Sapere aude! Aus Horaz' "Wage es, weise zu sein" bildete Immanuel Kant – im Bild ein Kupferstich von Johann Friedrich Bause nach Veit Hans Schnorr (1791) – das Leitmotiv der Aufklärung: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." In Berlin möchten einige studentische Aktivisten nun Kants Texte aus der Universität verbannen.

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"Fragen und Zeigen sind die wichtigsten pädagogischen Handlungsformen" für guten Unterricht, sagt der Berliner Erziehungswissenschafter Malte Brinkmann – plus Zeit, Ruhe und Muße als zentrale Faktoren.

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STANDARD: Sie hatten vor einiger Zeit an der Uni Ärger. Studierende wollten Ihre Vorlesung durch Herumbrüllen verhindern. Das Ganze endete mit einem Polizeieinsatz im Hörsaal. Was ist passiert?

Brinkmann: Es war die letzte Sitzung vor der Klausur, und es stand eine Wiederholung der Inhalte der Vorlesung "Grundbegriffe und Theorien pädagogischen Handelns" an. Diese Störerinnen hatten offensichtlich Unterstützer aus Berlin mitgebracht. Die Mehrzahl wollte die Störung nicht, und ein Student hat dann auch die Polizei gerufen, die ich aber wieder weggeschickt habe.

STANDARD: Grund für die Aufregung war, dass Sie auch Immanuel Kant behandelt haben. Was hatten diese Studierenden gegen ihn?

Brinkmann: Es ging auch um andere Autoren der europäischen Geistesgeschichte, machte sich aber vor allem an Kants Schriften fest. Ich halte an der Humboldt-Universität zwei Vorlesungen, eine vor 200 und eine vor 400 bis 500 Studierenden. In der kleineren haben sich drei gegen Kant gewendet, weil er angeblich Rassist gewesen sei und in einigen seiner Schriften Begriffe auftauchen, die diskriminierend seien, etwa der im 18. Jahrhundert übliche Begriff des "Wilden". So etwas sollte aus Sicht dieser Studierenden nicht gelesen werden.

STANDARD: Was bedeutet das allgemein für die Universität, wenn Studierende eine dekontextualisierte, unhistorische Lesart vornehmen und sagen, diese Texte dürfe man heute gar nicht mehr lesen?

Brinkmann: Wie soll man sich kritisch mit der jeweiligen Geschichte der Disziplin, des Fachs oder auch der Kultur auseinandersetzen, wenn die Texte selber nur noch in modifizierter Form gelesen werden dürfen? Das andere ist: Wie kann man produktiv mit Kolonialismus- oder Rassismuskritik umgehen, ohne selbst zu diskriminieren? Denn diese Studierenden treten als Diskurspolizei auf. Sie verlangen, dass bestimmte Begriffe gar nicht ausgesprochen werden. Kommilitonen, die diese verwenden, werden auf massive Art und Weise angegangen und zum Teil regelrecht gemobbt, in und außerhalb der Uni. Dieses gewalttätige Vorgehen verursacht Verletzungen, verbreitet Angst und Schrecken, wie von Kommilitonen vielfach dokumentiert.

STANDARD: Wie sind Sie bzw. die Uni damit umgegangen?

Brinkmann: Wenn solche Vorfälle im Internet und in Blogs reproduziert werden, hat die Universität traditionell kaum eine Möglichkeit, produktiv zu reagieren. Man gerät in einen Shitstorm, erhält aber auch Beifall und Zuspruch, manchmal allerdings auch von der falschen Seite. Dem als Person und als Institution zu begegnen ist eine Herausforderung. Aber das betrifft nicht das eigentliche pädagogische Geschehen und die wissenschaftliche Lehre. In einer offenen Gesellschaft ist die Universität eine öffentliche Institution, in der jeder das Recht hat, das Wort zu erheben und seine Sicht vernünftig darzulegen. Die Grenzen sind dort, wo diskriminierend, herabwürdigend oder verletzend agiert wird. Dann sind kein Gespräch, kein Verstehen und keine Diskussion mehr möglich, die Grundlagen einer wissenschaftlichen und demokratischen Auseinandersetzung. Wir wollen ja gerade in den Erziehungswissenschaften zur Diskussion, zu Kritik und Reflexion auch über die kritisierten Inhalte und Texte anregen, aber auf einer Basis von Anerkennung und Respekt.

STANDARD: Müssen Ihre Studierenden also weiterhin Immanuel Kant ertragen und hören?

Brinkmann: Selbstverständlich werden wir weiterhin Texte, die zum Grundbestand der Disziplin gehören, im Original lesen. Wir werden diese Texte nicht ändern, aber wir werden sie kontextualisieren, und jeder Studierende kann diese Kontextualisierung dann diskutieren und kritisieren.

STANDARD:Wechseln wir zur Schule: Sie referieren in Wien über die "perversen Effekte Neuer Steuerung in Schule und Unterricht". Welche Effekte meinen Sie?

Brinkmann: Wir untersuchen in Berlin Unterricht mit Mitteln der Videografie. Gemeinhin wird im Rahmen der aktuellen Bildungsreform die Umstellung auf Bildungsstandards, Kompetenzen und Tests wie Pisa oder wie die in Österreich kürzlich angelaufene Überprüfung der Bildungsstandards mit dem Versprechen verbunden, dass damit mehr Qualität und mehr Gerechtigkeit erzeugt werden. Dieses aber wird nicht eingelöst. Wir haben vielmehr gegenteilige, das heißt perverse oder umgekehrte Effekte für Schüler und Lehrer ausgemacht. Der Unterricht wird nicht besser. Durch eine technokratische Vorstellung vom Unterricht wird regelrecht Unaufmerksamkeit erzeugt. Es findet zudem eine Deprofessionalisierung der Lehrer statt.

STANDARD: Die Schule, die noch nie so überwacht, kontrolliert und vermessen wurde wie jetzt, wird dadurch also nicht unbedingt besser?

Brinkmann: Nein. Wir können mittlerweile empirisch nachweisen, dass der Unterricht in vielen Fällen nicht besser wird, dass die Lehrerinnen und Lehrer nur noch über wenig pädagogische Urteilskraft verfügen und nicht erklären können, warum Unterricht, wenn er nicht gut läuft, nicht gut läuft. Das ist aber nicht die Schuld der Lehrerinnen und Lehrer. Ihre Aufgabe wird im aktuellen Evaluationssystem und in der Ausbildung vielfach darauf reduziert, aufgrund der sogenannten "objektiven" "Datenrückmeldungen" "Datennutzung" zu betreiben. Aber diagnostische Datennutzung ist noch lange nicht das Halten eines guten Unterrichts.

STANDARD: Wie würden Sie denn guten Unterricht definieren?

Brinkmann: Vor allem zwei Aspekte sind für guten Unterricht wichtig. Im Unterricht wird zum einen das lebensweltliche Wissen und Können der Schüler in symbolisches Wissen und Können transformiert. Sie sollen den Umgang mit Symbolsystemen wie Zahlen, Schriftzeichen oder dem Periodensystem lernen, aber auch den Umgang mit Anderen und Fremdem. Dieser Transformationsprozess muss didaktisch inszeniert werden. Dafür sind Fragen und Zeigen die wichtigsten pädagogischen Handlungsformen. Zudem sind dafür Zeit, Ruhe und Muße zentrale Bedingungen. Aufgrund der Beschleunigung, die die Schulen in der Dauerreform erfasst hat, ist ein Unterricht, in dem sich die Schüler über eine längere Zeit konzentriert und fokussiert mit einer Sache beschäftigen, kaum noch möglich. Unterricht besteht heute vielfach aus einer sehr kurzatmigen Sequentialisierung mit schnellem Wechsel von Sozialformen und Methoden. Die wirkt wiederum pervers: Die Schüler lernen so Unaufmerksamkeit.

STANDARD: Die Pisa-Studie hat sich, was ihren Einfluss auf Politik und bildungspolitische Debatten betrifft, zu einem der wichtigsten Messinstrumente entwickelt. Welche Bedeutung messen Sie ihr bei?

Brinkmann: Aus internationalen Leistungsstudien wie Pisa, aber auch aus den nationalen Tests und den statistisch erhobenen Daten lassen sich keine kausalen Erklärungen ableiten, warum ein Wert besser oder schlechter gerankt wird. Es gibt keinen direkten Bezug zur Praxis und damit keine Antwort auf die Frage: Was tun? In den Medien und insbesondere in der Politik funktioniert Pisa als eine Art Legitimationsinstrument für unterschiedliche bildungspolitische Reform- und Strukturmaßnahmen. Die einen sagen, die Effizienz des dreigliedrigen Schulsystems sei damit bewiesen, die anderen sagen, nein, das Gegenteil sei der Fall.

STANDARD: Das älteste Messinstrument in der Schule sind die Ziffernnoten – alt, aber gut oder überholt und zu entsorgen, wie viele sagen?

Brinkmann: Die Ziffernnote ist immer noch eine recht konkrete Rückmeldung, die aber durch einen urteilskräftigen Lehrer erfolgen muss, der die Individualität und den Stand und Hintergrund des jeweiligen Schülers einzuschätzen vermag. Zugleich ist es sicher nicht falsch, die Leistungen zum Beispiel über die Bildungsstandards auch außerhalb der Klasse mit anderen Klassen zu vergleichen. Die Grenzen der Aussagefähigkeit der Tests müssen gesehen werden. Der Unterricht darf nicht von ihnen und von Testaufgaben dominiert werden.

STANDARD: Kann in der Schule Leistung überhaupt fair gemessen werden – oder ist das vielleicht die erste Lektion fürs Leben, dass Kinder erfahren, die Welt ist nicht gerecht und die Schule erst recht nicht?

Brinkmann: Unsere Gesellschaft ist seit der Aufklärung und der Umstellung vom geburtsständischen auf das bürgerliche System Ende des 18. Jahrhunderts eine Leistungsgesellschaft. Die Schule hat damit eine doppelte Aufgabe: Sie soll als gesellschaftliche Institution Leistung messen und zertifizieren. Die damit verbundene Selektion, die unser Bildungssystem ja auch exekutiert – und damit auch die Nichtanerkennung von Personen -, muss abgefedert werden, kann aber nicht gänzlich aufgelöst werden. Daneben soll die Schule die Individualität jedes Einzelnen anerkennen und dessen Potenziale ausbilden, also Bildung ermöglichen. Für mich als Pädagogen ist diese Bildungsaufgabe der Schule entscheidend. Dazu gehört auch, dass Leistungsbereitschaft gefördert wird.

STANDARD: Österreich und Deutschland – mit Ausnahme von Berlin und Brandenburg – treffen diese Selektion mit zehn Jahren. Gut so?

Brinkmann: Ich war selbst lange Zeit Lehrer und kann die Ergebnisse vieler Studien nur bestätigen: Die Zuweisung zu den weiterführenden Schulstufen erfolgt mit zehn Jahren sicherlich zu früh. Das Bildungssystem könnte durch eine spätere Trennung etwas gerechter gemacht werden; und damit wäre schon viel erreicht.
(Lisa Nimmervoll, 18.1.2016)