„Wer war Ingeborg Bachmann?“ : Eine Liebe von Henry Kissinger
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Schriftstellerin Ingeborg Bachmann Bild: Dr. Heinz Bachmannn
„Von ihrem Wesen her war sie dauernd in Schwierigkeiten“ – so erinnert sich der immer noch faszinierte Politiker: Eine bislang unbekannte Episode aus dem Leben von Ingeborg Bachmann.
Monatelang hat es gedauert, den Termin zu bekommen, dann klappt es plötzlich. Ich solle mich, mailt seine Büroleiterin, am 8. Juni 2016 in die Lobby des Hotel Adlon in Berlin begeben. Henry Kissinger, dreiundneunzig Jahre alt, ist zu Besuch in der Stadt und wird am Abend in der American Academy am Wannsee erwartet. Wir sind für zehn Uhr morgens verabredet. Ich bin zuerst da und wähle einen Tisch neben dem Springbrunnen. Dann erscheint gestützt auf seinen Stock und vorsichtigen Schrittes jener Mann, der Ingeborg Bachmann 1955 nach Harvard eingeladen hat. Sein Sicherheitsboy wird sich zwei Tische weiter niederlassen und während der nächsten Stunde mit seinem Smartphone spielen.
Das erste Mal hat Henry Kissinger sie im Rahmen des „International Seminar“ an der Harvard University getroffen, wo er als Programmdirektor fungierte. Diese zwei Monate des Sommers 1955 waren zugleich die intensivste Zeit ihrer „strange relationship“. Eine „merkwürdige Beziehung“? „I liked her very much“, gibt er unumwunden zu. Kissinger spricht leise, hört nicht mehr perfekt, so dass wir bald die Köpfe nah beieinanderhaben, nebenbei mache ich Notizen. Das Plätschern des Springbrunnens schirmt gegen die Geräusche des Hotelbetriebs ab, gegen das Kommen und Gehen der Gäste. Ich habe nicht den Eindruck, dass Kissinger erkannt oder besonders beachtet wird. Wir unterhalten uns auf Englisch.
Eine Erinnerung voller Behaglichkeit
Ein Anekdotenerzähler ist er nicht, stattdessen lauscht er in sich hinein. Nichts Hektisches ist zu vernehmen, mir kommt es vor, als würde er sich mit einer großen Behaglichkeit an Ingeborg Bachmann erinnern wollen. Die Sache mit dem Reisepass – oft gehört, oft gelesen – erwähnt er ebenfalls, ohne nähere Details zu liefern: Sie war „ein hilfloses Kind“ und völlig „chaotisch“. Offenbar hatte sie ihren Pass auf der Überfahrt nach Amerika verloren: „Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass es ein großes Durcheinander war, bevor sie einreisen konnte. Es war immer ein Problem, sie dahin zu bringen, wo sie erwartet wurde.“ Und: Sie schwirrte herum („she flowed around“). Zugleich habe sie „gewusst, was sie wollte“.
Es ergibt sich der Eindruck einer multiplen Persönlichkeit – „sophisticated and innocent“ lautet eine seiner Formeln, raffiniert und unschuldig. „Sie war beides“, fasst Kissinger zusammen. „Von ihrem Wesen her war sie dauernd in Schwierigkeiten.“ („She was inherently in trouble.“) „Technically helpless“ sei sie gewesen, „but very strong in her head“. Also eine hilflose Person (von ihrer Kurzsichtigkeit wusste er nichts), dafür aber eine sehr fähige Denkerin. Und sehr gefühlvoll, warmherzig, radikal unkonventionell. Das mochte er. Ob er sie schön gefunden habe? Die Frage amüsiert ihn: „Not in the sense of a fashion model.“
Das Internationale Seminar in Harvard hat Kissinger in bester Erinnerung, es habe wirklich seinen Zweck erfüllt, was man „weiß Gott“ nicht von allen akademischen Programmen behaupten könne. Man müsse sich das nicht als Lehrbetrieb vorstellen, sondern als anregende Diskussionsrunden unter Gleichen. Er unterstreicht: „Ich war von meiner Persönlichkeit her noch nicht fertig damals – Sie müssen bedenken, ich war knapp über dreißig – und die anderen auch nicht.“