“, sagt Pentenero, in der Regionalregierung Piemont zuständig für die Ressorts Arbeit und Bildung. „Doch dank meines Stabs hielten wir alle Fristen ein“, sagt sie. Mit einem Lachen fügt sie an: „Der Scheck, den wir überreichen konnten, war gedeckt.“

Am 16. April 2015 betrat Carletto um 9.30 Uhr die Räume des Istituto Vendite Giudiziarie im Industrieviertel im Norden Turins. Hier wird das, was nach einer Pleite übrig bleibt, an den Meistbietenden veräußert. Computer, Sofas, Gemälde, Limousinen. Und an diesem Frühlingstag eben eine tonnenschwere Papiermaschine. „Bevor ich durch die Tür ging, blickte ich mich noch einmal um und vergewisserte mich, dass ich der einzige war“, sagt Carletto.

Fabrik in Roccavione läuft wieder

Er legte den Scheck auf den Tisch und sicherte sich den Zuschlag. Umgehend rief er in Roccavione an: „Wir haben es.“ Bürgermeisterin Avena hatte den ganzen Morgen vor dem Telefon ausgeharrt. „Ich ließ den Apparat nicht eine Sekunde aus den Augen.“

Sie sei zu nervös gewesen, um mit nach zu Turin zu reisen, sagt sie: „Ich habe wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand gesteckt.“ Als sie die gute Nachricht aus Turin empfing, fiel die jahrelange Spannung von ihr ab. „Das war ein wunderschöner Moment. Für den ganzen Ort“, erinnert sie sich. Und ihre Stimme bricht dabei.

Seit mehr als einem halben Jahr rattert in der Cartiera Pirinoli der Karton wieder über die Walzen. „Wir haben fast alle Kunden zurückgewonnen. Nur zwei haben noch nicht bestellt. Wir haben ihnen gefehlt“, sagt Carletto. Dennoch sei die Zukunft noch nicht gesichert.„Nach drei Jahren wieder auf den Markt zu kommen, ist nicht banal.“ Stressiger sei alles geworden. Mehr Verantwortung. Längere Schichten. Und 20 Prozent weniger Gehalt.

Ansonsten sei alles wie früher. „Manche da draußen denken, es brauche unbedingt den Unternehmer. Das ist eine Krankheit“, sagt Carletto. „Es sind dieselben Personen. Es sind dieselben Lieferanten. Es sind dieselben Methoden. Und es sind dieselben Produkte.“

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