Mittlerweile habe er ein echtes Problem, klagt Marc Vlessing. Drei Viertel der Arbeiter auf seinen Baustellen kämen aus Osteuropa, sagt der Vorstandschef von Pocket Living, einem erfolgreichen britischen Bauträger, der mit modularen Fertigbauteilen günstigen Wohnraum erstellt. Aber es würden immer weniger. „Rund 30 Prozent der Arbeiter sind seit dem Brexit-Referendum weggegangen“, schätzt er. Und anders als früher kämen keine neuen mehr nach.
Solche Geschichten habe er in den vergangenen Monaten zahlreiche gehört, sagt Paul Drechsler, Chef des Industrieverbandes Confederation of British Industry (CBI). Zwei Treiber seien dafür verantwortlich: Der gesunkene Pfund-Kurs sorge dafür, dass das Einkommen weniger wert sei. Außerdem würden die Arbeiter aus dem EU-Ausland es nicht schätzen, dass sie auch ein Jahr nach der Brexit-Entscheidung immer noch keine Klarheit über ihr künftiges Bleiberecht hätten.
Vlessing sieht noch einen weiteren Grund: „Ich bin auf all unseren Baustellen gewesen, habe mit den Leuten gesprochen. Sie gehen, weil sie verletzt sind. Sie fühlen sich hier nicht länger willkommen.“ Zudem wüssten die Betroffenen, dass sie andere, für sie attraktivere Optionen hätten. Zurück nach Polen oder in die Slowakei würde kaum einer der Arbeiter gehen. Stattdessen fänden sie Beschäftigung auf Baustellen in Schweden, Deutschland, den Niederlanden.
Vor allem EU-Ausländer verlassen die Insel
Die Probleme britischer Arbeitgeber, Fachkräfte aus dem Ausland zu bekommen, dürften sich in den kommenden Wochen und Monaten noch weiter verschärfen. Die konservative Regierung hat in ihrem Wahlprogramm weitere Maßnahmen angekündigt, um den Zuzug von Ausländern zu begrenzen. Die striktere Kontrolle der Grenzen und eine politische Rhetorik der Abschreckung von Zuzüglern dürften auch für EU-Ausländer, die derzeit noch ohne Einschränkungen im Land arbeiten dürfen, einen Umzug auf die Insel unattraktiver machen.
Dass die Taktik funktioniert, belegen die jüngsten Zahlen zur Zuwanderung nach Großbritannien. Die Nettomigration, also die Zahl der Einwanderer abzüglich jener, die das Land im gleichen Zeitraum verlassen haben, lag im vergangenen Jahr bei 248.000 Personen und damit um ein Viertel niedriger als im Vorjahr.
Während die Zahl derer, die Großbritannien den Rücken kehrten, um 40.000 zulegte, kamen im Jahresvergleich 43.000 weniger Menschen zum Leben und Arbeiten ins Vereinigte Königreich. Vor allem EU-Ausländer waren es, die das Land verließen, und dabei insbesondere Menschen aus den acht EU-Staaten, die im Zuge der Osterweiterung 2004 zur Union gestoßen waren.
Die Zahl der Zuzügler aus diesen Staaten ist mit minus 25.000 Personen im Vergleich zum Vorjahr besonders deutlich zurückgegangen. Unter dem Strich – also abzüglich der Auswanderer – sind 2016 nur 5000 Menschen aus den östlichen EU-Staaten auf die Insel gekommen. Das ist der niedrigste Wert seit 2004.
Katastrophale Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
Dabei gibt es schon heute nicht mehr genug Arbeitskräfte, um offene Stellen zu besetzen. Aktuelle Zahlen des Branchenverbandes für Arbeitsvermittlung (Recruitment and Employment Confederation, REC) weisen auf einen Fachkräftemangel in mehr als 60 Bereichen hin, von Ingenieuren über IT-Experten und Erziehern bis hin zu Rechnungsprüfern.
Im April sei die Zahl der unbesetzten Jobs erneut gestiegen, teilte REC mit. Im gleichen Monat fiel die Arbeitslosenquote im Vereinigten Königreich auf 4,6 Prozent, den niedrigsten Wert seit 1975. Was sich nach einer komfortablen Situation für Angestellte anhört, alarmiert mittlerweile die Unternehmer. „Die Nachfrage nach Personal wächst in allen Branchen und Regionen des Vereinigten Königreichs, aber es gibt immer weniger Menschen, die die freien Stellen füllen können“, sagt REC-Chef Kevin Green.
„Menschen in Beschäftigungsverhältnissen sind angesichts der Brexit-Unsicherheit zögerlich geworden, ihren Job zu wechseln“, sagt er – und weist zugleich auf den nachlassenden Zustrom aus dem Ausland hin: „Das schwächere Pfund und die fehlende Klarheit über die Zukunft hält EU-Ausländer davon ab, Stellen in Großbritannien anzunehmen.“
Andere werden noch deutlicher: Geradezu ablehnend sei die Stimmung mittlerweile im Innenministerium, wenn es um die Erteilung von Visa und Fragen der Einbürgerung gehe, sagt Beenu Rudki von der auf Personalrecht spezialisierten Kanzlei Lewis Silkin. Aufenthaltsgenehmigungen zu bekommen oder Familienzusammenführungen zu ermöglichen werde immer schwieriger.
Geringeres Wachstum prognostiziert
Die Regierung scheint ungerührt. Wohin die Reise geht, machte Premierministerin Theresa May gerade mit dem Wahlprogramm der Konservativen für die vorgezogenen Neuwahlen klar. Die jährliche Abgabe, die bei der Beschäftigung von Nicht-EU-Ausländern seit April erhoben wird, die sogenannte Immigration Skills Charge in Höhe von 1000 Pfund, soll nach einem Wahlsieg der Konservativen verdoppelt werden.
Das Programm bekräftigt auch das Ziel, die Nettozuwanderung in den fünfstelligen Bereich zu drücken. Auf diesem Niveau lag der Wert zuletzt vor 20 Jahren. Mit Verweis aus die alternde Gesellschaft und das niedrige Produktivitätswachstum kommt ein aktueller Report des Thinktanks Global Future jedoch zu dem Ergebnis, dass Großbritannien eine Einwanderung von gut 200.000 Beschäftigten pro Jahr brauche, um „katastrophale wirtschaftliche Folgen“ zu vermeiden.
Die Studie nennt unter anderem den staatlichen Gesundheitssektor und den Pflegebereich als Sektoren, die dringend auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen sind. Das Centre for Economics and Business Research (CBI) rechnet in einer aktuellen Untersuchung vor, dass eine Nettozuwanderung unter 100.000 das britische Wachstum bis 2025 um 1,5 bis 3,0 Prozent schwächer ausfallen lassen könnte als aktuell.
Als „Achillessehne“ des konservativen Wahlprogramms bezeichnet Carolyn Fairbairn, Geschäftsführerin des CBI, daher die jüngsten Aussagen zur Einwanderungspolitik. „Im globalen Wettbewerb für Talent und Innovation droht Großbritannien in den Startblöcken sitzen zu bleiben – wegen der plumpen Einstellung zur Immigration.“ May scheine geradezu besessen von dem Ziel, die Zuwanderung unter 100.000 zu drücken, sagt Patrick Dunleavy, Professor für Politikwissenschaft an der London School of Economics. „Warum das so ist? Da müssen sie einen Psychoanalytiker fragen.“
Harte realwirtschaftliche Folgen drohen
Bei Politikern stoße er mit seinem Problem auf taube Ohren, klagt auch Bauunternehmer Vlessing. Wer über negative Folgen des Brexit-Referendums rede, werde rasch als „Remoaner“ abgestempelt, berichtet ein anderer Unternehmer, der seine offenen Stellen nicht mehr besetzen kann. Den Begriff hat die britische Boulevardpresse für jene geschaffen, die für den Verbleib in der EU gestimmt haben und das Ergebnis bis heute bedauern.
Dabei drohen schon bald ernste realwirtschaftliche Folgen. Beispiel Bau: Fehlen die Arbeiter, verzögert sich nicht nur die Fertigstellung der Wohnungen. Der Wettbewerb um knappe Arbeitskraft dürfte auch deren Preise in die Höhe treiben. In der Bauwirtschaft führt die Knappheit mittlerweile dazu, dass Bauunternehmer versuchen, sich gegenseitig die Mitarbeiter abzujagen.
Die Regierung argumentiert, dass die Einnahmen aus der Immigrationsabgabe zur Qualifizierung einheimischer Arbeitskräfte genutzt werden sollen, um mehr junge Briten einzustellen. Doch die ohnehin schon niedrige Arbeitslosigkeit setzt dieser Möglichkeit Grenzen.
Ein Ausbildungssystem für technische Berufe steckt zudem noch in den Anfängen. Vlessing weist auf eine weitere Besonderheit der britischen Baubranche hin: Sie arbeitet traditionell mit wenigen direkten Mitarbeitern, dafür aber mit einem weitverzweigten System von Auftragnehmern und Unterauftragnehmern. In dieser Struktur, die auch eng mit den ausgeprägten Zyklen der Branche zusammenhängt, hätten sich bisher kaum Betriebe gefunden, denen eine Investition in Ausbildung sinnvoll erscheint.
Nur einer von 50 Bewerbern ist britisch
Immigrationsexpertin Rudki weist darauf hin, dass von dem Mangel zudem vor allem Branchen betroffen seien, die für junge Briten ohnehin weniger interessant seien – wie der Handel, die Hotellerie und das Gaststättengewerbe. Viele der Unternehmen aus dieser Branche wollten wissen, wie sie sicherstellen könnten, die heute beschäftigten EU-Ausländer zu behalten und neue anzuwerben.
Das Problem sei nicht die Auswahl, sondern die Anziehung, erläuterte jüngst Andrea Wareham, Personalchefin der Sandwichkette Pret A Manger, vor einem Wirtschaftsausschuss des Oberhauses. „Ich würde sagen, einer von 50 Bewerbern in unserem Unternehmen ist britisch. Wenn ich alle offenen Stellen ausschließlich mit Briten füllen müsste, wäre das angesichts des Mangels an Bewerbungen schlicht nicht möglich.“
Das ungute Gefühl der Zuwanderer, als Ausländer nicht länger erwünscht zu sein, versuchen die ersten Unternehmer unterdessen auf eigene Faust zu bekämpfen. Michael Moszynski, Geschäftsführer der Werbeagentur London Advertising, bereitet Anfang Juni eine große Zeitungsanzeige in polnischen Medien vor – auf eigene Kosten. Die Botschaft: Polen seien auch nach dem Brexit sehr willkommen auf der Insel.