US-Neonazi Andrew Anglin:Der König der Trump-Trolle

Andrew Anglin

Befehlshaber über die selbsternannte "Stormer Troll Army": Andrew Anglin.

(Foto: Andrew Anglin)

Als Jugendlicher trug er Kapuzenpullover mit "Fuck Racism"-Aufdruck. Heute ist Andrew Anglin einer der gefährlichsten Neonazis der USA - und hetzt auf Gegner seine eigene kleine Armee.

Von Johanna Bruckner, New York

Irgendwann beginnt der Journalist Luke O'Brien, sich vor dem zu fürchten, was sein Artikel über Andrew Anglin ausgelöst hat. Anglin, der "König der Nazi-Trolle", betreibt mit dem Daily Stormer eine der populärsten Neonazi-Webseiten in Amerika. Der 33-Jährige bietet seinen Lesern, so sagt er selbst, "unironischen Nazismus verkleidet als ironischer Nazismus". Witze darüber, dass NS-Arzt Josef Mengele Hunde darauf trainierte, Frauen zu vergewaltigen, bezeichnet er als "Comedy-Gold". Der Daily Stormer, angelehnt an das antisemitische Wochenmagazin Der Stürmer im Dritten Reich, ist so etwas wie Gawker für neonazistische Millenials.

Als der Journalist O'Brien Anglin im Rahmen seiner Recherche zu nahe kommt, lädt dieser seine Leser dazu ein, dem Journalisten doch mal "Hallo" zu sagen. Zwinker, zwinker. Ein Anhänger antwortet: "Ich werde ihm Hallo sagen. Ich werde ihn zu Boden werfen und sein Gesicht zu einem blutigen Brei schlagen." O'Brien ist zum ersten Mal in seinem Leben froh darüber, einen amerikanischen Allerweltsnamen zu haben. Der, so hofft O'Brien, mache es schwieriger, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Trotzdem fängt er an, sich umzusehen, wenn er auf der Straße unterwegs ist: Sieht einer der Passanten verdächtig aus? Wenn er den Flur zu seinem Apartment entlangläuft, hat er Herzklopfen wegen der uneinsehbaren Ecken.

"Du fragst dich: 'Bin ich gerade paranoid?'", erzählt O'Brien der Süddeutschen Zeitung. "Das ist Anglins Macht. Nicht so sehr, dass er wirklich 50 Neonazis und Skinheads auf dich hetzen kann. Sondern, dass er dich fürchten lässt, dass das passieren könnte."

Fast ein Jahr lang recherchiert O'Brien über Anglin. Im Dezember veröffentlicht das renommierte Magazin Atlantic sein Porträt als Titelgeschichte: "The Making of an American Nazi." Es erzählt von einem Mann, der sich vom Jugendlichen mit Dreadlocks und "Fuck Racism"-Hoodie zu einem der gefährlichsten Köpfe der rechten Szene Amerikas wandelte. Und der heute keine Skrupel kennt, Hass zu streuen und jene Menschen, die er als Feinde betrachtet, gnadenlos zu verfolgen - dazu zählen oft auch Kritiker des US-Präsidenten Donald Trump.

Vom Dreadlocks-tragenden Veganer zum selbstzerstörerischen Suchenden

O'Briens Recherche beginnt in Worthington, einem Vorort von Columbus, der Hauptstadt des Bundesstaates Ohio. Hier hat Anglin seine Kindheit und Jugend verbracht, die Familie gehört zur oberen Mittelschicht. Seine Vorschullehrerin erinnert sich an einen "bezaubernden" Jungen, der immer gelächelt habe. Sorgen macht sie sich nur, weil der kleine Andrew eine außergewöhnlich nasale Stimme hat. Ansonsten ist er ein Junge wie viele: sammelt X-Men-Comics, isst Burger bei der Fastfood-Kette Wendy's, interessiert sich für Musik.

Die weiterführende Schule, die Anglin später besucht, ist besonders liberal, gilt als "Hippie-Highschool" von Columbus. Aus dem süßen Jungen ist inzwischen ein Jugendlicher geworden, der sich nach Aufmerksamkeit sehnt. So weit ist Anglin ein typischer Teenager - allerdings einer, der außergewöhnlich schlecht mit Frust umgehen kann. Frühere Freunde berichten dem Journalisten O'Brien, dass die Wände in Anglins Zimmer von Dellen verunstaltet gewesen seien: Wenn Anglin nicht weiterweiß, rennt er buchstäblich mit dem Kopf gegen die Wand. Als seine Jugendfreundin Alison auf einer Party mit einem anderen Jungen knutscht, läuft Anglin auf die Straße und schlägt seinen Kopf auf den Asphalt, immer und immer wieder.

Alison ist eine Schulliebe, sie geht in die Stufe über Anglin. Die beiden sind die einzigen Veganer an der Schule, das bringt sie einander näher. Anglin habe sie mit selbstgebackenen veganen Keksen für sich eingenommen, erzählt Alison dem Reporter Jahre später. Doch eines Nachts habe sie ihn angerufen, aufgelöst, weinend - sie sei auf einer Party vom älteren Bruder einer Freundin vergewaltigt worden, berichtet sie ihrem Freund. Anglin, so erzählt es Alison, habe sie ausgelacht und Schluss gemacht. Nach der Trennung stachelt er Mädchen einer anderen Highschool gegen seine Ex-Freundin auf. Alison bekommt nachts Anrufe, "Du hattest es verdient", sagen die Anruferinnen. Und: "Du bist eine Schlampe."

US-Neonazi Andrew Anglin: Andrew Anglin auf einer Veranstaltung der Neonazi-Organisation "Goldene Morgenröte" in Griechenland.

Andrew Anglin auf einer Veranstaltung der Neonazi-Organisation "Goldene Morgenröte" in Griechenland.

(Foto: Southern Poverty Law Center)

Frühere Freunde erzählen O'Brien, dass Anglin zu dieser Zeit alle möglichen Drogen ausprobiert habe. LSD, Ketamin (ein Betäubungsmittel für Tiere), psychedelische Pilze, Kokain. Mit dem Hustenmittel Robitussin macht sich Anglin seinen Magen kaputt, in der Schule übergibt er sich regelmäßig in Mülleimer. Im Internet zu surfen, wird sein wichtigtes Hobby: Im Keller seiner Eltern sieht er Bilder von entstellten Leichen, Fehlbildungen und sexuellen Perversionen an. Zur gleichen Zeit, Anfang der 2000er, ist bei Teenagern die MTV-Serie Jackass beliebt. Darin tackern sich die Protagonisten ihre Pobacken zusammen oder essen ihr Erbrochenes.

Mit Rechtsradikalismus hat Anglin damals nichts am Hut, im Gegenteil. Er gründet ein linkes Musiklabel und ruft dazu auf, der Westboro Baptist Church von nicht zurückverfolgbaren Accounts Todesdrohungen zu schicken. Die Kirche zählt zu den bekannteren Hate Groups der USA. Anglin macht sich auch öffentlich über den Ku-Klux-Klan und andere rechte Organisationen lustig.

In seinem Abschlussjahr wird sein Verhalten immer unberechenbarer. Anglin provoziert andere Jugendliche. Wenn er verprügelt wird, wehrt er sich nicht, sondern lacht. Eine neue Freundin hat Anglin nicht, dafür soll er ehemaligen Klassenkameraden zufolge mehrmals versucht haben, andere Jungen zu küssen. Möglicherweise habe Anglin in dieser Zeit mit seiner Sexualität experimentiert, vielleicht habe er auch einfach provozieren wollen, spekuliert der Journalist. Vor dem Hintergrund der extremen Homophobie, die Anglin mittlerweile an den Tag lege, sei Anglins damaliges Verhalten "bemerkenswert", schreibt O'Brien.

Traum vom eigenen Stamm auf den Philippinen

Nach dem Schulabschluss driftet Anglin ab. Seine Eltern haben sich scheiden lassen, Anglin findet ein neues Zuhause bei Verschwörungstheoretikern wie Alex Jones. Der rechte Radiomoderator propagiert 9/11 als "Inside-Job" der US-Regierung. Anglin schreibt sich an der Ohio State University für Englisch ein, bricht sein Studium nach einem Semester aber wieder ab. Er taucht immer tiefer in die Welt von obskuren Webseiten ein, die eine geistig hochgiftige Mischung aus Verschwörungstheorien, Fremdenhass und Verachtung gegenüber Frauen verbreiten.

Mitte 2009 fliegt Anglin nach Südostasien - es ist eine Flucht vor seinem bisherigen Leben in Amerika. Er strandet schließlich in Davao City auf der philippinischen Insel Mindanao und freundet sich mit dem einzigen anderen Amerikaner in seiner Billigunterkunft an. Dieser Freund erzählt rückblickend, dass Anglin mit seiner intellektuellen Überlegenheit und seinen Erfolgen bei den philippinischen Frauen geprahlt habe. In einem Land, in dem junge weiße Männer "wie Götter behandelt werden" - wie es der damalige Weggefährte beschreibt -, bläst sich Anglins Ego weiter auf. Er erregt sich darüber, wie die philippinische Kultur von westlichen Kulturimporten verdrängt werde, Lady Gaga statt traditioneller philippinischer Musik, und träumt von seinem eigenen Stamm.

Anglin lebt einige Zeit mit dem Naturvolk der T'boli, dann verschwindet er in den Dschungel, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Seinem amerikanischen Freund erzählt er, seine Hochzeit mit zwei 16-jährigen muslimischen Mädchen sei bereits arrangiert. Monate später ist er zurück in Davao City - ernüchtert. "Ihr Geist ist genauso primitiv wie ihr Lebensstil", notiert er auf seinem Blog, der seine Suche nach dem ursprünglichen Leben dokumentiert. Gemeint sind: die Filipinos. "Idioten", seien das, berichtet er seinem Freund, "Affen".

Angekommen im Rechtsradikalismus

Wenig später schreibt Anglin auf einer Vorläufer-Seite des Daily Stormer: "Wir haben die Wahrheit gefunden. Wir haben das Licht gefunden. Wir haben Adolf Hitler gefunden." Auf die Brust hat er sich ein Sonnenrad-Tattoo stechen lassen, eine Variation des Hakenkreuzes. Seine Firma, über die er den Daily Stormer abwickelt, nennt er Moonbase Holdings - eine Anspielung auf eine rechte Verschwörungstheorie, die behauptet, Hitler sei der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durch Suizid entgangen, sondern durch die Flucht auf eine geheime Mondbasis.

Anglin bewundert Männer wie George Lincoln Rockwell, den Gründer der American Nazy Party, und William Luther Pierce, der lange der National Alliance vorstand. Bis zum Tod von Pierce war die Nationale Allianz der wichtigste Verbund von White Nationalists in den USA. Im Gegensatz zu seinen Idolen ist Anglin nicht auf Flugblätter, das Radio und persönliche Rekrutierung angewiesen, um Gleichgesinnte um sich zu versammeln. Er hat das Internet. Und Anglin braucht heute keine Highschool-Mädchen mehr für seine grausamen Nachstellungen - er hat seine "Stormer Troll Army". Anglin setzt sie gegen politische und persönliche Feinde ein. Wie willkürlich und gnadenlos er dabei mitunter vorgeht, zeigt der Fall Tanya Gersh.

Gersh hatte sich mit der Mutter von Anglins Freund Richard Spencer angelegt. Spencer machte kurz nach der US-Wahl 2016 Schlagzeilen, als er bei einer Veranstaltung der Alt-Right-Bewegung in Washington seine Zuhörer mit "Heil Trump!"-Rufen aufputschte. Das Video des Auftritts ging um die Welt und erreichte auch den kleinen Ort Whitefish in Montana, wo Spencers Mutter lebt. Weil Demonstranten eine Immobilie von Sherry Spencer belagerten, suchte die den Rat von Maklerin Gersh. Diese schlug nach eigener Aussage vor, die Ladenzeile zu verkaufen und das Geld einem wohltätigen Zweck zukommen zu lassen. Sherry Spencer verbreitete öffentlich eine andere Version: Ihr zufolge versuchte Gersh, Spencers Notsituation auszunutzen und sie um die fragliche Immobilie zu erpressen.

Nicht lange nach dem Vorfall erschienen Fotos und Kontaktdaten des jüdischen Ehepaares Gersh sowie anderer jüdischer Bewohner Whitefishs auf Anglins Webseite Daily Stormer. Die Bilder waren mit gelben Sternen und dem deutschen Schriftzug "Jude" versehen. Den zwölfjährigen Sohn der Gershs photoshoppte Anglin in eine Aufnahme des Konzentrationslagers Auschwitz. Bei der Familie klingelte unaufhörlich das Telefon. Als Tanya Gersh an einem Tag im Dezember 2016 den Hörer abnahm, hörte sie Gewehrschüsse. Beim dritten solchen Anruf meldete sich eine unbekannte Stimme: "Das ist unsere Art, den Holocaust lebendig zu halten. Wir können dich begraben, ohne dich auch nur zu berühren."

Anglin hatte als Freundschaftsdienst an seinen Freund Richard Spencer einen Vergeltungsschlag gegen die Gershs konzertiert. Seine "Stormer Troll Army" war im Kampfmodus.

Befehlshaber über eine gnadenlose Troll-Armee

Wie viele Mitglieder Anglins selbsternannte Armee hat, lässt sich nicht genau beziffern. O'Brien schätzt den harten Kern auf 60 bis 100 Personen. Die Gruppe ist seinen Recherchen nach streng hierarchisch organisiert, die Mitglieder nehmen verschiedene militärische Ränge ein, an der Spitze steht Anglin. "Wenn du über 100 Personen verfügen und ihnen befehlen kannst, jemanden zu attackieren, auf Twitter, mit E-Mails, am Telefon, dann kannst du sehr leicht Panik und Angst verbreiten. Diese Typen haben in der Regel mehrere Accounts - und sie haben nichts Besseres zu tun", erklärt O'Brien im Gespräch. Wenn Anglins Troll Army loslege, wirke es schnell, als werde man nicht von 100, sondern von 1000 Personen angegriffen. "Wer ihn und seine Methoden nicht kennt, kann ein Trauma davontragen."

O'Briens Porträt ist der Versuch, einen Mann fassbar zu machen, der sich selbst zum digitalen Dämon stilisiert, zum Anführer einer virtuellen Armee. Ein Mann, der wie andere extreme Stimmen durch die veränderten politischen Verhältnisse an Selbstbewusstsein gewonnen hat - und damit an Gefährlichkeit. Im Sommer 2015, ein paar Tage nachdem Donald Trump in New York seine Kandidatur verkündet hat, spricht sich Anglin im Daily Stormer für den damals noch als chancenlos geltenden Kandidaten aus. Und hetzt unter anderem gegen die schwarze Präsidentin einer Stundentenorganisation und eine jüdische Kongresskandidatin.

Als ein Reporter Trump im Mai 2016 auf die bösartige Internet-Kampagne gegen eine Journalistin anspricht, die ein Porträt über Trumps Frau Melania geschrieben hatte, antwortet Trump: "Ich habe keine Nachricht an die Fans." Für Anglin, der die Kampagne angeschoben hatte, ist das die ultimative Bestätigung: Er ist der König der Trump-Trolle.

Ein König, der sich hinter seinem Computer verschanzt. Der Daily Stormer ist eine der Plattformen, über die sich Rechtsradikale in ganz Amerika zum Marsch in Charlottesville verabreden. Danach schreibt Anglin triumphierend: "Alt-Right hat sich erhoben. (...) Das war unser Hitlerputsch." In Anspielung auf den Versuch von Hitler und Unterstützern, im November 1923 die Macht an sich zu reißen. Anglin selbst ist in Charlottesville nicht mitgelaufen.

Er, der die Leben seiner Opfer als Ausgangspunkt nimmt, um sie zu verspotten und zu verletzen, hält sich gerne bedeckt. Mit Journalisten etablierter Medien spricht Anglin nur dann, wenn er sich überlegen fühlt. Auf Anfragen der SZ reagierte er nicht. "Wenn er mit einem Reporter zu tun hat, der ihn und seine Welt ein bisschen versteht, wird er sehr misstrauisch", erzählt O'Brien aus eigener Erfahrung. "Wenn er dagegen mit jemandem zu tun hat, der keine Ahnung hat, was los ist, wird er versuchen, diese Person zu manipulieren und seine Propaganda in die Welt zu streuen."

O'Brien gelang es, Anglin für eine frühere Geschichte in der Huffington Post zumindest einige Antworten per E-Mail zu entlocken. Die meisten waren gelogen, so übertrieb Anglin beispielsweise die Zahl der Daily-Stormer-Nutzer. Er sprach von mehreren Millionen Unique Usern im Monat, O'Briens Recherchen nach sind es etwa 70 000.

Als der Journalist für seine Atlantic-Geschichte in Anglins Vergangenheit gräbt, hetzt der dem Reporter seine Army auf den Hals. Vier- oder fünfmal habe es im Verlauf seiner Recherchen Versuche gegeben, seinen Rechner zu hacken, erzählt O'Brien. "Als ich nachgeforscht habe, habe ich in den Meta-Daten zu den Angriffen Namen aus der nordischen Mythologie gefunden, Odin und Thor."

Am Ende, so glaubt O'Brien, hat seine eigene Angst den Artikel besser gemacht. "Ich habe gefühlt, was Anglins Opfer fühlen."

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