Archäologie:Die Erfindung der Demokratie

"Straße der Toten" in Teotihuacán

Archäologen streiten sich über die politische Organisation von Teotihuacán: Die zentrale Pyramide deutet auf eine Autokratie, das gitterförmige Straßennetz und die fehlenden Königsbilder auf eine kollektive Gesellschaft.

(Foto: kubek76 - Fotolia)

Archäologen entdecken in Mittelamerika die Spuren egalitärer Gesellschaften. Ihr Untergang zeigt, wie fragil freiheitliche Systeme sind.

Von Lizzie Wade

Der Kandidat für das politische Amt steht auf dem Platz, nackt, er wehrt sich gegen die Schläge und Tritte. Die Menge schreit, sie pulsiert wie ein schlagendes Herz. Menschen, für die er sein Leben im Krieg riskiert hat, versetzen ihm Hiebe und schleudern ihm Beleidigungen entgegen. Der Kandidat atmet tief ein. Trainiert als ein Krieger, weiß er, dass er ruhig zu bleiben hat, um die nächste Phase seiner Kandidatur zu erreichen.

Die Szene, aufgezeichnet von einem spanischen Priester im Jahre 1500 in der mexikanischen Stadt Tlaxcallan, stand am Beginn eines langen Verfahrens. Nach bestandener Prüfung im Menschenbad musste der Kandidat erst noch zwei Jahre lang im Tempel die Moral und die Gesetze pauken. Er musste hungern. Wenn er einschlief, wurde er mit Stachelpeitschen geschlagen. In bluttriefenden Ritualen musste er sich selber in die Haut schneiden. Doch als er den Tempel verließ, war er mehr als ein Krieger. Er war ein Mitglied des Senats von Tlaxcallan, einer von ungefähr hundert Männern, die alle wichtigen Entscheidungen trafen.

Doch als er den Tempel verließ, war er mehr als ein Krieger

"Ich würde gern mal moderne Politiker sehen, die all das durchmachen, nur um zu belegen, dass sie regieren können", sagt der Archäologe Lane Fargher, der gerade im Schatten einer kürzlich renovierten Plattform in Tlaxcallan steht. Seit 2007 leitet er hier Ausgrabungen, er hat den Grundriss und die materielle Kultur einer Gesellschaft untersucht, wie man sie früher in Mesoamerika nie erwartet hätte: eine Republik. "Vor 20 oder 25 Jahren hätte sich niemand eine derartige Organisationsform vorstellen können", sagt Fargher, der am Forschungsinstitut Cinvestav in Mérida arbeitet.

Archäologen halten Tlaxcallan für eine von mehreren prämodernen Gesellschaften, die kollektiv organisiert waren. Ihre Artefakte und die Organisation des öffentlichen Raums deuten darauf hin, dass die Herrscher dort ihre Macht teilten und auch normale Bürger in der Politik mitreden konnten. Sie waren nicht notwendigerweise reine Demokratien mit allgemeinem Wahlrecht, aber sie waren wohl radikal anders als die damals üblichen Autokratien.

"Es ist eine ganz neue Forschungslage zu komplexen Gesellschaften entstanden", sagt auch die Archäologin Rita Wright von der New York University, die in Indien und Pakistan die 5000 Jahre alte Indus-Zivilisation erforscht. "Ich glaube, wir erleben gerade einen Durchbruch", bestätigt Michael Smith, Archäologe an der Arizona State University in Tempe. Es sei die wichtigste Einsicht in der Archäologie der politischen Organisation seit 20 Jahren. Smith und andere führen einen Ansatz fort, den Richard Blanton von der Purdue University entwickelt hatte: Es ist der Versuch, aus den Objekten, die eine Kultur zurückgelassen hat, ihre Struktur zu rekonstruieren.

Noch in den 1960er-Jahren glaubte niemand, dass im präkolumbianischen Mesoamerika kollektive Gesellschaften existiert hätten. Republiken wie das klassische Griechenland und das Venedig der Renaissance galten als rein europäische Phänomene. In prämodernen nichtwestlichen Gesellschaften, so glaubte man, regierten immer Despoten.

Die Könige der Olmeken weilten in Palästen, umgeben von Jade und Eisenerz-Spiegeln

Einige mesoamerikanische Gesellschaften passen tatsächlich in dieses Bild. Vor mehr als 2000 Jahren ließen etwa die Könige der Olmeken in San Lorenzo und La Venta ihre Porträts in riesigen Steinköpfen verewigen, sie lebten in Palästen, umgaben sich mit exotischen Luxusgütern wie Jade und Eisenerz-Spiegeln. Auch die Maya-Könige der klassischen Periode ließen ihre Eroberungen, Heiraten und Dynastien von Bildhauern verewigen. Die gewöhnlichen Bürger lebten in bescheidenen Siedlungen, außerhalb der Stadtzentren mit ihren Monumentalbauten.

Aber mit den Jahren fielen Blanton immer mehr Stätten auf, die nicht in dieses Bild passen. Zum Beispiel Monte Albán bei Oaxaca , die Hauptstadt der Zapoteken zwischen 500 v. Chr. bis 800 n. Chr. Hier fehlten prunkvolle Darstellungen individueller Herrscher, die Ausgräber fahndeten vergebens nach Palästen und Königsgräbern. Stattdessen fanden sich eher anonyme Zeichen der Macht, kosmologische Symbole, Götterbilder.

Fasziniert von solchen Sonderfällen, entwickelten Blanton und seine Kollegen eine Theorie, die sie 1996 im Fachmagazin Current Anthropology veröffentlichten. Darin skizzierten sie zwei Gesellschaftsformen: Autokratische Gesellschaften mit einem einzelnen Herrscher an der Spitze. Sie leben vom Reichtum, der auf der Kontrolle der Handelswege oder der Monopolisierung natürlicher Ressourcen beruht. So wie es heute noch in Saudi-Arabien sei, erläutert Blanton, "wo die königliche Familie die Ölindustrie kontrolliert und damit den Staat finanziert. Sie muss sich nicht gegenüber dem Volk verantworten".

Kollektive Gesellschaften hingegen betonen das Amt des Herrschers, das theoretisch jeder in der Gesellschaft besetzen kann. Steuern finanzieren den Staat, nicht externer Reichtum. Tlaxcallan hatte wohl eine solche kollektive Regierungsform, in der es Bürger aller Klassen über das Initiationsritual in den Regierungsrat schaffen konnten. "Kollektiv" in diesem Sinne bedeutet nicht "sozialistisch", ergänzt Blanton. Die meisten der von ihm untersuchten Gesellschaften hatten markwirtschaftliche Ökonomien.

Blantons Sicht "war sehr stimulierend", sagt Wright. "Lange Zeit hatten wir in der Archäologie immer nur nach Anzeichen für einen König gesucht." Nun gab es eine Theorie, die königslose Gesellschaften denkbar machte. Eine Herausforderung blieb: "Wie können wir diese Staaten erkennen?" Welche Spuren hinterlassen kollektive Gesellschaften, zu denen es keine historischen Quellen gibt? Kurz: "Wie würde es tatsächlich am Boden aussehen, das war das große Problem", sagt Blanton.

"Da drüben haben wir das Haus gefunden", sagt Fargher. Er umrandet die Plattform, auf der sich einst einer der größten öffentlichen Plätze Tlaxcallans befand und steuert auf einen Flecken nackter Erde zu, der von Gras umrandet ist. In der Ferne raucht der Popocatépetl, Mexikos berühmtester Vulkan. Fargher zeigt auf blasse Steinspuren in der sandigen Erde, wo vor 600 Jahren Mauern standen. "Hier befanden sich eine Reihe von kleinen Zimmern, die mehrere Male wiederaufgebaut wurden, mit einer Terrasse da drüben." Offensichtlich nichts Besonderes, das typische Haus eines Durchschnittsbürgers.

Hier regierte kein König vom Herzen der Stadt aus

"Aber sehen Sie, wo wir sind", ruft Fargher aus. "Direkt gegenüber einem sehr öffentlichen Raum. An jeder anderen mesoamerikanischen Stätte stünde direkt am Hauptplatz ein großartiger Palast. Hier aber haben wir ein ziemlich bescheidenes Haus." Solche Dinge seien typisch für Tlaxcallan, sagt Fargher. "Das ist wie Supermans Bizarro World. Alles ist genau umgekehrt, wie man es erwartet hätte." Die meisten mesoamerikanischen Städte sind um ein monumentales Zentrum von Pyramiden und Plätzen angelegt. In Tlaxcallan hingegen liegen die Plätze verstreut in allen Gegenden, ein klares Zentrum fehlt. Hier regierte kein König vom Herzen der Stadt aus. Fargher vermutet, dass sich der Senat in einem großen Gebäude traf, das einen Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen stand.

Archäologen haben mittlerweile in einer Handvoll anderer mesoamerikanischer Städte ähnliche Strukturen gefunden. So etwa in Tres Zapotes an der Golfküste, die zwischen 400 v. Chr. bis 300 n. Chr. florierte, in den Jahrhunderten nach dem Untergang von La Venta, der letzten Hauptstadt der Olmeken. Obwohl die Einwohner von Tres Zapotes viele kulturelle Praktiken der Olmeken beibehielten, sah ihre Stadt anders aus, sagt Christopher Pool, ein Archäologe der University of Kentucky in Lexington. Tres Zapotes hatte vier Plätze, die gleichmäßig über die Stadt verteilt waren. Alle hatten den gleichen Grundriss mit künstlichen Erdhügeln und einem öffentlichen Raum. Radiocarbon-Daten belegen, dass die Plätze zur gleichen Zeit genutzt wurden. Pool folgert, dass in der Hochphase der Stadt vier Gruppen in der Regierung kooperierten.

Kollektive Gesellschaften neigen zu standardisierten Grundrissen in der Stadtplanung; die größten nutzten sogar ein Raster, sagt Blanton. Das vereinfachte den Einwohnern und der Regierung die Orientierung, etwa bei der Organisation öffentlicher Dienste. In der Indus-Hauptstadt Mohenjo-Daro mit ihren 30 000 bis 40 000 Einwohnern im heutigen Pakistan standen viele ähnlich große Wohnblocks, gebaut aus Standard-Ziegeln. In der klar strukturierten Stadt gab es zudem viele Brunnen und die ersten Abwasserkanäle der Welt: Die Städter konnten Toiletten benutzen.

Wohlhabende Bürger lebten in ähnlichen Häusern wie die normalen Menschen

Typisch für die kollektiven Gesellschaften war die ausgeprägte ökonomische Gleichheit, wie man aus dem Vergleich der Güter der Armen und der Reichen schließen kann. In autokratischen Gesellschaften wie bei den klassischen Mayas finden sich kunstvoll bemalte Keramiken und Jade-Objekte nur in Palästen und Königsgräbern. In Tlaxcallan hingegen scheinen Menschen aller Klassen verzierte, mehrfarbige Töpferwaren genutzt zu haben. "Man kann dort reiche von armen Menschen nicht aufgrund ihrer Sachen unterscheiden", sagt Fargher. Pool berichtet Ähnliches aus Tres Zapotes. Dort war es wie im antiken Athen, wo wohlhabende Menschen in ähnlichen Häusern wie die gewöhnlichen Menschen lebten.

Michael Smith von der Arizona State University gibt allerdings zu bedenken, dass ökonomische Gleichheit noch nicht geteilte politische Macht garantiert. Um den Zusammenhang zwischen Wohlstandsverteilung und politischer Teilhabe deutlicher zu machen, bräuchten Archäologen mehr Daten und verlässlichere statistische Analysen.

Bevor ein politischer Kandidat in Tlaxcallan dem Initiationsritus unterworfen wurde, musste er bereits seine Tapferkeit im Krieg bewiesen haben. Seit Jahrhunderten nämlich war der Staat in Kämpfe gegen das Mexica-Reich - heute spricht man von Azteken - verwickelt, dessen Hauptstadt Tenochtitlan hinter den Bergen im Westen lag. Dort, wo heute Mexico City liegt, regierte ein Adelsgeschlecht von einem großen, zentralen Platz aus. Tlaxcallan war das einzige Gemeinwesen in der Region, dass sich gegen die Dominanz der Mexica wehrte, es war eine Art ökonomische und politische Insel.

Historischen Quellen zufolge verhängten die Mexica eine Handelsblockade, um ihre Rivalen zu schwächen. Obwohl Fargher in Tlaxcallan etwa Salz und grünen Obsidian aus dem Imperium entdeckt hat, fand er unter zehn Tonnen Keramik nur drei oder vier Stücke im Mexica-Stil. Isotopen-Untersuchungen an Skeletten haben außerdem gezeigt, dass lokal hergestellter Mais den Speiseplan überdurchschnittlich dominiert hat. Das deutet darauf hin, dass Tlaxcallan auf seine eigene Landwirtschaft gesetzt hat, weniger auf den Import anderer Lebensmittel. Zur Wirtschaft in Tres Zapotes finden sich keine geschriebenen Quellen. Doch auch dort waren importierte Güter rar, berichtet Pool. Die vier regierenden Gruppen griffen offenbar auf interne Ressourcen zurück.

Die Befunde aus beiden Städten stützen außerdem Blantons und Farghers Annahme, dass die Existenz von Steuern der beste Indikator für eine kollektive Herrschaft ist. Nach der archäologischen und historischen Analyse von 30 prämodernen Gesellschaften sind sich die Forscher sicher, dass Staaten mit großen internen Einnahmequellen meist viele öffentliche Güter und Dienste bereitstellen, über eine starke Regierungsbürokratie verfügen und die Bürger die Möglichkeit haben, über das Handeln der Herrschenden zu richten. "Wenn Steuerzahler den Staat finanzieren, dann wissen die verantwortlichen Leute, dass sie das Richtige zu tun haben", sagt Blanton.

Kollektive Gesellschaften haben möglicherweise eine weitere Eigenschaft, die archäologisch belegt werden kann: Sie ziehen Menschen aus anderen Kulturen an, denen wiederum bestimmte Artefakte zugeordnet werden können. "Wenn man ein kollektives System hat, das von eigenen Ressourcen finanziert wird, liegt es im Interesse der Regierung, mehr Menschen anzuziehen", sagt der Archäologe Gary Feinman vom Field Museum in Chicago, Illinois. Ökonomische Gleichheit und Märkte ziehen umgekehrt Immigranten an. "Menschen migrieren dorthin, wo sie größere Chancen erwarten - wo sie ihren Lebensunterhalt verdienen können, ihre Kinder es einmal besser als sie selber haben könnten", sagt Feinman.

Tlaxcallan war tatsächlich die Heimat verschiedener ethnischer Gruppen, darunter auch Mexica-Flüchtlinge, berichten die spanischen Chroniken. "Sie wurden von Tlaxcallan unter der Bedingung aufgenommen, dass sie den Staat verteidigen", sagt Aurelio López Corral, der im Auftrag des Instituto Nacional de Antropología e Historia die Stätte erforscht. Die besten Krieger, egal welcher Herkunft, waren berechtigt, dem Senat beizutreten, vorausgesetzt, sie überstanden die Initiation.

Nicht immer ist der archäologische Befund eindeutig. So diskutieren Forscher etwa, wie eine andere mächtige Gesellschaft politisch organisiert war: Teotihuacán, das Zentralmexiko zwischen 100 bis 500 n. Chr. dominierte. Die gewaltige Straße der Toten zweiteilt die Stadt, gesäumt von beeindruckenden Bauten, darunter die gewaltigen Pyramiden der Sonne, des Mondes und der Gefiederten Schlange. "Das ist eine großartige Stadt", sagt der Archäologe Saburo Sugiyama von der Aichi Prefectural University in Nagakute, Japan. "Bestimmt hat eine sehr starke Regierung dieses monumentale Projekt geplant und ausgeführt." Wahrscheinlich stand an ihrer Spitze ein typischer Alleinherrscher - ein König mit großer militärischer Macht. Darauf deuten Waffen, eine kriegerische Bilderwelt sowie die massenhaften Überreste von Menschenopfern hin.

Dem widerspricht die Archäologin Linda Manzanilla von der Universidad Nacional Autónoma de México. Sie weist darauf hin, dass die Stadt nach einem gitterförmigen Muster angelegt ist, in dem die normalen Bürger in standardisierten, gleichmäßig verteilten Wohngebäuden lebten. Große Straßen teilten die Stadt in vier quadratische Viertel, jedes von ihnen hatte seine eigene Ikonografie: fliegende Tiere, Katzen, Schlangen oder Kojoten, die sich in der Keramik und der Kunst wiederfanden. Nur unter der zentralen Pyramide des Mondes fanden sie als Opfertiere zusammen. Die Kunst zeigt keine individuellen Führer oder Dynastien. Manzanilla vermutet, dass Teotihuacán von einem Rat aus vier Führern regiert wurde, von denen jeder eines der vier Stadtviertel repräsentierte, eine Art kollektive Regierung. "Gruppen waren wichtiger als Individuen", sagt sie.

Solche Diskussionen zeigen die Probleme von Blantons Modell. Auch Smith gesteht, dass die politische Bedeutung räumlicher Strukturen schwer zu interpretieren ist. So sehen etwa einige Forscher den ausgefeilten Wasserbau der Indus-Kultur gerade umgekehrt als Hinweis auf totalitäre Kontrolle. Und David Carballo von der Boston University argumentiert, dass die Regierungsform noch nicht mal das wichtigste Merkmal von Kollektivität sein muss. Er verweist auf eine riesige Obsidian-Werkstätte, die er in der Nähe von Teotihuacán ausgegraben hat, für ihn ein Zeichen, dass die Bürger sich auf Graswurzelebene selbst organisiert haben. Das mache Teotihuacán zu einer kollektiven Gesellschaft, selbst wenn es einen alleinregierenden König gegeben haben sollte.

Vielleicht ist es auch so, dass Gesellschaften wie Teotihuacán nicht einfach in akkurate Kategorien passen, sagt Pool. Oder sie haben ihr politisches System mit der Zeit geändert. In Tres Zapotes zum Beispiel haben die Elitegruppen ihre Macht womöglich geteilt, doch zugleich dominierten sie benachbarte Orte mit herkömmlicher Zentralgewalt. Aus ihnen schlich sich die Autokratie langsam wieder zurück nach Tres Zapotes. Irgendwann verloren die vier Plätze der Stadt wieder ihre architektonische Geschlossenheit, und die Künstler fertigten wieder Porträts individueller Führer an.

Die Demokratie kommt und geht, und sie ist nur sehr schwer zu bewahren

Kollektive Regierungen neigen dazu, in Zyklen aufzusteigen und zu fallen, sagt Blanton. In Oaxaca schwang das politische Pendel alle 200 bis 300 Jahre hin und her, zwischen kollektiver und autokratischer Regierung. Das lässt sich aus den Grundrissen der Hauptsiedlungen und Berichten der kolonialen Chronisten ablesen. "Demokratie ist keine einmal für immer erreichte Errungenschaft. Sie kommt und sie geht, und sie ist sehr schwer zu bewahren", sagt er.

Von trauriger Ironie war etwa die Geschichte von Tlaxcallan. Als nach Jahrhunderten des Widerstandes gegen das Mexica-Reich die Spanier kamen, sah die Republik eine Gelegenheit, ihre Feinde zu vernichten. Sie verbündete sich mit dem Konquistador Hernán Cortés, half ihm bei der Planung seiner Angriffe auf Tenochtitlan und beherbergte seine Armee nach ihrer ersten, vernichtenden Niederlage. Das ermöglichte den spanischen Streitkräften, sich zu sammeln und erneut anzugreifen, diesmal mit Erfolg. "Ich weiß nicht, ob die Eroberung ohne die Hilfe von Tlaxcallan möglich gewesen wäre", sagt Fargher.

Doch sobald die Tlaxcalteken Untertanen der spanischen Krone waren, löste sich die Republik auf. Die Menschen verließen ihre Plätze auf den Hügeln und zogen ins Tal, wo später die moderne Stadt Tlaxcala entstand. Als Mexiko drei Jahrhunderte später die Unabhängigkeit von Spanien errang, galten die Tlaxcalteken als Verräter, ihre Gesellschaft wurde fast vollkommen vergessen. Es dauerte weitere hundert Jahre, bis die Revolution eine demokratische Verfassung brachte. Nun kämpfen ehrgeizige Kandidaten wieder um ihre politische Zukunft - diesmal nicht auf dem Platz, sondern an der Wahlurne.

Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin Science erschienen, herausgegeben von der AAAS. Deutsche Übersetzung: Christian Weber. Weitere Informationen: www.aaas.org.

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