Frankreichs Muslime beklagen, dass sich Präsident Hollande zu wenig um ihre armseligen Quartiere gekümmert habe. Deshalb dürften sie jedoch noch längst nicht zur Rechten überlaufen.
Ismail kann sich noch bestens an die Tirade von Nicolas Sarkozy erinnern, als dieser im Juni 2005 die Wohnsilos der «Cité des 4000» in der Pariser Vorstadt La Courneuve besuchte. Der damalige Innenminister und «premier flic» wetterte, dass die mehrheitlich von Muslimen aus dem Maghreb und Schwarzafrika bewohnte Trabantenstadt mit einem Kärcher-Hochdruckreiniger gereinigt werden müsse, um das «Pack» zu beseitigen.
Sarkozy reagierte auf den tragischen Tod eines 11-jährigen Buben, der durch einen Querschläger während eines Schusswechsels zwischen zwei verfeindeten Familien getroffen worden war. Ismail erklärt uns, dass die Wortwahl des Innenministers ihn und die meisten anderen Muslime im Quartier persönlich verletzt habe. Sarkozy habe suggeriert, dass die Bewohner der Cité und nicht die schwierigen sozialen Umstände für die Tragödie verantwortlich seien.
Ismail lädt uns zu gezuckertem Pfefferminztee bei sich zu Hause ein. Er wohnt mit seiner Frau und vier Geschwistern bei den Eltern in einer Parterrewohnung eines fast 200 Meter langen und 15 Stockwerke hohen Häuserblocks, in dem über dreihundert Familien untergebracht sind.
Ismail bittet uns, beim Betreten der Wohnung die Schuhe auszuziehen. Das Wohnzimmer ist sorgsam hergerichtet. Wir setzen uns an den grossen Tisch im Wohnzimmer. Das Tischtuch ist mit transparentem Plastic bedeckt. In einem Regal steht ein kleiner Eiffelturm. An der Wand gegenüber hängt eine elektronische Uhr, die Ismails Familie fünfmal täglich an die Gebetszeiten erinnert.
«Ich trinke keinen Alkohol, doch liebe ich Käse», sagt Ismail. Er will unterstreichen, dass er sich durchaus als Franzose fühle, doch seine Herkunft – seine Eltern wanderten aus Marokko ein – nicht verleugnen könne und das Beste beider Welten nutzen wolle. Er ist Schwimmlehrer, doch arbeitslos, denn seine Haut verträgt das Chlorwasser nicht mehr. Dennoch möchte er nicht resignieren. Er weist stolz darauf hin, dass seine aus Algerien stammende Frau Ärztin sei und seine Tante Anwältin. Er selber werde nun auf einen Job als Sportartikelverkäufer umsatteln.
Ismail hatte bei den letzten Wahlen wie die meisten anderen Muslime François Hollande gewählt. Dieser habe jedoch nur viele leere Versprechen gemacht. Das vor allem auch in Bezug auf die heruntergekommenen Banlieues, wo die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch sei und die Kriminalität grassiere. Die Wirtschaftskrise habe Armenghettos wie die «Cité des 4000» besonders hart getroffen. Im Besonderen beklagt Ismail aber, dass die Renovation seines Wohnblocks noch immer auf sich warten lasse.
Nun hofft er aber auf den früheren Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, dessen Wahl eine Ohrfeige für die Linke und die Rechte wäre. Macron sei noch jung und dynamisch, meint Ismail. Vor allem schätzt er an Macron dessen Bereitschaft, schonungslose Kritik an der französischen Kolonialpolitik in Nordafrika zu üben und zuzugeben, dass Frankreich in Algerien Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt habe.
Es sei auch Macron, der die kulturelle Vielfalt des Landes nicht wie die Rechte als Last, sondern vielmehr als Reichtum und Trumpf des Landes einstufe. Glücklicherweise habe der Politiker laut letzten Meinungsumfragen die besten Chancen, die Muslime-Hasserin Marine Le Pen zu besiegen.
Der 38-jährige Ambulanzfahrer Sekou, der beim armseligen Einkaufszentrum der Cité eine Rauchpause einlegt, teilt den Optimismus von Ismail nicht. Er werde nicht mehr wählen, erklärt der aus Mali stammende Muslim. Er könne sich mit keinem der Kandidaten identifizieren. Deren Geplapper sei unerträglich. Die Politiker kümmerten sich nur um sich selber. Sie liessen sich jeweils nur kurz vor Wahlen in den Armenghettos blicken, argwöhnt Sekou, der mit Frau und Kleinkind im gleichen Block wie Ismail lebt.
Verächtlich zeigt der schwarze Hüne auf das graue Betonmonster und fragt rhetorisch: «Sieht das für Sie wie zivilisiertes Wohnen aus?» In einem der Hauseingänge lungern ein paar Jugendliche herum, die Passanten Marihuana anzudrehen versuchen. Die Polizei? Die fahre hier nur noch durch, sagt Sekou. Doch sei es in La Courneuve im Februar nach der schweren Misshandlung des 22-jährigen Schwarzen Théo durch einen Polizisten ruhiger geblieben als in anderen Banlieues. Nur ein paar wenige Autos seien von Jugendlichen aus Protest in Brand gesteckt worden.
Die 27-jährige Mutter, die in der Nähe von Ismails Wohnung mit schwarzem Kopftuch ihr erst wenige Monate altes Baby spazieren fährt, weiss noch nicht, welchen Kandidaten sie diesmal wählen will. Sie sei hin- und hergerissen. Klar sei aber, dass sie nicht für die Rechte, geschweige denn für die extreme Rechte stimmen werde, sagt Leila, deren Grosseltern aus Algerien eingewandert waren.
Leider hätten viele bürgerliche Politiker suggeriert, dass strenggläubige Muslime potenzielle Terroristen seien, sagt Leila weiter. Am sympathischsten sei ihr eigentlich der Sozialist Benoît Hamon. Er scheine ein Herz für die Armen zu haben und wolle den Muslimen nicht vorschreiben, wie sie sich zu kleiden hätten. Allerdings sei eine Stimme für Hamon möglicherweise nutzlos.
Amine lädt vor dem kleinen Supermarkt im Einkaufszentrum Kisten mit Gemüse ab. Der 61-Jährige ist in der Cité geboren worden und erinnert sich wehmütig daran, wie hier einst Christen, Juden und Muslime friedlich zusammengelebt hätten. Heute wohnten hier jedoch fast nur noch arme Muslime. Alle anderen, die es sich leisten könnten, seien geflüchtet.
Amine räumt ein, dass nun immerhin der Grossteil der in den sechziger Jahren hochgezogenen Wohnsilos der Cité abgebrochen und durch neue, kleinere und komfortablere Mehrfamilienhäuser ersetzt worden sei. Doch er beanstandet, dass sich die sozialen Verhältnisse kaum verbessert hätten. Auch Hollande habe die Problemquartiere im Stich gelassen. Zudem lehnten viele Muslime die unter ihm eingeführte Schwulenehe ab. Er selber sei aber tolerant. Im Islam gelte das Prinzip, dass jeder mit Gott persönlich ins Reine kommen müsse. Er werde erneut einen der linken Kandidaten wählen, da diese gegenüber den Muslimen aufgeschlossener seien als die rechten.
Ali Celik, der neben dem Einkaufszentrum eine «Baumschule» für Startup-Firmen leitet, weist stolz darauf hin, dass seine zu 10 Prozent mit EU-Geldern und sonst privat finanzierte Organisation seit ihrer Gründung im Jahr 2005 über 80 Kleinstunternehmen begleitet habe, die rund 700 Arbeitsplätze böten. Celik bedauert aber, dass die zur Hälfte von auswärtigen Jungunternehmern geschaffenen Firmen zumeist nicht in der Cité blieben und somit nicht für eine gesunde Durchmischung von Arbeit und Wohnen sorgten. Es sei höchst schwierig, im Quartier Fachkräfte zu finden. Ein Grossteil der Jugendlichen breche die Ausbildung vorzeitig ab.
Besorgt ist der junge Ökonom auch über die weitverbreitete Opfermentalität im Quartier. Höchst bedenklich sei ebenso, dass sich immer mehr junge Muslime ostentativ vorab über ihre Religion definierten und viele junge Frauen wieder das Kopftuch trügen. Der Alevit befürchtet, dass diese Jugend eine verlorene Generation sei.